Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus der Jugendzeit

Inzwischen nahte allmählich die Zeit der Prüfung heran. Daß ich besondre
Furcht davor gehabt hätte, kann ich nicht sagen. Im Lateinischen war ich völlig
sicher, im Griechischen mindestens nicht schlechter als irgend ein andrer Primaner,
im Deutschen galt ich bei Lehrern und Schülern als der Klasse voraus. In der
Mathematik war ich freilich schwächer, als Professor Schumann ahnte; aber in der
Klasse hatte ich doch so viel geleistet, wie die andern Primaner auch. Meine
Schwächen in der Geschichte und Geographie waren mir nicht verborgen; aber da
die Schule uns in diesen beiden Wissenschaften mit einer, wie mir schien, unerhörten,
fast demonstrativen Stiefmütterlichkeit behandelt hatte, so vermochte ich mir nicht
vorzustellen, daß man im Abiturientenexamen mehr verlangen werde, als man uns
gelehrt hatte. Das schriftliche Examen verlief denn auch ohne jede Schwierigkeit.
Ich schrieb damals den lateinischen Aufsatz mit nahezu gleicher Leichtigkeit und
Sicherheit wie eine deutsche Abhandlung. In der Mathematik begnügte ich mich,
von den gestellten vier Aufgaben drei zu lösen. Das genügte vollkommen. Das
mündliche Examen verlief viel harmloser, als wir zu hoffen gewagt hatten. Um zwei
Uhr wurden wir hinausgeschickt und nach fünf Minuten wieder hineingerufen, um
die Eröffnung zu vernehmen, daß wir das Examen bestanden hätten. Wir waren
vier Abiturienten! Wahlstab, ein gescheiter, aber in sich verschlossener Bauernsohn aus
der Magdeburger Borde. Er hat Medizin studiert und ist, obwohl körperlich ein
Hüne, früh gestorben. Sodann P., der Sohn eines Geistlichen, äußerlich und
innerlich einigermaßen verwöhnt. Er ist ein sehr angesehener und wohl situierter
Arzt geworden. Der dritte war Armin Brode, der Sohn eines ehrenwerten und
tüchtigen Rektors in dem Städtchen Ermsleben am Harz, ein blasser, mangelhaft
ernährter, aber solider Junge mit dem besten Herzen von der Welt, nicht übermäßig
begabt, aber einer von denen, die nach dem Maße ihrer Kraft immer ihre Schuldigkeit
tun. Wir waren ihm alle gut, und jeder rechnete ihn zu seinen besten Freunden.
Wahlstab und P. hatten sich von uns andern isoliert. Sie ließen sich auch am
Abend des Examenstages bei unserm sogenannten Abiturientenkvmmers nicht sehen.
Da Armin Brode zahlreiche unversorgte Geschwister hatte, so hatte ich die Kosten
dieses Kommersch, die übrigens mir in der Bezahlung von zwei Fäßchen Bier und
einigen zerbrochnen Gläsern bestanden, allein übernommen. Meine Eltern fanden
das ganz in der Ordnung. Freude habe ich an diesem Abiturientenkommerse wenig
gehabt. Als ich um acht Uhr in das Lokal trat, fand ich die meisten Primaner und
sekundärer schon im Stadium einer unnatürlich lauten Ausgelassenheit, wie wir
sie in den letzten beiden Jahren gar nicht mehr gekannt hatten. Einer meiner
nächsten Freunde vom Musenbnnde her sprach nur noch in Dithyramben, die sich
teils gegen die "Falle" (das Gymnasium), teils gegen die Lehrer, teils gegen die
Welt im allgemeinen wandten. Er umarmte mich stürmisch und dichterisch zugleich,
sodaß ich ihn, ohne weiter ein Wort zu sagen, unter den Arm nahm und nach
Hause führte. Damit war er much ganz einverstanden. Als ich wiederkam, war die
Hälfte der Eingeladnen verschwunden. Sie hatten gleichfalls gefühlt, daß es Zeit
für sie sei, sich schlafen zu legen. Wir andern saßen noch bis zehn Uhr zusammen
und plauderten; aber von rechter Freude oder gar Weihe war an jenem Abend
keine Rede mehr. Der Verlauf des Abends zeigte deutlich, wie wenig wir in den
letzten Jahren seit 1848 gekneipt oder gar kommersiert hatten. Primaner und
sekundärer konnten kaum noch ein oder zwei Glas Bier vertragen.

Viel netter war die Gastlichkeit, die uns mein Mitabitnrient Armin Brode
erwies. Er hatte im Auftrage seiner Eltern eine kleinere Zahl unsrer nähern
Freunde und mich eingeladen, am nächsten Sonnabend mit ihm much dem etwa
vier Stunden entfernten Ermsleben zu wandern und dort bei seinen Eltern Kaffee
zu trinken und einfach zu Abend zu essen. Das war eine fröhliche Wanderung,
und als wir mit dem Herrn Rektor, der Frau Rektorin und ihren Kindern bei
Kaffee und Kuchen um den großen Tisch herumsaßen, wurden dort unter der sehr
geschickten Leitung des Vnters'Brode ebenso nützliche wie fröhliche Gespräche geführt.


Aus der Jugendzeit

Inzwischen nahte allmählich die Zeit der Prüfung heran. Daß ich besondre
Furcht davor gehabt hätte, kann ich nicht sagen. Im Lateinischen war ich völlig
sicher, im Griechischen mindestens nicht schlechter als irgend ein andrer Primaner,
im Deutschen galt ich bei Lehrern und Schülern als der Klasse voraus. In der
Mathematik war ich freilich schwächer, als Professor Schumann ahnte; aber in der
Klasse hatte ich doch so viel geleistet, wie die andern Primaner auch. Meine
Schwächen in der Geschichte und Geographie waren mir nicht verborgen; aber da
die Schule uns in diesen beiden Wissenschaften mit einer, wie mir schien, unerhörten,
fast demonstrativen Stiefmütterlichkeit behandelt hatte, so vermochte ich mir nicht
vorzustellen, daß man im Abiturientenexamen mehr verlangen werde, als man uns
gelehrt hatte. Das schriftliche Examen verlief denn auch ohne jede Schwierigkeit.
Ich schrieb damals den lateinischen Aufsatz mit nahezu gleicher Leichtigkeit und
Sicherheit wie eine deutsche Abhandlung. In der Mathematik begnügte ich mich,
von den gestellten vier Aufgaben drei zu lösen. Das genügte vollkommen. Das
mündliche Examen verlief viel harmloser, als wir zu hoffen gewagt hatten. Um zwei
Uhr wurden wir hinausgeschickt und nach fünf Minuten wieder hineingerufen, um
die Eröffnung zu vernehmen, daß wir das Examen bestanden hätten. Wir waren
vier Abiturienten! Wahlstab, ein gescheiter, aber in sich verschlossener Bauernsohn aus
der Magdeburger Borde. Er hat Medizin studiert und ist, obwohl körperlich ein
Hüne, früh gestorben. Sodann P., der Sohn eines Geistlichen, äußerlich und
innerlich einigermaßen verwöhnt. Er ist ein sehr angesehener und wohl situierter
Arzt geworden. Der dritte war Armin Brode, der Sohn eines ehrenwerten und
tüchtigen Rektors in dem Städtchen Ermsleben am Harz, ein blasser, mangelhaft
ernährter, aber solider Junge mit dem besten Herzen von der Welt, nicht übermäßig
begabt, aber einer von denen, die nach dem Maße ihrer Kraft immer ihre Schuldigkeit
tun. Wir waren ihm alle gut, und jeder rechnete ihn zu seinen besten Freunden.
Wahlstab und P. hatten sich von uns andern isoliert. Sie ließen sich auch am
Abend des Examenstages bei unserm sogenannten Abiturientenkvmmers nicht sehen.
Da Armin Brode zahlreiche unversorgte Geschwister hatte, so hatte ich die Kosten
dieses Kommersch, die übrigens mir in der Bezahlung von zwei Fäßchen Bier und
einigen zerbrochnen Gläsern bestanden, allein übernommen. Meine Eltern fanden
das ganz in der Ordnung. Freude habe ich an diesem Abiturientenkommerse wenig
gehabt. Als ich um acht Uhr in das Lokal trat, fand ich die meisten Primaner und
sekundärer schon im Stadium einer unnatürlich lauten Ausgelassenheit, wie wir
sie in den letzten beiden Jahren gar nicht mehr gekannt hatten. Einer meiner
nächsten Freunde vom Musenbnnde her sprach nur noch in Dithyramben, die sich
teils gegen die „Falle" (das Gymnasium), teils gegen die Lehrer, teils gegen die
Welt im allgemeinen wandten. Er umarmte mich stürmisch und dichterisch zugleich,
sodaß ich ihn, ohne weiter ein Wort zu sagen, unter den Arm nahm und nach
Hause führte. Damit war er much ganz einverstanden. Als ich wiederkam, war die
Hälfte der Eingeladnen verschwunden. Sie hatten gleichfalls gefühlt, daß es Zeit
für sie sei, sich schlafen zu legen. Wir andern saßen noch bis zehn Uhr zusammen
und plauderten; aber von rechter Freude oder gar Weihe war an jenem Abend
keine Rede mehr. Der Verlauf des Abends zeigte deutlich, wie wenig wir in den
letzten Jahren seit 1848 gekneipt oder gar kommersiert hatten. Primaner und
sekundärer konnten kaum noch ein oder zwei Glas Bier vertragen.

Viel netter war die Gastlichkeit, die uns mein Mitabitnrient Armin Brode
erwies. Er hatte im Auftrage seiner Eltern eine kleinere Zahl unsrer nähern
Freunde und mich eingeladen, am nächsten Sonnabend mit ihm much dem etwa
vier Stunden entfernten Ermsleben zu wandern und dort bei seinen Eltern Kaffee
zu trinken und einfach zu Abend zu essen. Das war eine fröhliche Wanderung,
und als wir mit dem Herrn Rektor, der Frau Rektorin und ihren Kindern bei
Kaffee und Kuchen um den großen Tisch herumsaßen, wurden dort unter der sehr
geschickten Leitung des Vnters'Brode ebenso nützliche wie fröhliche Gespräche geführt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0802" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242874"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus der Jugendzeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2933"> Inzwischen nahte allmählich die Zeit der Prüfung heran. Daß ich besondre<lb/>
Furcht davor gehabt hätte, kann ich nicht sagen. Im Lateinischen war ich völlig<lb/>
sicher, im Griechischen mindestens nicht schlechter als irgend ein andrer Primaner,<lb/>
im Deutschen galt ich bei Lehrern und Schülern als der Klasse voraus. In der<lb/>
Mathematik war ich freilich schwächer, als Professor Schumann ahnte; aber in der<lb/>
Klasse hatte ich doch so viel geleistet, wie die andern Primaner auch. Meine<lb/>
Schwächen in der Geschichte und Geographie waren mir nicht verborgen; aber da<lb/>
die Schule uns in diesen beiden Wissenschaften mit einer, wie mir schien, unerhörten,<lb/>
fast demonstrativen Stiefmütterlichkeit behandelt hatte, so vermochte ich mir nicht<lb/>
vorzustellen, daß man im Abiturientenexamen mehr verlangen werde, als man uns<lb/>
gelehrt hatte. Das schriftliche Examen verlief denn auch ohne jede Schwierigkeit.<lb/>
Ich schrieb damals den lateinischen Aufsatz mit nahezu gleicher Leichtigkeit und<lb/>
Sicherheit wie eine deutsche Abhandlung. In der Mathematik begnügte ich mich,<lb/>
von den gestellten vier Aufgaben drei zu lösen. Das genügte vollkommen. Das<lb/>
mündliche Examen verlief viel harmloser, als wir zu hoffen gewagt hatten. Um zwei<lb/>
Uhr wurden wir hinausgeschickt und nach fünf Minuten wieder hineingerufen, um<lb/>
die Eröffnung zu vernehmen, daß wir das Examen bestanden hätten. Wir waren<lb/>
vier Abiturienten! Wahlstab, ein gescheiter, aber in sich verschlossener Bauernsohn aus<lb/>
der Magdeburger Borde. Er hat Medizin studiert und ist, obwohl körperlich ein<lb/>
Hüne, früh gestorben. Sodann P., der Sohn eines Geistlichen, äußerlich und<lb/>
innerlich einigermaßen verwöhnt. Er ist ein sehr angesehener und wohl situierter<lb/>
Arzt geworden. Der dritte war Armin Brode, der Sohn eines ehrenwerten und<lb/>
tüchtigen Rektors in dem Städtchen Ermsleben am Harz, ein blasser, mangelhaft<lb/>
ernährter, aber solider Junge mit dem besten Herzen von der Welt, nicht übermäßig<lb/>
begabt, aber einer von denen, die nach dem Maße ihrer Kraft immer ihre Schuldigkeit<lb/>
tun. Wir waren ihm alle gut, und jeder rechnete ihn zu seinen besten Freunden.<lb/>
Wahlstab und P. hatten sich von uns andern isoliert. Sie ließen sich auch am<lb/>
Abend des Examenstages bei unserm sogenannten Abiturientenkvmmers nicht sehen.<lb/>
Da Armin Brode zahlreiche unversorgte Geschwister hatte, so hatte ich die Kosten<lb/>
dieses Kommersch, die übrigens mir in der Bezahlung von zwei Fäßchen Bier und<lb/>
einigen zerbrochnen Gläsern bestanden, allein übernommen. Meine Eltern fanden<lb/>
das ganz in der Ordnung. Freude habe ich an diesem Abiturientenkommerse wenig<lb/>
gehabt. Als ich um acht Uhr in das Lokal trat, fand ich die meisten Primaner und<lb/>
sekundärer schon im Stadium einer unnatürlich lauten Ausgelassenheit, wie wir<lb/>
sie in den letzten beiden Jahren gar nicht mehr gekannt hatten. Einer meiner<lb/>
nächsten Freunde vom Musenbnnde her sprach nur noch in Dithyramben, die sich<lb/>
teils gegen die &#x201E;Falle" (das Gymnasium), teils gegen die Lehrer, teils gegen die<lb/>
Welt im allgemeinen wandten. Er umarmte mich stürmisch und dichterisch zugleich,<lb/>
sodaß ich ihn, ohne weiter ein Wort zu sagen, unter den Arm nahm und nach<lb/>
Hause führte. Damit war er much ganz einverstanden. Als ich wiederkam, war die<lb/>
Hälfte der Eingeladnen verschwunden. Sie hatten gleichfalls gefühlt, daß es Zeit<lb/>
für sie sei, sich schlafen zu legen. Wir andern saßen noch bis zehn Uhr zusammen<lb/>
und plauderten; aber von rechter Freude oder gar Weihe war an jenem Abend<lb/>
keine Rede mehr. Der Verlauf des Abends zeigte deutlich, wie wenig wir in den<lb/>
letzten Jahren seit 1848 gekneipt oder gar kommersiert hatten. Primaner und<lb/>
sekundärer konnten kaum noch ein oder zwei Glas Bier vertragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2934" next="#ID_2935"> Viel netter war die Gastlichkeit, die uns mein Mitabitnrient Armin Brode<lb/>
erwies. Er hatte im Auftrage seiner Eltern eine kleinere Zahl unsrer nähern<lb/>
Freunde und mich eingeladen, am nächsten Sonnabend mit ihm much dem etwa<lb/>
vier Stunden entfernten Ermsleben zu wandern und dort bei seinen Eltern Kaffee<lb/>
zu trinken und einfach zu Abend zu essen. Das war eine fröhliche Wanderung,<lb/>
und als wir mit dem Herrn Rektor, der Frau Rektorin und ihren Kindern bei<lb/>
Kaffee und Kuchen um den großen Tisch herumsaßen, wurden dort unter der sehr<lb/>
geschickten Leitung des Vnters'Brode ebenso nützliche wie fröhliche Gespräche geführt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0802] Aus der Jugendzeit Inzwischen nahte allmählich die Zeit der Prüfung heran. Daß ich besondre Furcht davor gehabt hätte, kann ich nicht sagen. Im Lateinischen war ich völlig sicher, im Griechischen mindestens nicht schlechter als irgend ein andrer Primaner, im Deutschen galt ich bei Lehrern und Schülern als der Klasse voraus. In der Mathematik war ich freilich schwächer, als Professor Schumann ahnte; aber in der Klasse hatte ich doch so viel geleistet, wie die andern Primaner auch. Meine Schwächen in der Geschichte und Geographie waren mir nicht verborgen; aber da die Schule uns in diesen beiden Wissenschaften mit einer, wie mir schien, unerhörten, fast demonstrativen Stiefmütterlichkeit behandelt hatte, so vermochte ich mir nicht vorzustellen, daß man im Abiturientenexamen mehr verlangen werde, als man uns gelehrt hatte. Das schriftliche Examen verlief denn auch ohne jede Schwierigkeit. Ich schrieb damals den lateinischen Aufsatz mit nahezu gleicher Leichtigkeit und Sicherheit wie eine deutsche Abhandlung. In der Mathematik begnügte ich mich, von den gestellten vier Aufgaben drei zu lösen. Das genügte vollkommen. Das mündliche Examen verlief viel harmloser, als wir zu hoffen gewagt hatten. Um zwei Uhr wurden wir hinausgeschickt und nach fünf Minuten wieder hineingerufen, um die Eröffnung zu vernehmen, daß wir das Examen bestanden hätten. Wir waren vier Abiturienten! Wahlstab, ein gescheiter, aber in sich verschlossener Bauernsohn aus der Magdeburger Borde. Er hat Medizin studiert und ist, obwohl körperlich ein Hüne, früh gestorben. Sodann P., der Sohn eines Geistlichen, äußerlich und innerlich einigermaßen verwöhnt. Er ist ein sehr angesehener und wohl situierter Arzt geworden. Der dritte war Armin Brode, der Sohn eines ehrenwerten und tüchtigen Rektors in dem Städtchen Ermsleben am Harz, ein blasser, mangelhaft ernährter, aber solider Junge mit dem besten Herzen von der Welt, nicht übermäßig begabt, aber einer von denen, die nach dem Maße ihrer Kraft immer ihre Schuldigkeit tun. Wir waren ihm alle gut, und jeder rechnete ihn zu seinen besten Freunden. Wahlstab und P. hatten sich von uns andern isoliert. Sie ließen sich auch am Abend des Examenstages bei unserm sogenannten Abiturientenkvmmers nicht sehen. Da Armin Brode zahlreiche unversorgte Geschwister hatte, so hatte ich die Kosten dieses Kommersch, die übrigens mir in der Bezahlung von zwei Fäßchen Bier und einigen zerbrochnen Gläsern bestanden, allein übernommen. Meine Eltern fanden das ganz in der Ordnung. Freude habe ich an diesem Abiturientenkommerse wenig gehabt. Als ich um acht Uhr in das Lokal trat, fand ich die meisten Primaner und sekundärer schon im Stadium einer unnatürlich lauten Ausgelassenheit, wie wir sie in den letzten beiden Jahren gar nicht mehr gekannt hatten. Einer meiner nächsten Freunde vom Musenbnnde her sprach nur noch in Dithyramben, die sich teils gegen die „Falle" (das Gymnasium), teils gegen die Lehrer, teils gegen die Welt im allgemeinen wandten. Er umarmte mich stürmisch und dichterisch zugleich, sodaß ich ihn, ohne weiter ein Wort zu sagen, unter den Arm nahm und nach Hause führte. Damit war er much ganz einverstanden. Als ich wiederkam, war die Hälfte der Eingeladnen verschwunden. Sie hatten gleichfalls gefühlt, daß es Zeit für sie sei, sich schlafen zu legen. Wir andern saßen noch bis zehn Uhr zusammen und plauderten; aber von rechter Freude oder gar Weihe war an jenem Abend keine Rede mehr. Der Verlauf des Abends zeigte deutlich, wie wenig wir in den letzten Jahren seit 1848 gekneipt oder gar kommersiert hatten. Primaner und sekundärer konnten kaum noch ein oder zwei Glas Bier vertragen. Viel netter war die Gastlichkeit, die uns mein Mitabitnrient Armin Brode erwies. Er hatte im Auftrage seiner Eltern eine kleinere Zahl unsrer nähern Freunde und mich eingeladen, am nächsten Sonnabend mit ihm much dem etwa vier Stunden entfernten Ermsleben zu wandern und dort bei seinen Eltern Kaffee zu trinken und einfach zu Abend zu essen. Das war eine fröhliche Wanderung, und als wir mit dem Herrn Rektor, der Frau Rektorin und ihren Kindern bei Kaffee und Kuchen um den großen Tisch herumsaßen, wurden dort unter der sehr geschickten Leitung des Vnters'Brode ebenso nützliche wie fröhliche Gespräche geführt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/802
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/802>, abgerufen am 22.07.2024.