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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Parteien erweisen sich zu dieser Führung, mit Ausnahme von Sozialdemokratie
und Zentrum, nicht stark genug, zumal nach der agrarischen Zersetzung der konser¬
vativen Partei, und eine Führung durch die Regierung auf dieses Ziel hin ist für
jetzt noch nicht in Aussicht zu nehmen. Unter diesen Umständen wird die Neigung, es
mit einem so lange bestehenden Wahlrecht noch auf ein weiteres Jahrzehnt zu
versuchen und eine Änderung erst von einer eisernen Notwendigkeit abhängig zu
machen, heute noch die überwiegende sein, wenngleich die Behauptung des Abge¬
ordneten Memel, daß in deu Kreisen der Industrie, des Groß- und des Klein¬
handels, des Handwerks und der Landwirtschaft von Anhängern des allgemeinen
Stimmrechts kaum noch die Rede sein könne, sicherlich vollkommen zutrifft. Man
darf getrost hinzusetzen, daß auch in den gelehrten Berufen, einschließlich der
Beamtenschaft, die Änhängerschnr sehr spärlich ist und sich wohl ausschließlich auf
die Kathedersozialisten beschränkt.

Diese Tatsache lenkt die Betrachtung nach einer andern Seite. Das heutige
Wahlrecht würde weit erträglicher sein, wenn es nicht eine recht erschwerende
Belastung durch den Überschwang von sozialpolitischer Gesetzgebung erlitten hätte,
unter der mit Ausnahme der Arbeiterschaft fast alle Berufsstände seufzen. Die
sozialpolitische Gesetzgebung, an sich sehr gut gemeint, hat zweifellos eine Reihe
von Mißständen beseitigt, aber anstatt die Arbeiter befriedigter zu machen, an¬
hänglicher an den Staat und die Ordnung, die sich ihrer in so weitgehender
Weise, mehr als in jedem andern Lande der Welt, annehmen, sind sie nur selbst¬
bewußter, weil machtbewußter und dadurch anspruchsvoller und herausfordernder
geworden.

Unsre sozialpolitische Gesetzgebung ist von der Ansicht ausgegangen, daß
man durch Beseitigung von Mißständen, durch Befriedigung maßvoller und nicht
unberechtigter Forderungen der Sozicildemokratie das Wasser abgraben werde.
Gerade das Gegenteil ist der Fall gewesen. Unsre Sozialgesetzgebung organisiert
die Massen für die Sozialdemokratie und gibt sie ihr schutzlos und direkt in die
Hort. Der Gegensatz zu deu Arbeitgebern nicht nur, sondern zu der Gesamtheit
der bürgerliche" Klassen und zum Staate selbst ist dadurch nicht nur nicht über¬
brückt, sondern vertieft worden und wird es noch auf absehbare Zeit weiter werden.
Das revolutionäre Machtbewußtsein der Massen wächst dadurch von Jahr zu
Jahr, ebenso die Mißachtung der Obrigkeit, der Vorgesetzten, sowie aller Berufs-
genossen, die mit den "Organisierten" nicht einen Strang zieh". Schon reichen
die Spuren dieser Gesinnung weit in die Armee hinein und treten keineswegs
mehr als Seltenheit zutage. Heute läßt sich noch darauf rechnen, daß die Kraft
-- falls die Entschlußkraft nicht versagt -- zur Bändigung eines Ausbruchs vor¬
handen ist. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß fast jedes neue sozial¬
politische Gesetz eine Verstärkung der sozialdemokratischen Organisation bedeutet
und den von ihr schon hart belagerten Staat mit neuen Laufgräben umzieht.
Diese Tntsache kann nur vou eiuer schweren Selbsttäuschung verkannt werden.

Die wachsende Abwendung vom allgemeinen Stimmrecht gilt vielleicht viel
weniger diesem selbst als der unnatürlichen Übermacht, die die sozialpolitische
Gesetzgebung den durch sie organisierten Massen im Gebrauch und im Mißbrauch
des allgemeinen Stimmrechts verschafft hat. Je mehr den Massen von einem
Jahre zum andern unaufhörlich Rechte zuteil werden, desto mehr werden sie von
ihren Pflichten losgelöst, ein wirklich zwingendes Pflichtgefühl besteht bei ihnen
fast nur "och ihrer sozialdemokratischen Organisation gegenüber. In den Kreisen,
die der Abgeordnete Memel bezeichnet hat, wird man kaum noch einen Fabrikanten,
einen größern oder einen kleinern Kaufmann, einen Gärtner, einen Handwerker
"der einen sonstigen Gewerbtreibenden finden, der nicht mit tiefster Bitterkeit er¬
klärte, daß es mit den Arbeitern nicht mehr auszuhalten sei, und daß alle
Schöpfungen und Organisationen der Gesetzgebung nur dazu führen, das Ver¬
hältnis noch unerträglicher zu machen. In diesen Kreisen ist die pessimistische


Grenzbote" II 1904 40
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Parteien erweisen sich zu dieser Führung, mit Ausnahme von Sozialdemokratie
und Zentrum, nicht stark genug, zumal nach der agrarischen Zersetzung der konser¬
vativen Partei, und eine Führung durch die Regierung auf dieses Ziel hin ist für
jetzt noch nicht in Aussicht zu nehmen. Unter diesen Umständen wird die Neigung, es
mit einem so lange bestehenden Wahlrecht noch auf ein weiteres Jahrzehnt zu
versuchen und eine Änderung erst von einer eisernen Notwendigkeit abhängig zu
machen, heute noch die überwiegende sein, wenngleich die Behauptung des Abge¬
ordneten Memel, daß in deu Kreisen der Industrie, des Groß- und des Klein¬
handels, des Handwerks und der Landwirtschaft von Anhängern des allgemeinen
Stimmrechts kaum noch die Rede sein könne, sicherlich vollkommen zutrifft. Man
darf getrost hinzusetzen, daß auch in den gelehrten Berufen, einschließlich der
Beamtenschaft, die Änhängerschnr sehr spärlich ist und sich wohl ausschließlich auf
die Kathedersozialisten beschränkt.

Diese Tatsache lenkt die Betrachtung nach einer andern Seite. Das heutige
Wahlrecht würde weit erträglicher sein, wenn es nicht eine recht erschwerende
Belastung durch den Überschwang von sozialpolitischer Gesetzgebung erlitten hätte,
unter der mit Ausnahme der Arbeiterschaft fast alle Berufsstände seufzen. Die
sozialpolitische Gesetzgebung, an sich sehr gut gemeint, hat zweifellos eine Reihe
von Mißständen beseitigt, aber anstatt die Arbeiter befriedigter zu machen, an¬
hänglicher an den Staat und die Ordnung, die sich ihrer in so weitgehender
Weise, mehr als in jedem andern Lande der Welt, annehmen, sind sie nur selbst¬
bewußter, weil machtbewußter und dadurch anspruchsvoller und herausfordernder
geworden.

Unsre sozialpolitische Gesetzgebung ist von der Ansicht ausgegangen, daß
man durch Beseitigung von Mißständen, durch Befriedigung maßvoller und nicht
unberechtigter Forderungen der Sozicildemokratie das Wasser abgraben werde.
Gerade das Gegenteil ist der Fall gewesen. Unsre Sozialgesetzgebung organisiert
die Massen für die Sozialdemokratie und gibt sie ihr schutzlos und direkt in die
Hort. Der Gegensatz zu deu Arbeitgebern nicht nur, sondern zu der Gesamtheit
der bürgerliche» Klassen und zum Staate selbst ist dadurch nicht nur nicht über¬
brückt, sondern vertieft worden und wird es noch auf absehbare Zeit weiter werden.
Das revolutionäre Machtbewußtsein der Massen wächst dadurch von Jahr zu
Jahr, ebenso die Mißachtung der Obrigkeit, der Vorgesetzten, sowie aller Berufs-
genossen, die mit den „Organisierten" nicht einen Strang zieh». Schon reichen
die Spuren dieser Gesinnung weit in die Armee hinein und treten keineswegs
mehr als Seltenheit zutage. Heute läßt sich noch darauf rechnen, daß die Kraft
— falls die Entschlußkraft nicht versagt — zur Bändigung eines Ausbruchs vor¬
handen ist. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß fast jedes neue sozial¬
politische Gesetz eine Verstärkung der sozialdemokratischen Organisation bedeutet
und den von ihr schon hart belagerten Staat mit neuen Laufgräben umzieht.
Diese Tntsache kann nur vou eiuer schweren Selbsttäuschung verkannt werden.

Die wachsende Abwendung vom allgemeinen Stimmrecht gilt vielleicht viel
weniger diesem selbst als der unnatürlichen Übermacht, die die sozialpolitische
Gesetzgebung den durch sie organisierten Massen im Gebrauch und im Mißbrauch
des allgemeinen Stimmrechts verschafft hat. Je mehr den Massen von einem
Jahre zum andern unaufhörlich Rechte zuteil werden, desto mehr werden sie von
ihren Pflichten losgelöst, ein wirklich zwingendes Pflichtgefühl besteht bei ihnen
fast nur »och ihrer sozialdemokratischen Organisation gegenüber. In den Kreisen,
die der Abgeordnete Memel bezeichnet hat, wird man kaum noch einen Fabrikanten,
einen größern oder einen kleinern Kaufmann, einen Gärtner, einen Handwerker
»der einen sonstigen Gewerbtreibenden finden, der nicht mit tiefster Bitterkeit er¬
klärte, daß es mit den Arbeitern nicht mehr auszuhalten sei, und daß alle
Schöpfungen und Organisationen der Gesetzgebung nur dazu führen, das Ver¬
hältnis noch unerträglicher zu machen. In diesen Kreisen ist die pessimistische


Grenzbote» II 1904 40
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[0307] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Parteien erweisen sich zu dieser Führung, mit Ausnahme von Sozialdemokratie und Zentrum, nicht stark genug, zumal nach der agrarischen Zersetzung der konser¬ vativen Partei, und eine Führung durch die Regierung auf dieses Ziel hin ist für jetzt noch nicht in Aussicht zu nehmen. Unter diesen Umständen wird die Neigung, es mit einem so lange bestehenden Wahlrecht noch auf ein weiteres Jahrzehnt zu versuchen und eine Änderung erst von einer eisernen Notwendigkeit abhängig zu machen, heute noch die überwiegende sein, wenngleich die Behauptung des Abge¬ ordneten Memel, daß in deu Kreisen der Industrie, des Groß- und des Klein¬ handels, des Handwerks und der Landwirtschaft von Anhängern des allgemeinen Stimmrechts kaum noch die Rede sein könne, sicherlich vollkommen zutrifft. Man darf getrost hinzusetzen, daß auch in den gelehrten Berufen, einschließlich der Beamtenschaft, die Änhängerschnr sehr spärlich ist und sich wohl ausschließlich auf die Kathedersozialisten beschränkt. Diese Tatsache lenkt die Betrachtung nach einer andern Seite. Das heutige Wahlrecht würde weit erträglicher sein, wenn es nicht eine recht erschwerende Belastung durch den Überschwang von sozialpolitischer Gesetzgebung erlitten hätte, unter der mit Ausnahme der Arbeiterschaft fast alle Berufsstände seufzen. Die sozialpolitische Gesetzgebung, an sich sehr gut gemeint, hat zweifellos eine Reihe von Mißständen beseitigt, aber anstatt die Arbeiter befriedigter zu machen, an¬ hänglicher an den Staat und die Ordnung, die sich ihrer in so weitgehender Weise, mehr als in jedem andern Lande der Welt, annehmen, sind sie nur selbst¬ bewußter, weil machtbewußter und dadurch anspruchsvoller und herausfordernder geworden. Unsre sozialpolitische Gesetzgebung ist von der Ansicht ausgegangen, daß man durch Beseitigung von Mißständen, durch Befriedigung maßvoller und nicht unberechtigter Forderungen der Sozicildemokratie das Wasser abgraben werde. Gerade das Gegenteil ist der Fall gewesen. Unsre Sozialgesetzgebung organisiert die Massen für die Sozialdemokratie und gibt sie ihr schutzlos und direkt in die Hort. Der Gegensatz zu deu Arbeitgebern nicht nur, sondern zu der Gesamtheit der bürgerliche» Klassen und zum Staate selbst ist dadurch nicht nur nicht über¬ brückt, sondern vertieft worden und wird es noch auf absehbare Zeit weiter werden. Das revolutionäre Machtbewußtsein der Massen wächst dadurch von Jahr zu Jahr, ebenso die Mißachtung der Obrigkeit, der Vorgesetzten, sowie aller Berufs- genossen, die mit den „Organisierten" nicht einen Strang zieh». Schon reichen die Spuren dieser Gesinnung weit in die Armee hinein und treten keineswegs mehr als Seltenheit zutage. Heute läßt sich noch darauf rechnen, daß die Kraft — falls die Entschlußkraft nicht versagt — zur Bändigung eines Ausbruchs vor¬ handen ist. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß fast jedes neue sozial¬ politische Gesetz eine Verstärkung der sozialdemokratischen Organisation bedeutet und den von ihr schon hart belagerten Staat mit neuen Laufgräben umzieht. Diese Tntsache kann nur vou eiuer schweren Selbsttäuschung verkannt werden. Die wachsende Abwendung vom allgemeinen Stimmrecht gilt vielleicht viel weniger diesem selbst als der unnatürlichen Übermacht, die die sozialpolitische Gesetzgebung den durch sie organisierten Massen im Gebrauch und im Mißbrauch des allgemeinen Stimmrechts verschafft hat. Je mehr den Massen von einem Jahre zum andern unaufhörlich Rechte zuteil werden, desto mehr werden sie von ihren Pflichten losgelöst, ein wirklich zwingendes Pflichtgefühl besteht bei ihnen fast nur »och ihrer sozialdemokratischen Organisation gegenüber. In den Kreisen, die der Abgeordnete Memel bezeichnet hat, wird man kaum noch einen Fabrikanten, einen größern oder einen kleinern Kaufmann, einen Gärtner, einen Handwerker »der einen sonstigen Gewerbtreibenden finden, der nicht mit tiefster Bitterkeit er¬ klärte, daß es mit den Arbeitern nicht mehr auszuhalten sei, und daß alle Schöpfungen und Organisationen der Gesetzgebung nur dazu führen, das Ver¬ hältnis noch unerträglicher zu machen. In diesen Kreisen ist die pessimistische Grenzbote» II 1904 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/307>, abgerufen am 02.07.2024.