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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Line neue französische jaustübersetzung

> uf den ersten Blick scheint es, als sei in Frankreich von jeher ein
starkes allgemeines Interesse für Goethes Faust vorhanden ge¬
wesen, und als sei es noch vorhciuden. Denn nicht weniger als
etwa fünfundzwanzigmal ist er seit dem Jahre 1823, da Stapfer
Idie Reihe eröffnete, ins Französische übersetzt worden. Es kommt
also im Durchschnitt auf jedes dritte Jahr ein neuer Versuch. Diese Mittler
Goethischen Geistes trugen zum Teil Namen vom besten Klänge; sie haben
sich auf die verschiedenste Weise, mit mehr oder weniger Beruf und Erfolg
bemüht, die größte deutsche Dichtung ihren Landsleuten zu eigen zu machen.
Und daneben fehlt es in Frankreich nicht an Schriften und Aufsätzen über
Goethes Faust und an Zeugnissen dafür, wie tief die Dichtung auf manchen
Franzosen gewirkt hat. In A. Serre haben unsre Nachbarn gar einen "Goetho-
mcmen," wie er auch in Deutschland selten ist; er hat sich ans Goethes Faust
eine eigne, absonderliche Weltanschauung herausdestilliert.

Aber die Zahl dieser einzelnen für den Faust begeisterten Franzosen darf
nicht täuschen. Wohl nur in der Zeit der französischen Romantik haben weitere
Kreise der Franzosen tiefern Anteil am Faust genommen, dessen Kenntnis
ihnen namentlich die Übersetzungen von Gerard de Nerval und Blaze de Bury
vermittelten. In unsern Tagen zumal ist das Interesse dafür recht matt
geworden; man findet das äußerlich dadurch bestätigt, daß es keine Über¬
setzung der letzten Jahrzehnte auf eine neue Auflage (von Ausgaben abgesehen)
gebracht hat. Die Bemühungen der Franzosen um Goethes Faust sind bei
uns in Deutschland meist aufmerksamer betrachtet, lebhafter begrüßt worden, als
in Frankreich selbst, und wir haben uns gewöhnt, mit Spannung zu beobachte",
ob wohl den Franzosen das schwierige Problem gelingen werde, das Gedicht
in ähnlicher Weise für ihre Literatur zu gewinnen, wie etwa Voß den Werken
Homers, Schlegel und Genossen den Dramen Shakespeares, Gildemeister den
Dichtungen Byrons bei uus Bürgerrecht verschafft haben. Die Frage, inwie¬
weit überhaupt über das Formelle hinaus die Goethische Dichtung dem roma¬
nischen Geiste vermählt werden könne, soll hier nicht erörtert werden.

Auf der französischen Bühne ist Goethes "gespenstiger Doktor" von
jeher nur in Vermummungen, zumeist gar in den bizarrsten Verzerrungen,
in ernsten und komischen Opern, Oratorien, Vaudevilles, Balletts, "phan¬
tastischen" und "metaphysischen" Dramen erschienen, nie aber anch nur
entfernt in der ihm vom Dichter gegebnen Gestalt. Und heute kennt der
größte Teil der gebildeten Franzosen ihn nur aus der Gouuodschen Oper,
aus Berlioz Dg-miiMoii as ?g.use, die man in der letzten Zeit in Frank¬
reich als den Gipfel aller dramatischen Musik zu preisen liebt, und
durch die Schefferschen und Tissotschen Bilder. Von einer auf tieferen Inder-




Line neue französische jaustübersetzung

> uf den ersten Blick scheint es, als sei in Frankreich von jeher ein
starkes allgemeines Interesse für Goethes Faust vorhanden ge¬
wesen, und als sei es noch vorhciuden. Denn nicht weniger als
etwa fünfundzwanzigmal ist er seit dem Jahre 1823, da Stapfer
Idie Reihe eröffnete, ins Französische übersetzt worden. Es kommt
also im Durchschnitt auf jedes dritte Jahr ein neuer Versuch. Diese Mittler
Goethischen Geistes trugen zum Teil Namen vom besten Klänge; sie haben
sich auf die verschiedenste Weise, mit mehr oder weniger Beruf und Erfolg
bemüht, die größte deutsche Dichtung ihren Landsleuten zu eigen zu machen.
Und daneben fehlt es in Frankreich nicht an Schriften und Aufsätzen über
Goethes Faust und an Zeugnissen dafür, wie tief die Dichtung auf manchen
Franzosen gewirkt hat. In A. Serre haben unsre Nachbarn gar einen „Goetho-
mcmen," wie er auch in Deutschland selten ist; er hat sich ans Goethes Faust
eine eigne, absonderliche Weltanschauung herausdestilliert.

Aber die Zahl dieser einzelnen für den Faust begeisterten Franzosen darf
nicht täuschen. Wohl nur in der Zeit der französischen Romantik haben weitere
Kreise der Franzosen tiefern Anteil am Faust genommen, dessen Kenntnis
ihnen namentlich die Übersetzungen von Gerard de Nerval und Blaze de Bury
vermittelten. In unsern Tagen zumal ist das Interesse dafür recht matt
geworden; man findet das äußerlich dadurch bestätigt, daß es keine Über¬
setzung der letzten Jahrzehnte auf eine neue Auflage (von Ausgaben abgesehen)
gebracht hat. Die Bemühungen der Franzosen um Goethes Faust sind bei
uns in Deutschland meist aufmerksamer betrachtet, lebhafter begrüßt worden, als
in Frankreich selbst, und wir haben uns gewöhnt, mit Spannung zu beobachte»,
ob wohl den Franzosen das schwierige Problem gelingen werde, das Gedicht
in ähnlicher Weise für ihre Literatur zu gewinnen, wie etwa Voß den Werken
Homers, Schlegel und Genossen den Dramen Shakespeares, Gildemeister den
Dichtungen Byrons bei uus Bürgerrecht verschafft haben. Die Frage, inwie¬
weit überhaupt über das Formelle hinaus die Goethische Dichtung dem roma¬
nischen Geiste vermählt werden könne, soll hier nicht erörtert werden.

Auf der französischen Bühne ist Goethes „gespenstiger Doktor" von
jeher nur in Vermummungen, zumeist gar in den bizarrsten Verzerrungen,
in ernsten und komischen Opern, Oratorien, Vaudevilles, Balletts, „phan¬
tastischen" und „metaphysischen" Dramen erschienen, nie aber anch nur
entfernt in der ihm vom Dichter gegebnen Gestalt. Und heute kennt der
größte Teil der gebildeten Franzosen ihn nur aus der Gouuodschen Oper,
aus Berlioz Dg-miiMoii as ?g.use, die man in der letzten Zeit in Frank¬
reich als den Gipfel aller dramatischen Musik zu preisen liebt, und
durch die Schefferschen und Tissotschen Bilder. Von einer auf tieferen Inder-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/363>, abgerufen am 23.07.2024.