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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

in dem Himmel seiner idealen Güter mit ihm zu leben -- "so oft du kommst, er soll dir
offen sein" --, so ist das ohne Zweifel recht ideal gedacht. Aber das Leben eines
großen Volks regelt sich nicht nach den leicht beieinander wohnenden Gedanken,
sondern nach den sich hart im Raume stoßenden Sachen. Die Fackel der "Wart¬
burg" droht, nicht Licht anzuzünden, sondern die verzehrende Flamme der kon¬
fessionellen Zwietracht auflodern zu lassen, einer Zwietracht, die auch Herr v. Meyer
schwerlich zu den idealen Gütern unsers Volks rechnen wird, und die von der
Glaubens- und Gewissensfreiheit ebensoweit entfernt ist, wie das leuchtende Licht
vom verzehrenden Feuer. Das Ausland würde seine helle Freude daran haben.

Es wäre dem Grafen Bülow sicherlich ein Leichtes gewesen, sich durch eine
Philippika gegen den Jesuitismus eine wenn auch vielleicht falsche, so doch jeden¬
falls wohlfeile Popularität zu verschaffen und statt vielen Tadels eine Menge von
Lvbesartikeln einzuheimsen. Daß er das nicht getan, sondern das Gegenteil er¬
wählt hat, sollte einsichtige Männer doch zu einer gründlichern Prüfung ver-
cmlnssen, als sie in dem "steinigt ihn!" zutage tritt. Seit seinem Amtsantritt als
Staatssekretär hat sich Graf Bülow um das Deutsche Reich und seinen keineswegs
immer ungefährdeten Frieden gar manches Verdienst erworben, das für die große
Menge vielleicht nur deshalb nicht erkennbar geworden ist, weil er es nicht an die
große Glocke hängen ließ. Diese Tatsache sollte ihn doch vor einem gedankenlosen
"hinweg mit ihm" schützen. Je höher Deutschland am politischen Zenit empor¬
gestiegen ist, je zahlreicher die Mächte, je größer die Interessen sind, die im
politischen Weltenraum nach Herrschaft und nach Geltung ringen, desto mehr ist jeder
deutsche Reichskanzler verpflichtet, auf die einheitliche Geschlossenheit der
deutschen Macht Bedacht zu nehmen und den konfessionellen Hader zu den
Dingen zu zählen, die sich dem Interesse des Ganzen unterordnen müssen.


Sozialdemokratie, Zentrum und -- Heer.

Die Taktik der Sozial-
demokratie ist gegenwärtig darauf gerichtet, den Geist der Unbotmäßigkeit und der
Empörung in das Heer zu tragen. Erst wenn das gelungen sein wird, dürfte
der Augenblick gekommen sein, wo auch den Mauserungsgläubigsten die Augen auf¬
gehen werden. Dieser sozialdemokratischen Taktik leistet das Thema "Soldaten¬
mißhandlungen" den denkbarsten Vorschub, und die andern Parteien wissen gar
nicht, was sie tun, wenn sie die tagelnngen Erörterungen dieses Gegenstandes nicht
nur erlauben, sondern ihrerseits auch noch direkt fördern. Die Ursachen der Sol¬
datenmißhandlungen sind mündlich und schriftlich bis zur Erschöpfung erörtert
worden. Diese bedauerlichen Erscheinungen sind so alt wie die Heere. Bei uns
fallen sie neuerdings mehr auf, erstens weil die Armee sich gegen die Zeit von
1870/80 verdoppelt hat, damit sind schon doppelte Relativzahlen gegeben; sodnnn
ist es unvermeidlich, daß für dieses verdoppelte Heer die Qualität des Lehrpersonals
oft mehr zu wünschen übrig läßt als ehedem. Dazu kommt, daß eine stark ge¬
steigerte Ausbildung bei deu Fußtruppen jetzt in zwei Jahre" erreicht werden soll,
statt früher in drei, daß der zahlreichere städtische Ersatz weit schwerer zu be¬
handeln ist, als früher der weit überwiegend ländliche, endlich daß die so sehr ge¬
steigerten Anforderungen bei der um eiuDrittel verkürzten Dienstzeit in der Front und
vor der Front unvermeidlich eine gewisse Nervosität zur Folge haben. Bei den
hochgehenden Anforderungen, die der Dienst heute stellt, darf man sich fast
wundern, daß der Andrang zur Offizierlaufbahn "och so groß ist, wenngleich sich
Erscheinungen, die auf eine Abnahme hindeuten, bemerkbar machen. Früher
wurden Mißhandlungen auf dem Disziplinarwege bestraft; kamen die Fälle vor das
Kriegsgericht, so erfuhr die Öffentlichkeit selten oder nichts davon. Heute wird
jeder einzelne Fall in öffentlicher kriegsrechtlicher Verhandlung, womöglich durch
zwei Instanzen hindurch, vor der Öffentlichkeit breitgetreten/und das Publikum
gewinnt so den Eindruck, als handle es sich um völlig neue und ehedem unerhört
gewesene Vorgänge in der Armee. Dabei übersieht man dann noch die psy-ho-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

in dem Himmel seiner idealen Güter mit ihm zu leben — „so oft du kommst, er soll dir
offen sein" —, so ist das ohne Zweifel recht ideal gedacht. Aber das Leben eines
großen Volks regelt sich nicht nach den leicht beieinander wohnenden Gedanken,
sondern nach den sich hart im Raume stoßenden Sachen. Die Fackel der „Wart¬
burg" droht, nicht Licht anzuzünden, sondern die verzehrende Flamme der kon¬
fessionellen Zwietracht auflodern zu lassen, einer Zwietracht, die auch Herr v. Meyer
schwerlich zu den idealen Gütern unsers Volks rechnen wird, und die von der
Glaubens- und Gewissensfreiheit ebensoweit entfernt ist, wie das leuchtende Licht
vom verzehrenden Feuer. Das Ausland würde seine helle Freude daran haben.

Es wäre dem Grafen Bülow sicherlich ein Leichtes gewesen, sich durch eine
Philippika gegen den Jesuitismus eine wenn auch vielleicht falsche, so doch jeden¬
falls wohlfeile Popularität zu verschaffen und statt vielen Tadels eine Menge von
Lvbesartikeln einzuheimsen. Daß er das nicht getan, sondern das Gegenteil er¬
wählt hat, sollte einsichtige Männer doch zu einer gründlichern Prüfung ver-
cmlnssen, als sie in dem „steinigt ihn!" zutage tritt. Seit seinem Amtsantritt als
Staatssekretär hat sich Graf Bülow um das Deutsche Reich und seinen keineswegs
immer ungefährdeten Frieden gar manches Verdienst erworben, das für die große
Menge vielleicht nur deshalb nicht erkennbar geworden ist, weil er es nicht an die
große Glocke hängen ließ. Diese Tatsache sollte ihn doch vor einem gedankenlosen
„hinweg mit ihm" schützen. Je höher Deutschland am politischen Zenit empor¬
gestiegen ist, je zahlreicher die Mächte, je größer die Interessen sind, die im
politischen Weltenraum nach Herrschaft und nach Geltung ringen, desto mehr ist jeder
deutsche Reichskanzler verpflichtet, auf die einheitliche Geschlossenheit der
deutschen Macht Bedacht zu nehmen und den konfessionellen Hader zu den
Dingen zu zählen, die sich dem Interesse des Ganzen unterordnen müssen.


Sozialdemokratie, Zentrum und — Heer.

Die Taktik der Sozial-
demokratie ist gegenwärtig darauf gerichtet, den Geist der Unbotmäßigkeit und der
Empörung in das Heer zu tragen. Erst wenn das gelungen sein wird, dürfte
der Augenblick gekommen sein, wo auch den Mauserungsgläubigsten die Augen auf¬
gehen werden. Dieser sozialdemokratischen Taktik leistet das Thema „Soldaten¬
mißhandlungen" den denkbarsten Vorschub, und die andern Parteien wissen gar
nicht, was sie tun, wenn sie die tagelnngen Erörterungen dieses Gegenstandes nicht
nur erlauben, sondern ihrerseits auch noch direkt fördern. Die Ursachen der Sol¬
datenmißhandlungen sind mündlich und schriftlich bis zur Erschöpfung erörtert
worden. Diese bedauerlichen Erscheinungen sind so alt wie die Heere. Bei uns
fallen sie neuerdings mehr auf, erstens weil die Armee sich gegen die Zeit von
1870/80 verdoppelt hat, damit sind schon doppelte Relativzahlen gegeben; sodnnn
ist es unvermeidlich, daß für dieses verdoppelte Heer die Qualität des Lehrpersonals
oft mehr zu wünschen übrig läßt als ehedem. Dazu kommt, daß eine stark ge¬
steigerte Ausbildung bei deu Fußtruppen jetzt in zwei Jahre» erreicht werden soll,
statt früher in drei, daß der zahlreichere städtische Ersatz weit schwerer zu be¬
handeln ist, als früher der weit überwiegend ländliche, endlich daß die so sehr ge¬
steigerten Anforderungen bei der um eiuDrittel verkürzten Dienstzeit in der Front und
vor der Front unvermeidlich eine gewisse Nervosität zur Folge haben. Bei den
hochgehenden Anforderungen, die der Dienst heute stellt, darf man sich fast
wundern, daß der Andrang zur Offizierlaufbahn «och so groß ist, wenngleich sich
Erscheinungen, die auf eine Abnahme hindeuten, bemerkbar machen. Früher
wurden Mißhandlungen auf dem Disziplinarwege bestraft; kamen die Fälle vor das
Kriegsgericht, so erfuhr die Öffentlichkeit selten oder nichts davon. Heute wird
jeder einzelne Fall in öffentlicher kriegsrechtlicher Verhandlung, womöglich durch
zwei Instanzen hindurch, vor der Öffentlichkeit breitgetreten/und das Publikum
gewinnt so den Eindruck, als handle es sich um völlig neue und ehedem unerhört
gewesene Vorgänge in der Armee. Dabei übersieht man dann noch die psy-ho-


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[0810] Maßgebliches und Unmaßgebliches in dem Himmel seiner idealen Güter mit ihm zu leben — „so oft du kommst, er soll dir offen sein" —, so ist das ohne Zweifel recht ideal gedacht. Aber das Leben eines großen Volks regelt sich nicht nach den leicht beieinander wohnenden Gedanken, sondern nach den sich hart im Raume stoßenden Sachen. Die Fackel der „Wart¬ burg" droht, nicht Licht anzuzünden, sondern die verzehrende Flamme der kon¬ fessionellen Zwietracht auflodern zu lassen, einer Zwietracht, die auch Herr v. Meyer schwerlich zu den idealen Gütern unsers Volks rechnen wird, und die von der Glaubens- und Gewissensfreiheit ebensoweit entfernt ist, wie das leuchtende Licht vom verzehrenden Feuer. Das Ausland würde seine helle Freude daran haben. Es wäre dem Grafen Bülow sicherlich ein Leichtes gewesen, sich durch eine Philippika gegen den Jesuitismus eine wenn auch vielleicht falsche, so doch jeden¬ falls wohlfeile Popularität zu verschaffen und statt vielen Tadels eine Menge von Lvbesartikeln einzuheimsen. Daß er das nicht getan, sondern das Gegenteil er¬ wählt hat, sollte einsichtige Männer doch zu einer gründlichern Prüfung ver- cmlnssen, als sie in dem „steinigt ihn!" zutage tritt. Seit seinem Amtsantritt als Staatssekretär hat sich Graf Bülow um das Deutsche Reich und seinen keineswegs immer ungefährdeten Frieden gar manches Verdienst erworben, das für die große Menge vielleicht nur deshalb nicht erkennbar geworden ist, weil er es nicht an die große Glocke hängen ließ. Diese Tatsache sollte ihn doch vor einem gedankenlosen „hinweg mit ihm" schützen. Je höher Deutschland am politischen Zenit empor¬ gestiegen ist, je zahlreicher die Mächte, je größer die Interessen sind, die im politischen Weltenraum nach Herrschaft und nach Geltung ringen, desto mehr ist jeder deutsche Reichskanzler verpflichtet, auf die einheitliche Geschlossenheit der deutschen Macht Bedacht zu nehmen und den konfessionellen Hader zu den Dingen zu zählen, die sich dem Interesse des Ganzen unterordnen müssen. Sozialdemokratie, Zentrum und — Heer. Die Taktik der Sozial- demokratie ist gegenwärtig darauf gerichtet, den Geist der Unbotmäßigkeit und der Empörung in das Heer zu tragen. Erst wenn das gelungen sein wird, dürfte der Augenblick gekommen sein, wo auch den Mauserungsgläubigsten die Augen auf¬ gehen werden. Dieser sozialdemokratischen Taktik leistet das Thema „Soldaten¬ mißhandlungen" den denkbarsten Vorschub, und die andern Parteien wissen gar nicht, was sie tun, wenn sie die tagelnngen Erörterungen dieses Gegenstandes nicht nur erlauben, sondern ihrerseits auch noch direkt fördern. Die Ursachen der Sol¬ datenmißhandlungen sind mündlich und schriftlich bis zur Erschöpfung erörtert worden. Diese bedauerlichen Erscheinungen sind so alt wie die Heere. Bei uns fallen sie neuerdings mehr auf, erstens weil die Armee sich gegen die Zeit von 1870/80 verdoppelt hat, damit sind schon doppelte Relativzahlen gegeben; sodnnn ist es unvermeidlich, daß für dieses verdoppelte Heer die Qualität des Lehrpersonals oft mehr zu wünschen übrig läßt als ehedem. Dazu kommt, daß eine stark ge¬ steigerte Ausbildung bei deu Fußtruppen jetzt in zwei Jahre» erreicht werden soll, statt früher in drei, daß der zahlreichere städtische Ersatz weit schwerer zu be¬ handeln ist, als früher der weit überwiegend ländliche, endlich daß die so sehr ge¬ steigerten Anforderungen bei der um eiuDrittel verkürzten Dienstzeit in der Front und vor der Front unvermeidlich eine gewisse Nervosität zur Folge haben. Bei den hochgehenden Anforderungen, die der Dienst heute stellt, darf man sich fast wundern, daß der Andrang zur Offizierlaufbahn «och so groß ist, wenngleich sich Erscheinungen, die auf eine Abnahme hindeuten, bemerkbar machen. Früher wurden Mißhandlungen auf dem Disziplinarwege bestraft; kamen die Fälle vor das Kriegsgericht, so erfuhr die Öffentlichkeit selten oder nichts davon. Heute wird jeder einzelne Fall in öffentlicher kriegsrechtlicher Verhandlung, womöglich durch zwei Instanzen hindurch, vor der Öffentlichkeit breitgetreten/und das Publikum gewinnt so den Eindruck, als handle es sich um völlig neue und ehedem unerhört gewesene Vorgänge in der Armee. Dabei übersieht man dann noch die psy-ho-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/810>, abgerufen am 29.06.2024.