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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Rußland und (Lhina bis zum vertrage von Nertschinsk
von Georg Henning

"SMMA ußland steht jetzt in der Mandschurei. Daß es diesen Besitz
wieder aufgeben wird, ist ausgeschlossen! wahrschein-
^' ^ sich Rußland auch mit dem bis jetzt Erworbnen
begnügt, und das; die Grenzen Russisch-Asiens nur vor-
lA-ÄW^M tausig gezogen sind. Rußland beginnt mit der Kolonisation der
Mandschurei, wie es vor Jahrhunderten mit der Besiedlung Sibiriens begann.
Der Unterschied ist uur der, daß sich der Vorgang etwas rascher abspielen wird
als zu Beginn der russischen Aneignungspolitik. Es sind sast genan dreihundert
Jahre verflossen, seit die Russen zum erstenmal mit dem chinesischen Reich in
Berührung kamen. Im Jahre 1604 wurde Tomsk gegründet, und bald darauf
brachten die von hier aus vordringenden Kosaken die Kunde von einem Nachbar¬
volke, deu Chinesen. Noch vor Ablauf des siebzehnten Jahrhunderts griffen
die Interessen beider Staaten so sehr ineinander, daß es nötig wurde, die
Grenzen festzulegen. Das geschah im Vertrage zu Nertschinsk im Jahre 1689.
Damit hatte das Vordringen des russischen Reichs am Amur vorläufig ein
Ende erreicht, China behauptete das Gebiet dieses Stromes. In den nächsten
150 Jahren sah Nußland seine Aufgabe nur in der Erforschung und der wirt¬
schaftlichen Erschließung des ungeheuern Gebiets vom Altai bis zum Eismeer
und vom Ural bis zum Stillen Ozean. Das Verhältnis zu China blieb im
wesentlichen unverändert. Dieser Zustand der Ruhe währte bis zur Ernennung
des Grafen Murawjew zum Generalgouvemeur von Ostsibirien im Jahre 1847.
Er nahm den Gedanken der Russen aus der Zeit vor 1689 wieder auf und
erwarb das Amurland im Vertrag zu Aigun 1853. Dieser Vertrag war nnr
der Beginn weiterer Forderungen Rußlands, das seit dem Tage von Nertschinsk
stark genug in Sibirien geworden war. jetzt den früher überlegnen Nachbar
zu immer neuen Zugeständnisse" zu zwingen, deren nächstes wohl die völlige
Preisgabe der Mandschurei sein wird. Erst durch die Besetzung der Mand¬
schurei hat Rußland die Grenze überschritten, die es bis 1689 gewonnen,
damals aber wieder eingebüßt hatte. Das gegenwärtige Vorgehn Rußlands
knüpft also unmittelbar an die durch den Vertrag zu Nertschinsk unterbrochne
Vorwärtsbewegung an, und aus diesem Grunde dürfte eine Betrachtung der
ersten Periode der russischen Politik in Asien und seiner ältesten Beziehungen
zu China von Interesse sein.

Unsichre Nachrichten über das Verhältnis des emporstrebenden moskowi¬
tischen Staates zu den Völkern jenseits des Urals reichen zurück ungefähr bis
1500. Beglaubigt erscheint aber erst, daß der Khan von Sibirien, Jcdiger,
im Jahre 1554 Tribut nach Moskau sandte. Dies macht dann auch die




Rußland und (Lhina bis zum vertrage von Nertschinsk
von Georg Henning

«SMMA ußland steht jetzt in der Mandschurei. Daß es diesen Besitz
wieder aufgeben wird, ist ausgeschlossen! wahrschein-
^' ^ sich Rußland auch mit dem bis jetzt Erworbnen
begnügt, und das; die Grenzen Russisch-Asiens nur vor-
lA-ÄW^M tausig gezogen sind. Rußland beginnt mit der Kolonisation der
Mandschurei, wie es vor Jahrhunderten mit der Besiedlung Sibiriens begann.
Der Unterschied ist uur der, daß sich der Vorgang etwas rascher abspielen wird
als zu Beginn der russischen Aneignungspolitik. Es sind sast genan dreihundert
Jahre verflossen, seit die Russen zum erstenmal mit dem chinesischen Reich in
Berührung kamen. Im Jahre 1604 wurde Tomsk gegründet, und bald darauf
brachten die von hier aus vordringenden Kosaken die Kunde von einem Nachbar¬
volke, deu Chinesen. Noch vor Ablauf des siebzehnten Jahrhunderts griffen
die Interessen beider Staaten so sehr ineinander, daß es nötig wurde, die
Grenzen festzulegen. Das geschah im Vertrage zu Nertschinsk im Jahre 1689.
Damit hatte das Vordringen des russischen Reichs am Amur vorläufig ein
Ende erreicht, China behauptete das Gebiet dieses Stromes. In den nächsten
150 Jahren sah Nußland seine Aufgabe nur in der Erforschung und der wirt¬
schaftlichen Erschließung des ungeheuern Gebiets vom Altai bis zum Eismeer
und vom Ural bis zum Stillen Ozean. Das Verhältnis zu China blieb im
wesentlichen unverändert. Dieser Zustand der Ruhe währte bis zur Ernennung
des Grafen Murawjew zum Generalgouvemeur von Ostsibirien im Jahre 1847.
Er nahm den Gedanken der Russen aus der Zeit vor 1689 wieder auf und
erwarb das Amurland im Vertrag zu Aigun 1853. Dieser Vertrag war nnr
der Beginn weiterer Forderungen Rußlands, das seit dem Tage von Nertschinsk
stark genug in Sibirien geworden war. jetzt den früher überlegnen Nachbar
zu immer neuen Zugeständnisse» zu zwingen, deren nächstes wohl die völlige
Preisgabe der Mandschurei sein wird. Erst durch die Besetzung der Mand¬
schurei hat Rußland die Grenze überschritten, die es bis 1689 gewonnen,
damals aber wieder eingebüßt hatte. Das gegenwärtige Vorgehn Rußlands
knüpft also unmittelbar an die durch den Vertrag zu Nertschinsk unterbrochne
Vorwärtsbewegung an, und aus diesem Grunde dürfte eine Betrachtung der
ersten Periode der russischen Politik in Asien und seiner ältesten Beziehungen
zu China von Interesse sein.

Unsichre Nachrichten über das Verhältnis des emporstrebenden moskowi¬
tischen Staates zu den Völkern jenseits des Urals reichen zurück ungefähr bis
1500. Beglaubigt erscheint aber erst, daß der Khan von Sibirien, Jcdiger,
im Jahre 1554 Tribut nach Moskau sandte. Dies macht dann auch die


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[0449] [Abbildung] Rußland und (Lhina bis zum vertrage von Nertschinsk von Georg Henning «SMMA ußland steht jetzt in der Mandschurei. Daß es diesen Besitz wieder aufgeben wird, ist ausgeschlossen! wahrschein- ^' ^ sich Rußland auch mit dem bis jetzt Erworbnen begnügt, und das; die Grenzen Russisch-Asiens nur vor- lA-ÄW^M tausig gezogen sind. Rußland beginnt mit der Kolonisation der Mandschurei, wie es vor Jahrhunderten mit der Besiedlung Sibiriens begann. Der Unterschied ist uur der, daß sich der Vorgang etwas rascher abspielen wird als zu Beginn der russischen Aneignungspolitik. Es sind sast genan dreihundert Jahre verflossen, seit die Russen zum erstenmal mit dem chinesischen Reich in Berührung kamen. Im Jahre 1604 wurde Tomsk gegründet, und bald darauf brachten die von hier aus vordringenden Kosaken die Kunde von einem Nachbar¬ volke, deu Chinesen. Noch vor Ablauf des siebzehnten Jahrhunderts griffen die Interessen beider Staaten so sehr ineinander, daß es nötig wurde, die Grenzen festzulegen. Das geschah im Vertrage zu Nertschinsk im Jahre 1689. Damit hatte das Vordringen des russischen Reichs am Amur vorläufig ein Ende erreicht, China behauptete das Gebiet dieses Stromes. In den nächsten 150 Jahren sah Nußland seine Aufgabe nur in der Erforschung und der wirt¬ schaftlichen Erschließung des ungeheuern Gebiets vom Altai bis zum Eismeer und vom Ural bis zum Stillen Ozean. Das Verhältnis zu China blieb im wesentlichen unverändert. Dieser Zustand der Ruhe währte bis zur Ernennung des Grafen Murawjew zum Generalgouvemeur von Ostsibirien im Jahre 1847. Er nahm den Gedanken der Russen aus der Zeit vor 1689 wieder auf und erwarb das Amurland im Vertrag zu Aigun 1853. Dieser Vertrag war nnr der Beginn weiterer Forderungen Rußlands, das seit dem Tage von Nertschinsk stark genug in Sibirien geworden war. jetzt den früher überlegnen Nachbar zu immer neuen Zugeständnisse» zu zwingen, deren nächstes wohl die völlige Preisgabe der Mandschurei sein wird. Erst durch die Besetzung der Mand¬ schurei hat Rußland die Grenze überschritten, die es bis 1689 gewonnen, damals aber wieder eingebüßt hatte. Das gegenwärtige Vorgehn Rußlands knüpft also unmittelbar an die durch den Vertrag zu Nertschinsk unterbrochne Vorwärtsbewegung an, und aus diesem Grunde dürfte eine Betrachtung der ersten Periode der russischen Politik in Asien und seiner ältesten Beziehungen zu China von Interesse sein. Unsichre Nachrichten über das Verhältnis des emporstrebenden moskowi¬ tischen Staates zu den Völkern jenseits des Urals reichen zurück ungefähr bis 1500. Beglaubigt erscheint aber erst, daß der Khan von Sibirien, Jcdiger, im Jahre 1554 Tribut nach Moskau sandte. Dies macht dann auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/449>, abgerufen am 22.07.2024.