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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Blattes ist ein genialer Militärmnler, Eduard Thö"y, dessen Stift eigensinnig
der Natur so nahe bleibt, daß man viele seiner Gebilde nur wenig entstellte
Typen nennen und sich der ans ihnen immer noch hervorleuchtenden Tüchtigkeit
unsers Heeres manchmal freuen kaun. Fällt allerdings der Blick auf die uuter
dem Bilde stehenden zynischen, dummen oder rohen Bemerkungen, die den dar¬
gestellten oft prächtigen Soldntentypen in den Mund gelegt werden, so ists mit
der Freude vorbei. Ein andrer Mitarbeiter, Wilhelm Schulz, trifft mit Stift und
Wort manchmal glücklich den Ton des Volkslieds. Auch sonst geht lyrische Form¬
und Gednukenschönheit bisweilen im Sumpfe verloren. Denn Sumpf ist der Rest.
Ein Mitarbeiter gibt mit Geist und großer künstlerischer Kraft den fremdartig
widerlichen, oft körperlichen Ekel erregenden Gestalten seiner semitischen Phantasie
Form und Stimme zu einer feindseligen Kritik unsers Kaisers, unsrer Staatsein¬
richtungen und gesellschaftlichen Zustände. Lebte Heinrich Heine heute, und wäre
aus ihm ein Maler geworden, er müßte zeichnen wie sein Namensvetter Thomas
Theodor. Eine andre Stütze des Simplicissimus, Ferdinand Freiherr von Reznicek,
ist unübertrefflich in der Darstellung des Matschakerls, des Münchner Gegenstücks
zur Pariser Grisette. Dazu kommt ein Inseratenteil, der größtenteils auf die
Bedürfnisse verkommuer Lebemänner berechnet ist und mit seinen Verheißungen den
Text und die Bilder des Blattes ergänzt. Welcher Mensch von gutem Willen und
gutem Geschmack hat je mit innerm Gewinn Blätter wie die "Jugend" und den
"Simplicissimus" durchgesehen? Was haben die beiden Blätter dem Volke, in
dessen Sprache sie erscheinen, genützt? Ihre Saat geht in dein ausschweifenden
Treiben des Münchner Karnevals und in der erschreckenden Frühreife und Ver¬
kommenheit der Jugend auf. Was in den Grenzboten im vorigen Jahre über die
Bierzeitungen der Gymnasiasten berichtet wurde, ist nur zu wahr. Eine widerliche
Probe genügt, jeden optimistischen Zweifel zu beseitigen: die Kneipzeituug einer
im Jahre 1902 ausgehöhlten Münchner Gymuasiasteuverbinduug definierte die Liebe
beim weiblichen Geschlecht als ein Herzgeschwür, das durch einen physiologischen
Akt geöffnet werden müsse! -- Wie haben diese Jünglinge verlernt, errötend den
Spuren ihrer Liebe zu folge"! Was ist in ihrem Gefühlsleben noch deutsch? Ihre
Lehrmeister, denen sie an Zynismus überlegen sind, waren die Blätter, die sie
Mutter und Schwester verachten lehrte", die an der Zerrüttung germanischer Kraft
arbeiten, als stünden sie im Solde des Auslands.

Das enthusiastische Lob, das Ausländer dem "Simplicissimus" spenden (in
Nummer 5 des 6. Jahrgangs des "Simplicissimus"), bestärkt mich in diesem Urteil.
Kann man begeisterter loben als Björnstjerne Björnson: "Wir, die wir die größte
Gefahr unserer Zeit hassen und fürchten, die Servilitnt und Heuchelei unter dem Schutze
des Militarismus und des Bureaukratentums und über dem ganzen die segnenden
Hände des Klerikalismus -- wir lieben den kleinen, tapfern Soldaten, der so
munter für eine freiere und glücklichere Menschheit kämpft, wir bewundern seinen
Mut und sein Talent" --? Kann man leichtgläubiger Übertreibung für Wahr¬
heit nehmen als Leo Tolstoi, der zu den vielen Verdiensten des Simplicissimus
"das große" zählt, "daß er nicht lügt," und in diesem Witzblatte "die wichtigste
und kostbarste Quelle" für die Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts sieht,
"welche dem Historiker des 22. oder 23. Jahrhunderts ermöglicht, nicht nur den
Zustand der heutigen Gesellschaft kennen zu lernen, sondern auch die Glaubwürdigkeit
aller übrigen Quellen zu prüfen" --? Und kann man mit behaglicher"? Schmunzeln
anerkennen, daß ein Blatt im jungen, waffeumächtigeu Nachbarreiche eifrig bemüht
ist, sein eignes Vaterland zu schwache", als der wohl nicht nnr französisch sprechende,
sondern auch französisch denkende Belgier Constantin Meunier, wenn er dem Ver¬
leger des Simplicissimus schreibt: ". . . ich bedaure lebhaft, daß meine Unkenntnis
der deutschen Sprache mir nicht gestattet den Text zu lesen -- aber ich werde mir
denselben übersetzen lassen. Aber Ihre Zeichnungen siud wunderbar; bei einen? Ihrer
Künstler besonders glaube ich Steinlen's Art zu erkennen. Und dann wieviel Charakter
in jenen anderen düsteren, unheimlichen Zeichnungen! Ich ahne furchtbare Satire


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Blattes ist ein genialer Militärmnler, Eduard Thö»y, dessen Stift eigensinnig
der Natur so nahe bleibt, daß man viele seiner Gebilde nur wenig entstellte
Typen nennen und sich der ans ihnen immer noch hervorleuchtenden Tüchtigkeit
unsers Heeres manchmal freuen kaun. Fällt allerdings der Blick auf die uuter
dem Bilde stehenden zynischen, dummen oder rohen Bemerkungen, die den dar¬
gestellten oft prächtigen Soldntentypen in den Mund gelegt werden, so ists mit
der Freude vorbei. Ein andrer Mitarbeiter, Wilhelm Schulz, trifft mit Stift und
Wort manchmal glücklich den Ton des Volkslieds. Auch sonst geht lyrische Form¬
und Gednukenschönheit bisweilen im Sumpfe verloren. Denn Sumpf ist der Rest.
Ein Mitarbeiter gibt mit Geist und großer künstlerischer Kraft den fremdartig
widerlichen, oft körperlichen Ekel erregenden Gestalten seiner semitischen Phantasie
Form und Stimme zu einer feindseligen Kritik unsers Kaisers, unsrer Staatsein¬
richtungen und gesellschaftlichen Zustände. Lebte Heinrich Heine heute, und wäre
aus ihm ein Maler geworden, er müßte zeichnen wie sein Namensvetter Thomas
Theodor. Eine andre Stütze des Simplicissimus, Ferdinand Freiherr von Reznicek,
ist unübertrefflich in der Darstellung des Matschakerls, des Münchner Gegenstücks
zur Pariser Grisette. Dazu kommt ein Inseratenteil, der größtenteils auf die
Bedürfnisse verkommuer Lebemänner berechnet ist und mit seinen Verheißungen den
Text und die Bilder des Blattes ergänzt. Welcher Mensch von gutem Willen und
gutem Geschmack hat je mit innerm Gewinn Blätter wie die „Jugend" und den
„Simplicissimus" durchgesehen? Was haben die beiden Blätter dem Volke, in
dessen Sprache sie erscheinen, genützt? Ihre Saat geht in dein ausschweifenden
Treiben des Münchner Karnevals und in der erschreckenden Frühreife und Ver¬
kommenheit der Jugend auf. Was in den Grenzboten im vorigen Jahre über die
Bierzeitungen der Gymnasiasten berichtet wurde, ist nur zu wahr. Eine widerliche
Probe genügt, jeden optimistischen Zweifel zu beseitigen: die Kneipzeituug einer
im Jahre 1902 ausgehöhlten Münchner Gymuasiasteuverbinduug definierte die Liebe
beim weiblichen Geschlecht als ein Herzgeschwür, das durch einen physiologischen
Akt geöffnet werden müsse! — Wie haben diese Jünglinge verlernt, errötend den
Spuren ihrer Liebe zu folge»! Was ist in ihrem Gefühlsleben noch deutsch? Ihre
Lehrmeister, denen sie an Zynismus überlegen sind, waren die Blätter, die sie
Mutter und Schwester verachten lehrte», die an der Zerrüttung germanischer Kraft
arbeiten, als stünden sie im Solde des Auslands.

Das enthusiastische Lob, das Ausländer dem „Simplicissimus" spenden (in
Nummer 5 des 6. Jahrgangs des „Simplicissimus"), bestärkt mich in diesem Urteil.
Kann man begeisterter loben als Björnstjerne Björnson: „Wir, die wir die größte
Gefahr unserer Zeit hassen und fürchten, die Servilitnt und Heuchelei unter dem Schutze
des Militarismus und des Bureaukratentums und über dem ganzen die segnenden
Hände des Klerikalismus — wir lieben den kleinen, tapfern Soldaten, der so
munter für eine freiere und glücklichere Menschheit kämpft, wir bewundern seinen
Mut und sein Talent" —? Kann man leichtgläubiger Übertreibung für Wahr¬
heit nehmen als Leo Tolstoi, der zu den vielen Verdiensten des Simplicissimus
„das große" zählt, „daß er nicht lügt," und in diesem Witzblatte „die wichtigste
und kostbarste Quelle" für die Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts sieht,
„welche dem Historiker des 22. oder 23. Jahrhunderts ermöglicht, nicht nur den
Zustand der heutigen Gesellschaft kennen zu lernen, sondern auch die Glaubwürdigkeit
aller übrigen Quellen zu prüfen" —? Und kann man mit behaglicher»? Schmunzeln
anerkennen, daß ein Blatt im jungen, waffeumächtigeu Nachbarreiche eifrig bemüht
ist, sein eignes Vaterland zu schwache», als der wohl nicht nnr französisch sprechende,
sondern auch französisch denkende Belgier Constantin Meunier, wenn er dem Ver¬
leger des Simplicissimus schreibt: „. . . ich bedaure lebhaft, daß meine Unkenntnis
der deutschen Sprache mir nicht gestattet den Text zu lesen — aber ich werde mir
denselben übersetzen lassen. Aber Ihre Zeichnungen siud wunderbar; bei einen? Ihrer
Künstler besonders glaube ich Steinlen's Art zu erkennen. Und dann wieviel Charakter
in jenen anderen düsteren, unheimlichen Zeichnungen! Ich ahne furchtbare Satire


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[0070] Maßgebliches und Unmaßgebliches Blattes ist ein genialer Militärmnler, Eduard Thö»y, dessen Stift eigensinnig der Natur so nahe bleibt, daß man viele seiner Gebilde nur wenig entstellte Typen nennen und sich der ans ihnen immer noch hervorleuchtenden Tüchtigkeit unsers Heeres manchmal freuen kaun. Fällt allerdings der Blick auf die uuter dem Bilde stehenden zynischen, dummen oder rohen Bemerkungen, die den dar¬ gestellten oft prächtigen Soldntentypen in den Mund gelegt werden, so ists mit der Freude vorbei. Ein andrer Mitarbeiter, Wilhelm Schulz, trifft mit Stift und Wort manchmal glücklich den Ton des Volkslieds. Auch sonst geht lyrische Form¬ und Gednukenschönheit bisweilen im Sumpfe verloren. Denn Sumpf ist der Rest. Ein Mitarbeiter gibt mit Geist und großer künstlerischer Kraft den fremdartig widerlichen, oft körperlichen Ekel erregenden Gestalten seiner semitischen Phantasie Form und Stimme zu einer feindseligen Kritik unsers Kaisers, unsrer Staatsein¬ richtungen und gesellschaftlichen Zustände. Lebte Heinrich Heine heute, und wäre aus ihm ein Maler geworden, er müßte zeichnen wie sein Namensvetter Thomas Theodor. Eine andre Stütze des Simplicissimus, Ferdinand Freiherr von Reznicek, ist unübertrefflich in der Darstellung des Matschakerls, des Münchner Gegenstücks zur Pariser Grisette. Dazu kommt ein Inseratenteil, der größtenteils auf die Bedürfnisse verkommuer Lebemänner berechnet ist und mit seinen Verheißungen den Text und die Bilder des Blattes ergänzt. Welcher Mensch von gutem Willen und gutem Geschmack hat je mit innerm Gewinn Blätter wie die „Jugend" und den „Simplicissimus" durchgesehen? Was haben die beiden Blätter dem Volke, in dessen Sprache sie erscheinen, genützt? Ihre Saat geht in dein ausschweifenden Treiben des Münchner Karnevals und in der erschreckenden Frühreife und Ver¬ kommenheit der Jugend auf. Was in den Grenzboten im vorigen Jahre über die Bierzeitungen der Gymnasiasten berichtet wurde, ist nur zu wahr. Eine widerliche Probe genügt, jeden optimistischen Zweifel zu beseitigen: die Kneipzeituug einer im Jahre 1902 ausgehöhlten Münchner Gymuasiasteuverbinduug definierte die Liebe beim weiblichen Geschlecht als ein Herzgeschwür, das durch einen physiologischen Akt geöffnet werden müsse! — Wie haben diese Jünglinge verlernt, errötend den Spuren ihrer Liebe zu folge»! Was ist in ihrem Gefühlsleben noch deutsch? Ihre Lehrmeister, denen sie an Zynismus überlegen sind, waren die Blätter, die sie Mutter und Schwester verachten lehrte», die an der Zerrüttung germanischer Kraft arbeiten, als stünden sie im Solde des Auslands. Das enthusiastische Lob, das Ausländer dem „Simplicissimus" spenden (in Nummer 5 des 6. Jahrgangs des „Simplicissimus"), bestärkt mich in diesem Urteil. Kann man begeisterter loben als Björnstjerne Björnson: „Wir, die wir die größte Gefahr unserer Zeit hassen und fürchten, die Servilitnt und Heuchelei unter dem Schutze des Militarismus und des Bureaukratentums und über dem ganzen die segnenden Hände des Klerikalismus — wir lieben den kleinen, tapfern Soldaten, der so munter für eine freiere und glücklichere Menschheit kämpft, wir bewundern seinen Mut und sein Talent" —? Kann man leichtgläubiger Übertreibung für Wahr¬ heit nehmen als Leo Tolstoi, der zu den vielen Verdiensten des Simplicissimus „das große" zählt, „daß er nicht lügt," und in diesem Witzblatte „die wichtigste und kostbarste Quelle" für die Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts sieht, „welche dem Historiker des 22. oder 23. Jahrhunderts ermöglicht, nicht nur den Zustand der heutigen Gesellschaft kennen zu lernen, sondern auch die Glaubwürdigkeit aller übrigen Quellen zu prüfen" —? Und kann man mit behaglicher»? Schmunzeln anerkennen, daß ein Blatt im jungen, waffeumächtigeu Nachbarreiche eifrig bemüht ist, sein eignes Vaterland zu schwache», als der wohl nicht nnr französisch sprechende, sondern auch französisch denkende Belgier Constantin Meunier, wenn er dem Ver¬ leger des Simplicissimus schreibt: „. . . ich bedaure lebhaft, daß meine Unkenntnis der deutschen Sprache mir nicht gestattet den Text zu lesen — aber ich werde mir denselben übersetzen lassen. Aber Ihre Zeichnungen siud wunderbar; bei einen? Ihrer Künstler besonders glaube ich Steinlen's Art zu erkennen. Und dann wieviel Charakter in jenen anderen düsteren, unheimlichen Zeichnungen! Ich ahne furchtbare Satire

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/70>, abgerufen am 03.07.2024.