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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht ohne Bedauern darlegte, ans eine so ernste Frage darf sich eine politische Partei,
die ihre Stellung behaupten will, erst dann einlassen, wenn sie. daraus ein un¬
mittelbar in Angriff zu nehmendes Ziel zu machen entschlossen ist. So lange das
nicht der Fall ist, würde sie den Gegnern, wenigstens der Sozialdemokratie, nur
Waffen gegen sie in die Hand geben und sich alle Wahlkämpfe bei Ersatzwahlen usw.,
von allgemeinen Neuwahlen ganz abgesehen, unnötig erschweren. Nun kaun man
dagegen freilich einwenden, nach dieser Theorie müßte jede politische Partei ihre
Absichten bis zu deren dereinstiger Verwirklichung in die Tasche stecken, dn sich
aber die Sozialdemokratie durchaus nicht geniert, die Umwälzung der heutigen
Staats- und Gesellschaftsordnung bei jeder Gelegenheit offen als ihr Ziel zu
proklamieren, auf das sie mit allen Mitteln bis hart an die Grenze der gesetzlich
zulässigen hinarbeitet, so hätten die bürgerlichen Parteien doch keinen Grund, mit
einer Erklärung zurückzuhalten, daß sie es einen, solchen Vorhaben gegenüber für ihre
Pflicht erachten, der Sozialdemokratie ihre Hauptwaffe, das allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht zu entwinden. Von der andern Seite wird darauf
erwidert: was würde ein solcher Beschluß einer Partei nützen, wenn die andern
bürgerlichen Parteien, wenn namentlich Konservative und Zentrum nicht mittun?
Und das Zentrum ist dazu nicht eher zu haben, als bis die Sozialdemokratie ihm
das Messer an die Kehle setzt. Zwischen diesen beiden Parteien besteht vorläufig
noch das Übereinkommen, einander nicht wehe zu tun. Das ohnehin stark demo¬
kratisierte Zentrum ist zu Maßnahmen, die die Sozialdemokratie ernstlich treffen
würden, nicht zu haben, und -- so hören wir weiter argumentierein auch wenn
das Zentrum in seiner großen Mehrheit zustimmen sollte, so fehlt schließlich die
Regierung, die darauf eingeht. Graf Bülow hat zu wiederholten malen zu ver-
stehn gegeben, daß zu Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie -- und von allen
Maßnahmen, die möglich sind, würde eine Änderung des Wahlrechts die wirkungs¬
vollste sein -- von der Regierung nach Lage der Dinge erst dann geschritten
werden könne, wenn sich die Sozialdemokratie ernste Gesetzesverletzungen oder
Störungen von Ruhe und Ordnung zuschulden kommen ließe.

Indes wie der Reichskanzler handeln würde, wie die Gesamtheit der ver>
Kündeten Regierungen handeln würde, wenn sich eine Reichstagsmehrheit zugunsten
einer Umgestaltung des Wahlrechts ausspräche, ist eine ganz andre Frage, als
wenn die Regierung in dieser Richtung eine Initiative ergreifen soll, bei der
sie der Zustimmung des Reichstags nicht nur nicht sicher ist, sondern bei der sie
darauf rechnen muß, von der Mehrheit des Reichstags im Stiche gelassen zu
werden. Die Regierung kann sich bei einer solchen Initiative keiner parla¬
mentarischen Niederlage aussetzen, die ihr hinterher selbst die Oktrohieruug eines
neuen Wahlrechts erschweren würde. Eine solche kann nur stattfinden, wenn der
Reichskanzler sicher ist, wenigstens nachträglich die Zustimmung aller patriotischen
Kreise zu finden. Das wird -- wie die Verhältnisse heute im lieben Deutschland
liegen -- erst dann der Fall sein, wenn sich die Sozialdemokratie in flagranter
Weise ins Unrecht setzt, und dann der Moment eintritt, den Bismarck im August
1866 in seinem berühmten Telegramm an den General Edwin Manteuffel nach
Petersburg mit den klassischen Worten bezeichnete: Wenn Revolution sein soll, wollen
wir sie lieber machen als erleiden.

Das heutige Wahlrecht besteht, wenigstens für Norddeutschland, beinahe vierzig
Jahre. Es ist freilich unter ganz andern Verhältnissen gegeben worden, unter
Voraussetzungen, die seit langem nicht mehr zutreffen. Es ist obendrein bei der
heutigen Massenentwicklung zu innerer Unwahrheit geworden, weil es eine schwere
Benachteiligung der gebildeten und intelligenten Berufsstände und eine fort¬
wuchernde Schädigung des monarchischen Staatsgedankens enthält. Unzweifelhaft
-- und es ist das in den Grenzboten im vorigen Herbst ausführlich dargetan
worden -- könnte eine größere Geschlossenheit und eine regere Wahlbeteiligung
der bürgerlichen Parteien viel Unheil abwenden. Aber die Anläufe zu einer
solchen Geschlossenheit sind vorläufig sehr gering. Der Deutsche will geführt werden.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht ohne Bedauern darlegte, ans eine so ernste Frage darf sich eine politische Partei,
die ihre Stellung behaupten will, erst dann einlassen, wenn sie. daraus ein un¬
mittelbar in Angriff zu nehmendes Ziel zu machen entschlossen ist. So lange das
nicht der Fall ist, würde sie den Gegnern, wenigstens der Sozialdemokratie, nur
Waffen gegen sie in die Hand geben und sich alle Wahlkämpfe bei Ersatzwahlen usw.,
von allgemeinen Neuwahlen ganz abgesehen, unnötig erschweren. Nun kaun man
dagegen freilich einwenden, nach dieser Theorie müßte jede politische Partei ihre
Absichten bis zu deren dereinstiger Verwirklichung in die Tasche stecken, dn sich
aber die Sozialdemokratie durchaus nicht geniert, die Umwälzung der heutigen
Staats- und Gesellschaftsordnung bei jeder Gelegenheit offen als ihr Ziel zu
proklamieren, auf das sie mit allen Mitteln bis hart an die Grenze der gesetzlich
zulässigen hinarbeitet, so hätten die bürgerlichen Parteien doch keinen Grund, mit
einer Erklärung zurückzuhalten, daß sie es einen, solchen Vorhaben gegenüber für ihre
Pflicht erachten, der Sozialdemokratie ihre Hauptwaffe, das allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht zu entwinden. Von der andern Seite wird darauf
erwidert: was würde ein solcher Beschluß einer Partei nützen, wenn die andern
bürgerlichen Parteien, wenn namentlich Konservative und Zentrum nicht mittun?
Und das Zentrum ist dazu nicht eher zu haben, als bis die Sozialdemokratie ihm
das Messer an die Kehle setzt. Zwischen diesen beiden Parteien besteht vorläufig
noch das Übereinkommen, einander nicht wehe zu tun. Das ohnehin stark demo¬
kratisierte Zentrum ist zu Maßnahmen, die die Sozialdemokratie ernstlich treffen
würden, nicht zu haben, und — so hören wir weiter argumentierein auch wenn
das Zentrum in seiner großen Mehrheit zustimmen sollte, so fehlt schließlich die
Regierung, die darauf eingeht. Graf Bülow hat zu wiederholten malen zu ver-
stehn gegeben, daß zu Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie — und von allen
Maßnahmen, die möglich sind, würde eine Änderung des Wahlrechts die wirkungs¬
vollste sein — von der Regierung nach Lage der Dinge erst dann geschritten
werden könne, wenn sich die Sozialdemokratie ernste Gesetzesverletzungen oder
Störungen von Ruhe und Ordnung zuschulden kommen ließe.

Indes wie der Reichskanzler handeln würde, wie die Gesamtheit der ver>
Kündeten Regierungen handeln würde, wenn sich eine Reichstagsmehrheit zugunsten
einer Umgestaltung des Wahlrechts ausspräche, ist eine ganz andre Frage, als
wenn die Regierung in dieser Richtung eine Initiative ergreifen soll, bei der
sie der Zustimmung des Reichstags nicht nur nicht sicher ist, sondern bei der sie
darauf rechnen muß, von der Mehrheit des Reichstags im Stiche gelassen zu
werden. Die Regierung kann sich bei einer solchen Initiative keiner parla¬
mentarischen Niederlage aussetzen, die ihr hinterher selbst die Oktrohieruug eines
neuen Wahlrechts erschweren würde. Eine solche kann nur stattfinden, wenn der
Reichskanzler sicher ist, wenigstens nachträglich die Zustimmung aller patriotischen
Kreise zu finden. Das wird — wie die Verhältnisse heute im lieben Deutschland
liegen — erst dann der Fall sein, wenn sich die Sozialdemokratie in flagranter
Weise ins Unrecht setzt, und dann der Moment eintritt, den Bismarck im August
1866 in seinem berühmten Telegramm an den General Edwin Manteuffel nach
Petersburg mit den klassischen Worten bezeichnete: Wenn Revolution sein soll, wollen
wir sie lieber machen als erleiden.

Das heutige Wahlrecht besteht, wenigstens für Norddeutschland, beinahe vierzig
Jahre. Es ist freilich unter ganz andern Verhältnissen gegeben worden, unter
Voraussetzungen, die seit langem nicht mehr zutreffen. Es ist obendrein bei der
heutigen Massenentwicklung zu innerer Unwahrheit geworden, weil es eine schwere
Benachteiligung der gebildeten und intelligenten Berufsstände und eine fort¬
wuchernde Schädigung des monarchischen Staatsgedankens enthält. Unzweifelhaft
— und es ist das in den Grenzboten im vorigen Herbst ausführlich dargetan
worden — könnte eine größere Geschlossenheit und eine regere Wahlbeteiligung
der bürgerlichen Parteien viel Unheil abwenden. Aber die Anläufe zu einer
solchen Geschlossenheit sind vorläufig sehr gering. Der Deutsche will geführt werden.


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[0306] Maßgebliches und Unmaßgebliches nicht ohne Bedauern darlegte, ans eine so ernste Frage darf sich eine politische Partei, die ihre Stellung behaupten will, erst dann einlassen, wenn sie. daraus ein un¬ mittelbar in Angriff zu nehmendes Ziel zu machen entschlossen ist. So lange das nicht der Fall ist, würde sie den Gegnern, wenigstens der Sozialdemokratie, nur Waffen gegen sie in die Hand geben und sich alle Wahlkämpfe bei Ersatzwahlen usw., von allgemeinen Neuwahlen ganz abgesehen, unnötig erschweren. Nun kaun man dagegen freilich einwenden, nach dieser Theorie müßte jede politische Partei ihre Absichten bis zu deren dereinstiger Verwirklichung in die Tasche stecken, dn sich aber die Sozialdemokratie durchaus nicht geniert, die Umwälzung der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung bei jeder Gelegenheit offen als ihr Ziel zu proklamieren, auf das sie mit allen Mitteln bis hart an die Grenze der gesetzlich zulässigen hinarbeitet, so hätten die bürgerlichen Parteien doch keinen Grund, mit einer Erklärung zurückzuhalten, daß sie es einen, solchen Vorhaben gegenüber für ihre Pflicht erachten, der Sozialdemokratie ihre Hauptwaffe, das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht zu entwinden. Von der andern Seite wird darauf erwidert: was würde ein solcher Beschluß einer Partei nützen, wenn die andern bürgerlichen Parteien, wenn namentlich Konservative und Zentrum nicht mittun? Und das Zentrum ist dazu nicht eher zu haben, als bis die Sozialdemokratie ihm das Messer an die Kehle setzt. Zwischen diesen beiden Parteien besteht vorläufig noch das Übereinkommen, einander nicht wehe zu tun. Das ohnehin stark demo¬ kratisierte Zentrum ist zu Maßnahmen, die die Sozialdemokratie ernstlich treffen würden, nicht zu haben, und — so hören wir weiter argumentierein auch wenn das Zentrum in seiner großen Mehrheit zustimmen sollte, so fehlt schließlich die Regierung, die darauf eingeht. Graf Bülow hat zu wiederholten malen zu ver- stehn gegeben, daß zu Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie — und von allen Maßnahmen, die möglich sind, würde eine Änderung des Wahlrechts die wirkungs¬ vollste sein — von der Regierung nach Lage der Dinge erst dann geschritten werden könne, wenn sich die Sozialdemokratie ernste Gesetzesverletzungen oder Störungen von Ruhe und Ordnung zuschulden kommen ließe. Indes wie der Reichskanzler handeln würde, wie die Gesamtheit der ver> Kündeten Regierungen handeln würde, wenn sich eine Reichstagsmehrheit zugunsten einer Umgestaltung des Wahlrechts ausspräche, ist eine ganz andre Frage, als wenn die Regierung in dieser Richtung eine Initiative ergreifen soll, bei der sie der Zustimmung des Reichstags nicht nur nicht sicher ist, sondern bei der sie darauf rechnen muß, von der Mehrheit des Reichstags im Stiche gelassen zu werden. Die Regierung kann sich bei einer solchen Initiative keiner parla¬ mentarischen Niederlage aussetzen, die ihr hinterher selbst die Oktrohieruug eines neuen Wahlrechts erschweren würde. Eine solche kann nur stattfinden, wenn der Reichskanzler sicher ist, wenigstens nachträglich die Zustimmung aller patriotischen Kreise zu finden. Das wird — wie die Verhältnisse heute im lieben Deutschland liegen — erst dann der Fall sein, wenn sich die Sozialdemokratie in flagranter Weise ins Unrecht setzt, und dann der Moment eintritt, den Bismarck im August 1866 in seinem berühmten Telegramm an den General Edwin Manteuffel nach Petersburg mit den klassischen Worten bezeichnete: Wenn Revolution sein soll, wollen wir sie lieber machen als erleiden. Das heutige Wahlrecht besteht, wenigstens für Norddeutschland, beinahe vierzig Jahre. Es ist freilich unter ganz andern Verhältnissen gegeben worden, unter Voraussetzungen, die seit langem nicht mehr zutreffen. Es ist obendrein bei der heutigen Massenentwicklung zu innerer Unwahrheit geworden, weil es eine schwere Benachteiligung der gebildeten und intelligenten Berufsstände und eine fort¬ wuchernde Schädigung des monarchischen Staatsgedankens enthält. Unzweifelhaft — und es ist das in den Grenzboten im vorigen Herbst ausführlich dargetan worden — könnte eine größere Geschlossenheit und eine regere Wahlbeteiligung der bürgerlichen Parteien viel Unheil abwenden. Aber die Anläufe zu einer solchen Geschlossenheit sind vorläufig sehr gering. Der Deutsche will geführt werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/306>, abgerufen am 30.06.2024.