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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

sein kann. Aber nachdem wir schon fast fünfundzwanzig Jahre daran bauen, ver¬
lohnt es sich doch vielleicht, zunächst einmal nach den Fundamenten zu sehen, ob
diese den Ban auch noch tragen. Recht viel davon ist schon verloren gegangen.
Sorgen wir, daß der Rest imstande bleibt, Stürmen Trotz zu bieten.

Klagen über die trostlose Geschäftslage des Reichstags hallten in den letzten
Wochen abermals durch die Blätter, aber bei allen Betrachtungen lautete der
Weisheit letzter Schluß: Gebt Diäten oder doch wenigstens Anwesenheitsgelder!
Als dann so überraschend der Bundesratsbeschluß über den Paragraphen 2 des
Jesuitengesetzes bekannt wurde, folgerte ein Korrespondenzorgan, daß der Bundesrat
in Gebelaune sei, und da die Diäten oder Anwesenheitsgelder ebenfalls wesentlich
Zentrumsbedürfnis sind, so wurde der publizistische Ententeich kühnlich um die fette
Ente bereichert, daß auch eine Diätenvorlage schon im Anzüge sei. Erfreulicherweise
hat die Ente nur ein kurzes Dasein gehabt, das aber ausreichte, beim "Vorwärts"
die Idee einer Reichstagsauflösung aufkommen zu lassen, wohl in der sachlich richtigen
Erwägung, daß eine solche Verfassungsänderung die Bedingungen für die Reichs¬
tagswahlen zu sehr verschieben würde, als daß die einfache Fortsetzung des unter
ganz andern verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gewählten Reichstags noch als
zulässig erscheinen könnte.

Bei Einführung von Diäten würde das kaum zu umgehen sein, bei "Anwesen¬
heitsgeldern," deren Ertrag ja von dem Sitzfleiß des einzelnen Abgeordneten ab¬
hängig wäre, erscheint die Frage strittig. "Anwesenheitsgelder" würden das Präsidium
des Reichstags in nicht geringe Verlegenheit setzen. Wer hätte als "anwesend" zu
gelten? Auch jetzt kommt eine Anzahl Abgeordneter auf eine oder zwei Stunden
in die Sitzung, und sobald ihnen die Sache langweilig wird, was bei heutigen
Verhältnissen ziemlich häufig der Fall ist, verschwinden sie wieder. Bei weitem
nicht alle "Abwesenden" sind auch von Berlin abwesend. Sollen diese Abgeordneten
nun als "anwesend" gelten, wenn sie auf eine kurze Zeit im Hause erschienen sind
und ihren Hut in die Garderobe gehängt haben? Man müßte sich die Feststellung
der Präsenz mithin ungefähr wie folgt denken: Beim Eintritt in das Haus Hai
jeder Abgeordnete in Zukunft ein Tonrniquet zu passieren. Am Beginn der Session
erhält er ans dem Bureau eine bestimmte Anzahl Karten mit seiner Matrikel¬
nummer, zum Beispiel 151. Beim Passieren des Tonrniquets wird die Karte von
einem Diener mit einer mit Stnndenstempel versehenen Zange durchkocht, ähnlich
wie auf den Bahnhöfen. Der Abgeordnete behält die Karte, um sie, sobald er
das Haus verläßt, beim Passieren des Tourniquets abzugeben. Der Beamte durch¬
kocht sie wieder mit Stundenstempel und liefert die vou ihm zu sammelnden Karten
täglich an den Bureaudirektor ab. Auf diese Weise ist der Präsident in der Lage,
festzustellen, daß Nummer 151 um zwei Uhr das Haus betreten und um fünf Uhr
wieder verlassen hat. Ein Minimum von Aufenthalt im Hause, das zur Beanspruchung
von Anwesenheitsgeldern berechtigt, wird ja wohl festzusetzen sein. Selbstverständlich
werden Tourniquets an allen Eingängen vorhanden und mit mindestens zwei Beamten
besetzt sein müssen. Bundesratsmitglieder und Kommissare -- sofern sie nicht einen
eignen Eingang erhalten -- könnten sich durch eine Passierkarte legitimieren, die
nicht durchkocht wird, ebenso die Vertreter der Presse; das Publikum könnte auf
einen oder zwei bestimmte Ein- und Ausgänge beschränkt werden. Das wäre immerhin
eine sachgemäße Kontrolle.

Daß jedoch Anwesenheitsgelder und sogar Diäten die Sache auch nicht machen,
beweist soeben das preußische Abgeordnetenhaus, das trotz Diäten mit dem Etat
nicht fertig wird, weil sich der alte Fluch unsers Volkes, daß die Interessen des Indi¬
viduums höher angeschlagen werden als die der Allgemeinheit, nicht nur in unsrer
gesamten neuern Gesetzgebung, sondern auch in dem Verhalten der Fraktionen und
der einzelnen Abgeordneten in nahezu unerträglicher Weise geltend macht. Bei
den Fraktionen das Bedürfnis nach Anträgen und Resolutionen, bei den Abgeordneten
eine Redewut, die im Reichstage fast den Charakter einer verkappten Obstruktion


Maßgebliches und Unmaßgebliches

sein kann. Aber nachdem wir schon fast fünfundzwanzig Jahre daran bauen, ver¬
lohnt es sich doch vielleicht, zunächst einmal nach den Fundamenten zu sehen, ob
diese den Ban auch noch tragen. Recht viel davon ist schon verloren gegangen.
Sorgen wir, daß der Rest imstande bleibt, Stürmen Trotz zu bieten.

Klagen über die trostlose Geschäftslage des Reichstags hallten in den letzten
Wochen abermals durch die Blätter, aber bei allen Betrachtungen lautete der
Weisheit letzter Schluß: Gebt Diäten oder doch wenigstens Anwesenheitsgelder!
Als dann so überraschend der Bundesratsbeschluß über den Paragraphen 2 des
Jesuitengesetzes bekannt wurde, folgerte ein Korrespondenzorgan, daß der Bundesrat
in Gebelaune sei, und da die Diäten oder Anwesenheitsgelder ebenfalls wesentlich
Zentrumsbedürfnis sind, so wurde der publizistische Ententeich kühnlich um die fette
Ente bereichert, daß auch eine Diätenvorlage schon im Anzüge sei. Erfreulicherweise
hat die Ente nur ein kurzes Dasein gehabt, das aber ausreichte, beim „Vorwärts"
die Idee einer Reichstagsauflösung aufkommen zu lassen, wohl in der sachlich richtigen
Erwägung, daß eine solche Verfassungsänderung die Bedingungen für die Reichs¬
tagswahlen zu sehr verschieben würde, als daß die einfache Fortsetzung des unter
ganz andern verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gewählten Reichstags noch als
zulässig erscheinen könnte.

Bei Einführung von Diäten würde das kaum zu umgehen sein, bei „Anwesen¬
heitsgeldern," deren Ertrag ja von dem Sitzfleiß des einzelnen Abgeordneten ab¬
hängig wäre, erscheint die Frage strittig. „Anwesenheitsgelder" würden das Präsidium
des Reichstags in nicht geringe Verlegenheit setzen. Wer hätte als „anwesend" zu
gelten? Auch jetzt kommt eine Anzahl Abgeordneter auf eine oder zwei Stunden
in die Sitzung, und sobald ihnen die Sache langweilig wird, was bei heutigen
Verhältnissen ziemlich häufig der Fall ist, verschwinden sie wieder. Bei weitem
nicht alle „Abwesenden" sind auch von Berlin abwesend. Sollen diese Abgeordneten
nun als „anwesend" gelten, wenn sie auf eine kurze Zeit im Hause erschienen sind
und ihren Hut in die Garderobe gehängt haben? Man müßte sich die Feststellung
der Präsenz mithin ungefähr wie folgt denken: Beim Eintritt in das Haus Hai
jeder Abgeordnete in Zukunft ein Tonrniquet zu passieren. Am Beginn der Session
erhält er ans dem Bureau eine bestimmte Anzahl Karten mit seiner Matrikel¬
nummer, zum Beispiel 151. Beim Passieren des Tonrniquets wird die Karte von
einem Diener mit einer mit Stnndenstempel versehenen Zange durchkocht, ähnlich
wie auf den Bahnhöfen. Der Abgeordnete behält die Karte, um sie, sobald er
das Haus verläßt, beim Passieren des Tourniquets abzugeben. Der Beamte durch¬
kocht sie wieder mit Stundenstempel und liefert die vou ihm zu sammelnden Karten
täglich an den Bureaudirektor ab. Auf diese Weise ist der Präsident in der Lage,
festzustellen, daß Nummer 151 um zwei Uhr das Haus betreten und um fünf Uhr
wieder verlassen hat. Ein Minimum von Aufenthalt im Hause, das zur Beanspruchung
von Anwesenheitsgeldern berechtigt, wird ja wohl festzusetzen sein. Selbstverständlich
werden Tourniquets an allen Eingängen vorhanden und mit mindestens zwei Beamten
besetzt sein müssen. Bundesratsmitglieder und Kommissare — sofern sie nicht einen
eignen Eingang erhalten — könnten sich durch eine Passierkarte legitimieren, die
nicht durchkocht wird, ebenso die Vertreter der Presse; das Publikum könnte auf
einen oder zwei bestimmte Ein- und Ausgänge beschränkt werden. Das wäre immerhin
eine sachgemäße Kontrolle.

Daß jedoch Anwesenheitsgelder und sogar Diäten die Sache auch nicht machen,
beweist soeben das preußische Abgeordnetenhaus, das trotz Diäten mit dem Etat
nicht fertig wird, weil sich der alte Fluch unsers Volkes, daß die Interessen des Indi¬
viduums höher angeschlagen werden als die der Allgemeinheit, nicht nur in unsrer
gesamten neuern Gesetzgebung, sondern auch in dem Verhalten der Fraktionen und
der einzelnen Abgeordneten in nahezu unerträglicher Weise geltend macht. Bei
den Fraktionen das Bedürfnis nach Anträgen und Resolutionen, bei den Abgeordneten
eine Redewut, die im Reichstage fast den Charakter einer verkappten Obstruktion


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[0684] Maßgebliches und Unmaßgebliches sein kann. Aber nachdem wir schon fast fünfundzwanzig Jahre daran bauen, ver¬ lohnt es sich doch vielleicht, zunächst einmal nach den Fundamenten zu sehen, ob diese den Ban auch noch tragen. Recht viel davon ist schon verloren gegangen. Sorgen wir, daß der Rest imstande bleibt, Stürmen Trotz zu bieten. Klagen über die trostlose Geschäftslage des Reichstags hallten in den letzten Wochen abermals durch die Blätter, aber bei allen Betrachtungen lautete der Weisheit letzter Schluß: Gebt Diäten oder doch wenigstens Anwesenheitsgelder! Als dann so überraschend der Bundesratsbeschluß über den Paragraphen 2 des Jesuitengesetzes bekannt wurde, folgerte ein Korrespondenzorgan, daß der Bundesrat in Gebelaune sei, und da die Diäten oder Anwesenheitsgelder ebenfalls wesentlich Zentrumsbedürfnis sind, so wurde der publizistische Ententeich kühnlich um die fette Ente bereichert, daß auch eine Diätenvorlage schon im Anzüge sei. Erfreulicherweise hat die Ente nur ein kurzes Dasein gehabt, das aber ausreichte, beim „Vorwärts" die Idee einer Reichstagsauflösung aufkommen zu lassen, wohl in der sachlich richtigen Erwägung, daß eine solche Verfassungsänderung die Bedingungen für die Reichs¬ tagswahlen zu sehr verschieben würde, als daß die einfache Fortsetzung des unter ganz andern verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gewählten Reichstags noch als zulässig erscheinen könnte. Bei Einführung von Diäten würde das kaum zu umgehen sein, bei „Anwesen¬ heitsgeldern," deren Ertrag ja von dem Sitzfleiß des einzelnen Abgeordneten ab¬ hängig wäre, erscheint die Frage strittig. „Anwesenheitsgelder" würden das Präsidium des Reichstags in nicht geringe Verlegenheit setzen. Wer hätte als „anwesend" zu gelten? Auch jetzt kommt eine Anzahl Abgeordneter auf eine oder zwei Stunden in die Sitzung, und sobald ihnen die Sache langweilig wird, was bei heutigen Verhältnissen ziemlich häufig der Fall ist, verschwinden sie wieder. Bei weitem nicht alle „Abwesenden" sind auch von Berlin abwesend. Sollen diese Abgeordneten nun als „anwesend" gelten, wenn sie auf eine kurze Zeit im Hause erschienen sind und ihren Hut in die Garderobe gehängt haben? Man müßte sich die Feststellung der Präsenz mithin ungefähr wie folgt denken: Beim Eintritt in das Haus Hai jeder Abgeordnete in Zukunft ein Tonrniquet zu passieren. Am Beginn der Session erhält er ans dem Bureau eine bestimmte Anzahl Karten mit seiner Matrikel¬ nummer, zum Beispiel 151. Beim Passieren des Tonrniquets wird die Karte von einem Diener mit einer mit Stnndenstempel versehenen Zange durchkocht, ähnlich wie auf den Bahnhöfen. Der Abgeordnete behält die Karte, um sie, sobald er das Haus verläßt, beim Passieren des Tourniquets abzugeben. Der Beamte durch¬ kocht sie wieder mit Stundenstempel und liefert die vou ihm zu sammelnden Karten täglich an den Bureaudirektor ab. Auf diese Weise ist der Präsident in der Lage, festzustellen, daß Nummer 151 um zwei Uhr das Haus betreten und um fünf Uhr wieder verlassen hat. Ein Minimum von Aufenthalt im Hause, das zur Beanspruchung von Anwesenheitsgeldern berechtigt, wird ja wohl festzusetzen sein. Selbstverständlich werden Tourniquets an allen Eingängen vorhanden und mit mindestens zwei Beamten besetzt sein müssen. Bundesratsmitglieder und Kommissare — sofern sie nicht einen eignen Eingang erhalten — könnten sich durch eine Passierkarte legitimieren, die nicht durchkocht wird, ebenso die Vertreter der Presse; das Publikum könnte auf einen oder zwei bestimmte Ein- und Ausgänge beschränkt werden. Das wäre immerhin eine sachgemäße Kontrolle. Daß jedoch Anwesenheitsgelder und sogar Diäten die Sache auch nicht machen, beweist soeben das preußische Abgeordnetenhaus, das trotz Diäten mit dem Etat nicht fertig wird, weil sich der alte Fluch unsers Volkes, daß die Interessen des Indi¬ viduums höher angeschlagen werden als die der Allgemeinheit, nicht nur in unsrer gesamten neuern Gesetzgebung, sondern auch in dem Verhalten der Fraktionen und der einzelnen Abgeordneten in nahezu unerträglicher Weise geltend macht. Bei den Fraktionen das Bedürfnis nach Anträgen und Resolutionen, bei den Abgeordneten eine Redewut, die im Reichstage fast den Charakter einer verkappten Obstruktion

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/684>, abgerufen am 25.08.2024.