Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.vor vierzig Jahren nehmen hätten, und ob nicht das Schicksal Schleswigs zugleich eine europäische In Leipzig bildete sich sofort ein Komitee aus verschiednen Parteien *) Übrigens erklärte kurz nachher die preußische Negierung, sie werde den Durchzug von
^rnscharen nicht erlauben. vor vierzig Jahren nehmen hätten, und ob nicht das Schicksal Schleswigs zugleich eine europäische In Leipzig bildete sich sofort ein Komitee aus verschiednen Parteien *) Übrigens erklärte kurz nachher die preußische Negierung, sie werde den Durchzug von
^rnscharen nicht erlauben. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293836"/> <fw type="header" place="top"> vor vierzig Jahren</fw><lb/> <p xml:id="ID_837" prev="#ID_836"> nehmen hätten, und ob nicht das Schicksal Schleswigs zugleich eine europäische<lb/> Angelegenheit sei, die unter Umständen zu einem großen Kriegsbrande führen<lb/> könnte, danach fragte kein Mensch. „Daß wir großen Erschütterungen, ja Kata¬<lb/> strophen entgegengehn, schrieb unter diesen Eindrücken mein Vater am 20. No¬<lb/> vember, davon überzeugt sich rasch jeder, der einigermaßen Einblick getan hat<lb/> in den Zusammenhang der Dinge und zu ermessen weiß, wie große Entwick¬<lb/> lungen, bis zu einem gewissen Punkte gefördert, unaufhaltsam und nach einem<lb/> in ihnen treibenden Gesetze ihre eigne Bahn durchlaufen und alle Berechnungen<lb/> der Klugen, die sie nach ihrem Gutdünken bestimmen wollen, vereiteln. Die so<lb/> lange schläfrig und bedächtig und durch endlose Förmlichkeiten geführte Frage<lb/> wegen Schleswig-Holstein ist plötzlich, wie durch das Eingreifen einer höhern<lb/> Hand, so entschieden worden, daß die einzuhaltende Linie eigentlich doch keinem<lb/> mehr zweifelhaft sein kann. Die Zeit der Noten und Protokolle ist vorüber."</p><lb/> <p xml:id="ID_838" next="#ID_839"> In Leipzig bildete sich sofort ein Komitee aus verschiednen Parteien<lb/> — nebeneinander standen Karl Biedermann und der „großdeutsche" Demokrat<lb/> Professor Heinrich Wuttke —, um durch große Demonstrationen auf den Gang<lb/> der Dinge einzuwirken. Zu diesem Zwecke berief es eine allgemeine Volksver¬<lb/> sammlung nach dem „Odeon" für den Abend des 21. November, zu der sich gegen<lb/> dreitausend Menschen aus allen Ständen einfanden; den Vorsitz übernahm der<lb/> Rechtsanwalt Rose. Zuerst gab Professor Biedermann, von lautem Beifall<lb/> empfangen, eine kurze historische Darstellung der Frage und schloß sie mit den<lb/> Worten: „Es handelt sich darum, ob wir die Lander, die, zwei Meeren zugekehrt,<lb/> für die künftige Machtstellung zur See (lebhaftes Bravo) unentbehrlich sind, auf<lb/> immer verlieren oder auf immer fest an Deutschland ketten wollen. Einmal<lb/> diese Gelegenheit versäumt, kommt sie nicht wieder." Dann ging er zu Vor¬<lb/> schlägen über. Man habe viel davon gesprochen, daß das Volk selbst seine<lb/> Sache in die Hand nehmen, seine jungen Leute als Freischaren nach dem Norden<lb/> senden müsse (Bravo). Er halte das für unrichtig; der Krieg werde ein schwerer<lb/> Kampf sein, und da sei es mit Freischarcn nichts.*) Vielmehr müsse man die<lb/> Regierungen vorwärts drängen, und das könne von uns aus nur durch eine<lb/> Adresse an den König von Sachsen geschehn- Dann beantragte er drei Reso¬<lb/> lutionen. Die Versammlung halte nur den Prinzen von Augustenburg für erb¬<lb/> berechtigt, sie sehe das Heil nur in der völligen Trennung der Herzogtümer<lb/> von Dänemark, sie halte es endlich für die Pflicht der Regierungen, hier kräftig<lb/> einzuschreiten. Zuletzt verlas er den Entwurf zu der Adresse, die den König<lb/> aufforderte, durch seinen Gesandten in Frankfurt für eine energische Unterstützung<lb/> Schleswig-Holsteins durch den Bund einzutreten; sie und die drei Resolutionen<lb/> wurden ohne Widerspruch angenommen. Biedermann hatte verstandesmäßig,<lb/> ruhig und klar gesprochen; in dem nächsten Redner, Heinrich Wuttke, brauste<lb/> die verhaltene Leidenschaft, deshalb packte er seine Zuhörer im Innersten.<lb/> Schleswig, so sagte er etwa, sei nicht deutsches Bundesland, aber er denke, der<lb/> Deutsche Bund sei nicht das deutsche Volk, und obwohl von vergilbten Papieren<lb/> "ann nicht mehr die Rede sein könne, wenn sich die Verhältnisse und An-</p><lb/> <note xml:id="FID_31" place="foot"> *) Übrigens erklärte kurz nachher die preußische Negierung, sie werde den Durchzug von<lb/> ^rnscharen nicht erlauben.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0217]
vor vierzig Jahren
nehmen hätten, und ob nicht das Schicksal Schleswigs zugleich eine europäische
Angelegenheit sei, die unter Umständen zu einem großen Kriegsbrande führen
könnte, danach fragte kein Mensch. „Daß wir großen Erschütterungen, ja Kata¬
strophen entgegengehn, schrieb unter diesen Eindrücken mein Vater am 20. No¬
vember, davon überzeugt sich rasch jeder, der einigermaßen Einblick getan hat
in den Zusammenhang der Dinge und zu ermessen weiß, wie große Entwick¬
lungen, bis zu einem gewissen Punkte gefördert, unaufhaltsam und nach einem
in ihnen treibenden Gesetze ihre eigne Bahn durchlaufen und alle Berechnungen
der Klugen, die sie nach ihrem Gutdünken bestimmen wollen, vereiteln. Die so
lange schläfrig und bedächtig und durch endlose Förmlichkeiten geführte Frage
wegen Schleswig-Holstein ist plötzlich, wie durch das Eingreifen einer höhern
Hand, so entschieden worden, daß die einzuhaltende Linie eigentlich doch keinem
mehr zweifelhaft sein kann. Die Zeit der Noten und Protokolle ist vorüber."
In Leipzig bildete sich sofort ein Komitee aus verschiednen Parteien
— nebeneinander standen Karl Biedermann und der „großdeutsche" Demokrat
Professor Heinrich Wuttke —, um durch große Demonstrationen auf den Gang
der Dinge einzuwirken. Zu diesem Zwecke berief es eine allgemeine Volksver¬
sammlung nach dem „Odeon" für den Abend des 21. November, zu der sich gegen
dreitausend Menschen aus allen Ständen einfanden; den Vorsitz übernahm der
Rechtsanwalt Rose. Zuerst gab Professor Biedermann, von lautem Beifall
empfangen, eine kurze historische Darstellung der Frage und schloß sie mit den
Worten: „Es handelt sich darum, ob wir die Lander, die, zwei Meeren zugekehrt,
für die künftige Machtstellung zur See (lebhaftes Bravo) unentbehrlich sind, auf
immer verlieren oder auf immer fest an Deutschland ketten wollen. Einmal
diese Gelegenheit versäumt, kommt sie nicht wieder." Dann ging er zu Vor¬
schlägen über. Man habe viel davon gesprochen, daß das Volk selbst seine
Sache in die Hand nehmen, seine jungen Leute als Freischaren nach dem Norden
senden müsse (Bravo). Er halte das für unrichtig; der Krieg werde ein schwerer
Kampf sein, und da sei es mit Freischarcn nichts.*) Vielmehr müsse man die
Regierungen vorwärts drängen, und das könne von uns aus nur durch eine
Adresse an den König von Sachsen geschehn- Dann beantragte er drei Reso¬
lutionen. Die Versammlung halte nur den Prinzen von Augustenburg für erb¬
berechtigt, sie sehe das Heil nur in der völligen Trennung der Herzogtümer
von Dänemark, sie halte es endlich für die Pflicht der Regierungen, hier kräftig
einzuschreiten. Zuletzt verlas er den Entwurf zu der Adresse, die den König
aufforderte, durch seinen Gesandten in Frankfurt für eine energische Unterstützung
Schleswig-Holsteins durch den Bund einzutreten; sie und die drei Resolutionen
wurden ohne Widerspruch angenommen. Biedermann hatte verstandesmäßig,
ruhig und klar gesprochen; in dem nächsten Redner, Heinrich Wuttke, brauste
die verhaltene Leidenschaft, deshalb packte er seine Zuhörer im Innersten.
Schleswig, so sagte er etwa, sei nicht deutsches Bundesland, aber er denke, der
Deutsche Bund sei nicht das deutsche Volk, und obwohl von vergilbten Papieren
"ann nicht mehr die Rede sein könne, wenn sich die Verhältnisse und An-
*) Übrigens erklärte kurz nachher die preußische Negierung, sie werde den Durchzug von
^rnscharen nicht erlauben.
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