Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Christus und die Gegenwart

weitere, aber die Gesinnung vernachlässigt; der Verstand wird gebildet, aber
die Besserung des Herzens und des Willens wird versäumt. Die Klagen
über Eintönigkeit und Ermüdung müssen nicht immer aus der Luft gegriffen
sein. Mit Recht ist man in neuerer Zeit gegen die Häufung des religiösen
Memorierstoffes vorgegangen, der eine schwere Belastung, eine Überbürdung
des kindlichen Geistes bedeutet. Der Religionsunterricht muß in der Bildung
des Gemüts und des Willens seine vornehmste Aufgabe scheu. Wer dem
herrschenden Materialismus einen Damm entgegensetzen will, der muß reli¬
giöse und sittliche Ideen in die Kinderstube einpflanzen. Unverstandner Stoff
sollte nie dem Gedächtnis aufgenötigt werden. Körperliche Strafen sind bei
einem so heiligen Gegenstand unzulässig. Nur zu rasch verwittert und zer¬
fällt der mit großem Aufwand an Zeit und Mühe aufgeführte Gedächtnisban,
und unübersehbar ist die Schar derer, die nach der Schulzeit ihre Bücher
und damit leider auch die Religion selbst, die sie so wenig als den höchsten
Inhalt des Herzens und des Lebens erfaßt haben, wie einen unnützen Ballast
über Bord werfen. Alle Versuche, die darauf zielen, die Krone des gesamten
Unterrichts einheitlicher, lebensvoller und fruchtbringender zu gestalten, können
wir nur mit Freuden begrüßen. Den Gewinn davon hätte das gesamte religiöse
Leben unsers Volkes. Es liegt gar viel daran, daß unsre Jugend in der
Schule nach der Verstandes-, aber mich nach der Herzensseite einen religiösen
Fonds erhält, an dem sie zeitlebens zehren kann. Oder ist es nicht ergreifend,
wenn wir aus dem Munde eines christgläubigen Sozialisten den Vorwurf
hören: "Der Gegensatz zwischen der Theorie und der Praxis des offiziellen
Christentums war das Ärgernis, an dem auch ich in früher Jngend Anstoß
nahm. Das Licht, das man auf den Leuchter stellt, muß auch wirklich hell
brennen, uicht uur glimmen und schwelen."

Ein Julian Apostata wurde durch ungeschickte Lehrer ein Feind und Ver¬
ächter des Christentums, und welchem Lehrer geht es nicht durch Herz und
Gewissen, wenn Bismarck in dem Briefe, worin er um seine Braut wirbt,
seinen Religionsunterricht hart verklagt, wenn noch der Greis schreibt, er
habe als Pantheist die Schule verlassen -- und dabei war Bismarcks Lehrer
kein geringerer als Schleiermacher!

Die Zeit liegt hinter uns, wo man sich von einer ästhetischen Erziehung
das beste versprechen zu dürfen glaubte. Schiller mit seinem Idealismus
hielt besonders viel davon. Jedoch abgesehen davon, daß nicht viele Menschen¬
kinder eine ästhetische Anlage haben, so ist vor allem dabei übersehen worden,
daß wir nicht bloß mit einer undisziplinierten Natur und mit gefährlichen
Trieben zu kämpfen haben, sondern daß als eigentlicher Feind der egoistische Wille
dahinter steckt. Hütte sich Schiller Kants Lehre vom radikalen Bösen angeeignet,
so wäre er der Wahrheit näher gekommen; denn durch ästhetische Erziehung
und dnrch Geschmacksveredlung ist noch kein Mensch innerlich besser geworden.

Auch die Forderung, die Religion durch die Moral zu ersetzen, führt
nicht zum Ziel; denn die Prediger der "ethischen Kultur" verkennen, daß
Religion und Moral unwägbare Größen sind, die sogar in Gegensatz zueinander
treten können.


Christus und die Gegenwart

weitere, aber die Gesinnung vernachlässigt; der Verstand wird gebildet, aber
die Besserung des Herzens und des Willens wird versäumt. Die Klagen
über Eintönigkeit und Ermüdung müssen nicht immer aus der Luft gegriffen
sein. Mit Recht ist man in neuerer Zeit gegen die Häufung des religiösen
Memorierstoffes vorgegangen, der eine schwere Belastung, eine Überbürdung
des kindlichen Geistes bedeutet. Der Religionsunterricht muß in der Bildung
des Gemüts und des Willens seine vornehmste Aufgabe scheu. Wer dem
herrschenden Materialismus einen Damm entgegensetzen will, der muß reli¬
giöse und sittliche Ideen in die Kinderstube einpflanzen. Unverstandner Stoff
sollte nie dem Gedächtnis aufgenötigt werden. Körperliche Strafen sind bei
einem so heiligen Gegenstand unzulässig. Nur zu rasch verwittert und zer¬
fällt der mit großem Aufwand an Zeit und Mühe aufgeführte Gedächtnisban,
und unübersehbar ist die Schar derer, die nach der Schulzeit ihre Bücher
und damit leider auch die Religion selbst, die sie so wenig als den höchsten
Inhalt des Herzens und des Lebens erfaßt haben, wie einen unnützen Ballast
über Bord werfen. Alle Versuche, die darauf zielen, die Krone des gesamten
Unterrichts einheitlicher, lebensvoller und fruchtbringender zu gestalten, können
wir nur mit Freuden begrüßen. Den Gewinn davon hätte das gesamte religiöse
Leben unsers Volkes. Es liegt gar viel daran, daß unsre Jugend in der
Schule nach der Verstandes-, aber mich nach der Herzensseite einen religiösen
Fonds erhält, an dem sie zeitlebens zehren kann. Oder ist es nicht ergreifend,
wenn wir aus dem Munde eines christgläubigen Sozialisten den Vorwurf
hören: „Der Gegensatz zwischen der Theorie und der Praxis des offiziellen
Christentums war das Ärgernis, an dem auch ich in früher Jngend Anstoß
nahm. Das Licht, das man auf den Leuchter stellt, muß auch wirklich hell
brennen, uicht uur glimmen und schwelen."

Ein Julian Apostata wurde durch ungeschickte Lehrer ein Feind und Ver¬
ächter des Christentums, und welchem Lehrer geht es nicht durch Herz und
Gewissen, wenn Bismarck in dem Briefe, worin er um seine Braut wirbt,
seinen Religionsunterricht hart verklagt, wenn noch der Greis schreibt, er
habe als Pantheist die Schule verlassen — und dabei war Bismarcks Lehrer
kein geringerer als Schleiermacher!

Die Zeit liegt hinter uns, wo man sich von einer ästhetischen Erziehung
das beste versprechen zu dürfen glaubte. Schiller mit seinem Idealismus
hielt besonders viel davon. Jedoch abgesehen davon, daß nicht viele Menschen¬
kinder eine ästhetische Anlage haben, so ist vor allem dabei übersehen worden,
daß wir nicht bloß mit einer undisziplinierten Natur und mit gefährlichen
Trieben zu kämpfen haben, sondern daß als eigentlicher Feind der egoistische Wille
dahinter steckt. Hütte sich Schiller Kants Lehre vom radikalen Bösen angeeignet,
so wäre er der Wahrheit näher gekommen; denn durch ästhetische Erziehung
und dnrch Geschmacksveredlung ist noch kein Mensch innerlich besser geworden.

Auch die Forderung, die Religion durch die Moral zu ersetzen, führt
nicht zum Ziel; denn die Prediger der „ethischen Kultur" verkennen, daß
Religion und Moral unwägbare Größen sind, die sogar in Gegensatz zueinander
treten können.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0333" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293952"/>
          <fw type="header" place="top"> Christus und die Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1443" prev="#ID_1442"> weitere, aber die Gesinnung vernachlässigt; der Verstand wird gebildet, aber<lb/>
die Besserung des Herzens und des Willens wird versäumt. Die Klagen<lb/>
über Eintönigkeit und Ermüdung müssen nicht immer aus der Luft gegriffen<lb/>
sein. Mit Recht ist man in neuerer Zeit gegen die Häufung des religiösen<lb/>
Memorierstoffes vorgegangen, der eine schwere Belastung, eine Überbürdung<lb/>
des kindlichen Geistes bedeutet. Der Religionsunterricht muß in der Bildung<lb/>
des Gemüts und des Willens seine vornehmste Aufgabe scheu. Wer dem<lb/>
herrschenden Materialismus einen Damm entgegensetzen will, der muß reli¬<lb/>
giöse und sittliche Ideen in die Kinderstube einpflanzen. Unverstandner Stoff<lb/>
sollte nie dem Gedächtnis aufgenötigt werden. Körperliche Strafen sind bei<lb/>
einem so heiligen Gegenstand unzulässig. Nur zu rasch verwittert und zer¬<lb/>
fällt der mit großem Aufwand an Zeit und Mühe aufgeführte Gedächtnisban,<lb/>
und unübersehbar ist die Schar derer, die nach der Schulzeit ihre Bücher<lb/>
und damit leider auch die Religion selbst, die sie so wenig als den höchsten<lb/>
Inhalt des Herzens und des Lebens erfaßt haben, wie einen unnützen Ballast<lb/>
über Bord werfen. Alle Versuche, die darauf zielen, die Krone des gesamten<lb/>
Unterrichts einheitlicher, lebensvoller und fruchtbringender zu gestalten, können<lb/>
wir nur mit Freuden begrüßen. Den Gewinn davon hätte das gesamte religiöse<lb/>
Leben unsers Volkes. Es liegt gar viel daran, daß unsre Jugend in der<lb/>
Schule nach der Verstandes-, aber mich nach der Herzensseite einen religiösen<lb/>
Fonds erhält, an dem sie zeitlebens zehren kann. Oder ist es nicht ergreifend,<lb/>
wenn wir aus dem Munde eines christgläubigen Sozialisten den Vorwurf<lb/>
hören: &#x201E;Der Gegensatz zwischen der Theorie und der Praxis des offiziellen<lb/>
Christentums war das Ärgernis, an dem auch ich in früher Jngend Anstoß<lb/>
nahm. Das Licht, das man auf den Leuchter stellt, muß auch wirklich hell<lb/>
brennen, uicht uur glimmen und schwelen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1444"> Ein Julian Apostata wurde durch ungeschickte Lehrer ein Feind und Ver¬<lb/>
ächter des Christentums, und welchem Lehrer geht es nicht durch Herz und<lb/>
Gewissen, wenn Bismarck in dem Briefe, worin er um seine Braut wirbt,<lb/>
seinen Religionsunterricht hart verklagt, wenn noch der Greis schreibt, er<lb/>
habe als Pantheist die Schule verlassen &#x2014; und dabei war Bismarcks Lehrer<lb/>
kein geringerer als Schleiermacher!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1445"> Die Zeit liegt hinter uns, wo man sich von einer ästhetischen Erziehung<lb/>
das beste versprechen zu dürfen glaubte. Schiller mit seinem Idealismus<lb/>
hielt besonders viel davon. Jedoch abgesehen davon, daß nicht viele Menschen¬<lb/>
kinder eine ästhetische Anlage haben, so ist vor allem dabei übersehen worden,<lb/>
daß wir nicht bloß mit einer undisziplinierten Natur und mit gefährlichen<lb/>
Trieben zu kämpfen haben, sondern daß als eigentlicher Feind der egoistische Wille<lb/>
dahinter steckt. Hütte sich Schiller Kants Lehre vom radikalen Bösen angeeignet,<lb/>
so wäre er der Wahrheit näher gekommen; denn durch ästhetische Erziehung<lb/>
und dnrch Geschmacksveredlung ist noch kein Mensch innerlich besser geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1446"> Auch die Forderung, die Religion durch die Moral zu ersetzen, führt<lb/>
nicht zum Ziel; denn die Prediger der &#x201E;ethischen Kultur" verkennen, daß<lb/>
Religion und Moral unwägbare Größen sind, die sogar in Gegensatz zueinander<lb/>
treten können.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0333] Christus und die Gegenwart weitere, aber die Gesinnung vernachlässigt; der Verstand wird gebildet, aber die Besserung des Herzens und des Willens wird versäumt. Die Klagen über Eintönigkeit und Ermüdung müssen nicht immer aus der Luft gegriffen sein. Mit Recht ist man in neuerer Zeit gegen die Häufung des religiösen Memorierstoffes vorgegangen, der eine schwere Belastung, eine Überbürdung des kindlichen Geistes bedeutet. Der Religionsunterricht muß in der Bildung des Gemüts und des Willens seine vornehmste Aufgabe scheu. Wer dem herrschenden Materialismus einen Damm entgegensetzen will, der muß reli¬ giöse und sittliche Ideen in die Kinderstube einpflanzen. Unverstandner Stoff sollte nie dem Gedächtnis aufgenötigt werden. Körperliche Strafen sind bei einem so heiligen Gegenstand unzulässig. Nur zu rasch verwittert und zer¬ fällt der mit großem Aufwand an Zeit und Mühe aufgeführte Gedächtnisban, und unübersehbar ist die Schar derer, die nach der Schulzeit ihre Bücher und damit leider auch die Religion selbst, die sie so wenig als den höchsten Inhalt des Herzens und des Lebens erfaßt haben, wie einen unnützen Ballast über Bord werfen. Alle Versuche, die darauf zielen, die Krone des gesamten Unterrichts einheitlicher, lebensvoller und fruchtbringender zu gestalten, können wir nur mit Freuden begrüßen. Den Gewinn davon hätte das gesamte religiöse Leben unsers Volkes. Es liegt gar viel daran, daß unsre Jugend in der Schule nach der Verstandes-, aber mich nach der Herzensseite einen religiösen Fonds erhält, an dem sie zeitlebens zehren kann. Oder ist es nicht ergreifend, wenn wir aus dem Munde eines christgläubigen Sozialisten den Vorwurf hören: „Der Gegensatz zwischen der Theorie und der Praxis des offiziellen Christentums war das Ärgernis, an dem auch ich in früher Jngend Anstoß nahm. Das Licht, das man auf den Leuchter stellt, muß auch wirklich hell brennen, uicht uur glimmen und schwelen." Ein Julian Apostata wurde durch ungeschickte Lehrer ein Feind und Ver¬ ächter des Christentums, und welchem Lehrer geht es nicht durch Herz und Gewissen, wenn Bismarck in dem Briefe, worin er um seine Braut wirbt, seinen Religionsunterricht hart verklagt, wenn noch der Greis schreibt, er habe als Pantheist die Schule verlassen — und dabei war Bismarcks Lehrer kein geringerer als Schleiermacher! Die Zeit liegt hinter uns, wo man sich von einer ästhetischen Erziehung das beste versprechen zu dürfen glaubte. Schiller mit seinem Idealismus hielt besonders viel davon. Jedoch abgesehen davon, daß nicht viele Menschen¬ kinder eine ästhetische Anlage haben, so ist vor allem dabei übersehen worden, daß wir nicht bloß mit einer undisziplinierten Natur und mit gefährlichen Trieben zu kämpfen haben, sondern daß als eigentlicher Feind der egoistische Wille dahinter steckt. Hütte sich Schiller Kants Lehre vom radikalen Bösen angeeignet, so wäre er der Wahrheit näher gekommen; denn durch ästhetische Erziehung und dnrch Geschmacksveredlung ist noch kein Mensch innerlich besser geworden. Auch die Forderung, die Religion durch die Moral zu ersetzen, führt nicht zum Ziel; denn die Prediger der „ethischen Kultur" verkennen, daß Religion und Moral unwägbare Größen sind, die sogar in Gegensatz zueinander treten können.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/333
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/333>, abgerufen am 02.07.2024.