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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Heuer die von ihm gerügten Schaden, die er in sächsischen Städten kaum gleich
stark entwickelt gefunden haben dürfte, nicht schwinden sondern wachsen.

Ich lasse hier meine leider ganz mühelos gemachten Beobachtungen folgen,
die eine dringende Mahnung zum Einschreiten enthalten.

Ein großer Teil der Milchläden Münchens zeigt sich in anheimelnden Schmuck.
Im Schaufenster steht vor einem Efeustock meist eine bunt getönte plastische Gruppe:
eine Sennerin im Stallanzug und eine Kuh. Ein Körbchen mit Semmeln und
ein brauner Napfkuchen, ein Gugelhopf, vervollständigen das freundliche Bild. Leider
wird seine Anmut sehr oft durch einen seltsamen Rahmen entstellt. In vielen
dieser Milchlädeu sind an den Ranken des Efeustocks oder an der Scheibe der
Auslage die neusten Nummern illustrierter Witzblätter befestigt. Was an Wochen¬
schriften mit pikantem Inhalt in Deutschland erscheint, ist hier zu finden. Meist
sind es Frauen, die diese Milchlädcn innehaben. Genügt ihnen mich der bescheidne
Gewinn aus ihrem Kleinhandel zum eignen Auskommen oder auch zum Ernährer
einer kleinen Familie, so ist ihnen doch der mühelose Verdienst, den der Vertrieb
der Witzblätter gewährt, sehr willkommen. So finde" in ihnen die Verleger und
Kolportenre dieser Wochenschriften willige Organe zur Verbreitung ihres literarischen
Giftes, deren Urteilskraft zu gering ist, als daß sie ihr Gewissen wecken könnte.

Der Milchladen ist ein Sammelpunkt der weiblichen Dienstboten und im Hans-
Halte helfenden Familienglieder der Nachbarschaft; die Milch wird von Mävchen,
die noch nicht oder erst seit kurzem der Schule entwachsen sind, aufgetragen; nicht
selten verwendet die Inhaberin des Geschäfts auch ihre eignen Kinder als leicht¬
füßige Helfer; bisweilen trinkt ein bleicher Gymnasiast an der Quelle ein Glas
frischer Milch: so rinnt aus diesen Läden neben dem reinsten, mildesten Nahrungs¬
stoff, den die Natur spendet, ein trüber Giftstrom durch hundert Adern ins Volk.

Außer diesen Milchläden und den gleich ihnen mit einer Menge kleiner Haus¬
haltungen in regem Verkehr stehenden Kolvnialwarenhandlungen wird kein Geschäft
mehr von dem Schiilervölkchen besucht als der Buchbinderladen. Diese Geschäfte
liegen meist in der Nähe der Schulhäuser, der Stätten, wo ihre Waren am
stärksten verbraucht werden. Trotzdem prangen auch sie im bunten Schmucke des
Witzblättergifts! Meist sind ihre Türen damit umrahmt, einmal sah ich einen
Schulranzen mit dem "Simplicissimus" und der "Auster," dem neusten Witzblatte
dieser Richtung, besteckt. Ansichtskarten aller Art, bis herab zu den Lichtdruckbildern
von Halbweltschönheiten und Tiugeltangclszenen, sind in überreicher Fülle im
Schaufenster ausgebreitet. So genießen Schüler und Schülerinnen in Läden, wo
sie vom sechsten bis zum achtzehnten Jahre ihre Schreibmaterialien holen, den aller-
verderblichsten Anschauungsunterricht.

Was in diesen Läden an Witzblättern feilgeboten wird, steht künstlerisch und
literarisch nicht gleich hoch und moralisch nicht gleich tief. Aber in ihrer zer¬
störenden Wirkung sind diese Zeitschriften einander gleich. Schade, daß Blätter
wie die "Jugend" und der "Simplicissimus" mit kunst- und geistlosen Schund,
wie dem "Satyr" und den "Grazien," ans dem Milchladen in die Hände von
kleinen Leuten und jungen Menschen gelangen, wo sie infolge ihres nur für geistig
und ästhetisch Mündige ungefährlichen Moulinrongetons ebenso zerstörend wirken,
wie ihre schmutzigen Ladengenossen. Was sie an Satire bringen, wirkt in den Kreisen,
wohin sie vom Milchladen aus dringen, nicht als Satire, sondern als Äpfel vom
Baume der Erkenntnis, als den Nachahmungstrieb und die Neugier weckende Kunde
von Verirrungen und Fehlern, die -- in Bild und Wort meist weit über dem
Leser stehenden Gesellschaftsschichten und Altersklassen beigemessen -- als Vorbild,
nicht als Warnung dienen, im besten Falle Ideale zertrümmern. So weit der
Abstand ist, der die "Jugend" und den "Simplicissimus" in künstlerischer und
literarischer Beziehung von den neben ihnen feilgebotnen Witzblättern trennt, so
groß sind die Wertunterschiede, die sich in ihrem eignen Inhalt finden. Aber das
Schlechte überwiegt. Was einige Mitarbeiter an Geist und Schönheit hineintragen,
verbleicht und verzischt in einer trüben, schalen Flut.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Heuer die von ihm gerügten Schaden, die er in sächsischen Städten kaum gleich
stark entwickelt gefunden haben dürfte, nicht schwinden sondern wachsen.

Ich lasse hier meine leider ganz mühelos gemachten Beobachtungen folgen,
die eine dringende Mahnung zum Einschreiten enthalten.

Ein großer Teil der Milchläden Münchens zeigt sich in anheimelnden Schmuck.
Im Schaufenster steht vor einem Efeustock meist eine bunt getönte plastische Gruppe:
eine Sennerin im Stallanzug und eine Kuh. Ein Körbchen mit Semmeln und
ein brauner Napfkuchen, ein Gugelhopf, vervollständigen das freundliche Bild. Leider
wird seine Anmut sehr oft durch einen seltsamen Rahmen entstellt. In vielen
dieser Milchlädeu sind an den Ranken des Efeustocks oder an der Scheibe der
Auslage die neusten Nummern illustrierter Witzblätter befestigt. Was an Wochen¬
schriften mit pikantem Inhalt in Deutschland erscheint, ist hier zu finden. Meist
sind es Frauen, die diese Milchlädcn innehaben. Genügt ihnen mich der bescheidne
Gewinn aus ihrem Kleinhandel zum eignen Auskommen oder auch zum Ernährer
einer kleinen Familie, so ist ihnen doch der mühelose Verdienst, den der Vertrieb
der Witzblätter gewährt, sehr willkommen. So finde» in ihnen die Verleger und
Kolportenre dieser Wochenschriften willige Organe zur Verbreitung ihres literarischen
Giftes, deren Urteilskraft zu gering ist, als daß sie ihr Gewissen wecken könnte.

Der Milchladen ist ein Sammelpunkt der weiblichen Dienstboten und im Hans-
Halte helfenden Familienglieder der Nachbarschaft; die Milch wird von Mävchen,
die noch nicht oder erst seit kurzem der Schule entwachsen sind, aufgetragen; nicht
selten verwendet die Inhaberin des Geschäfts auch ihre eignen Kinder als leicht¬
füßige Helfer; bisweilen trinkt ein bleicher Gymnasiast an der Quelle ein Glas
frischer Milch: so rinnt aus diesen Läden neben dem reinsten, mildesten Nahrungs¬
stoff, den die Natur spendet, ein trüber Giftstrom durch hundert Adern ins Volk.

Außer diesen Milchläden und den gleich ihnen mit einer Menge kleiner Haus¬
haltungen in regem Verkehr stehenden Kolvnialwarenhandlungen wird kein Geschäft
mehr von dem Schiilervölkchen besucht als der Buchbinderladen. Diese Geschäfte
liegen meist in der Nähe der Schulhäuser, der Stätten, wo ihre Waren am
stärksten verbraucht werden. Trotzdem prangen auch sie im bunten Schmucke des
Witzblättergifts! Meist sind ihre Türen damit umrahmt, einmal sah ich einen
Schulranzen mit dem „Simplicissimus" und der „Auster," dem neusten Witzblatte
dieser Richtung, besteckt. Ansichtskarten aller Art, bis herab zu den Lichtdruckbildern
von Halbweltschönheiten und Tiugeltangclszenen, sind in überreicher Fülle im
Schaufenster ausgebreitet. So genießen Schüler und Schülerinnen in Läden, wo
sie vom sechsten bis zum achtzehnten Jahre ihre Schreibmaterialien holen, den aller-
verderblichsten Anschauungsunterricht.

Was in diesen Läden an Witzblättern feilgeboten wird, steht künstlerisch und
literarisch nicht gleich hoch und moralisch nicht gleich tief. Aber in ihrer zer¬
störenden Wirkung sind diese Zeitschriften einander gleich. Schade, daß Blätter
wie die „Jugend" und der „Simplicissimus" mit kunst- und geistlosen Schund,
wie dem „Satyr" und den „Grazien," ans dem Milchladen in die Hände von
kleinen Leuten und jungen Menschen gelangen, wo sie infolge ihres nur für geistig
und ästhetisch Mündige ungefährlichen Moulinrongetons ebenso zerstörend wirken,
wie ihre schmutzigen Ladengenossen. Was sie an Satire bringen, wirkt in den Kreisen,
wohin sie vom Milchladen aus dringen, nicht als Satire, sondern als Äpfel vom
Baume der Erkenntnis, als den Nachahmungstrieb und die Neugier weckende Kunde
von Verirrungen und Fehlern, die — in Bild und Wort meist weit über dem
Leser stehenden Gesellschaftsschichten und Altersklassen beigemessen — als Vorbild,
nicht als Warnung dienen, im besten Falle Ideale zertrümmern. So weit der
Abstand ist, der die „Jugend" und den „Simplicissimus" in künstlerischer und
literarischer Beziehung von den neben ihnen feilgebotnen Witzblättern trennt, so
groß sind die Wertunterschiede, die sich in ihrem eignen Inhalt finden. Aber das
Schlechte überwiegt. Was einige Mitarbeiter an Geist und Schönheit hineintragen,
verbleicht und verzischt in einer trüben, schalen Flut.


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[0068] Maßgebliches und Unmaßgebliches Heuer die von ihm gerügten Schaden, die er in sächsischen Städten kaum gleich stark entwickelt gefunden haben dürfte, nicht schwinden sondern wachsen. Ich lasse hier meine leider ganz mühelos gemachten Beobachtungen folgen, die eine dringende Mahnung zum Einschreiten enthalten. Ein großer Teil der Milchläden Münchens zeigt sich in anheimelnden Schmuck. Im Schaufenster steht vor einem Efeustock meist eine bunt getönte plastische Gruppe: eine Sennerin im Stallanzug und eine Kuh. Ein Körbchen mit Semmeln und ein brauner Napfkuchen, ein Gugelhopf, vervollständigen das freundliche Bild. Leider wird seine Anmut sehr oft durch einen seltsamen Rahmen entstellt. In vielen dieser Milchlädeu sind an den Ranken des Efeustocks oder an der Scheibe der Auslage die neusten Nummern illustrierter Witzblätter befestigt. Was an Wochen¬ schriften mit pikantem Inhalt in Deutschland erscheint, ist hier zu finden. Meist sind es Frauen, die diese Milchlädcn innehaben. Genügt ihnen mich der bescheidne Gewinn aus ihrem Kleinhandel zum eignen Auskommen oder auch zum Ernährer einer kleinen Familie, so ist ihnen doch der mühelose Verdienst, den der Vertrieb der Witzblätter gewährt, sehr willkommen. So finde» in ihnen die Verleger und Kolportenre dieser Wochenschriften willige Organe zur Verbreitung ihres literarischen Giftes, deren Urteilskraft zu gering ist, als daß sie ihr Gewissen wecken könnte. Der Milchladen ist ein Sammelpunkt der weiblichen Dienstboten und im Hans- Halte helfenden Familienglieder der Nachbarschaft; die Milch wird von Mävchen, die noch nicht oder erst seit kurzem der Schule entwachsen sind, aufgetragen; nicht selten verwendet die Inhaberin des Geschäfts auch ihre eignen Kinder als leicht¬ füßige Helfer; bisweilen trinkt ein bleicher Gymnasiast an der Quelle ein Glas frischer Milch: so rinnt aus diesen Läden neben dem reinsten, mildesten Nahrungs¬ stoff, den die Natur spendet, ein trüber Giftstrom durch hundert Adern ins Volk. Außer diesen Milchläden und den gleich ihnen mit einer Menge kleiner Haus¬ haltungen in regem Verkehr stehenden Kolvnialwarenhandlungen wird kein Geschäft mehr von dem Schiilervölkchen besucht als der Buchbinderladen. Diese Geschäfte liegen meist in der Nähe der Schulhäuser, der Stätten, wo ihre Waren am stärksten verbraucht werden. Trotzdem prangen auch sie im bunten Schmucke des Witzblättergifts! Meist sind ihre Türen damit umrahmt, einmal sah ich einen Schulranzen mit dem „Simplicissimus" und der „Auster," dem neusten Witzblatte dieser Richtung, besteckt. Ansichtskarten aller Art, bis herab zu den Lichtdruckbildern von Halbweltschönheiten und Tiugeltangclszenen, sind in überreicher Fülle im Schaufenster ausgebreitet. So genießen Schüler und Schülerinnen in Läden, wo sie vom sechsten bis zum achtzehnten Jahre ihre Schreibmaterialien holen, den aller- verderblichsten Anschauungsunterricht. Was in diesen Läden an Witzblättern feilgeboten wird, steht künstlerisch und literarisch nicht gleich hoch und moralisch nicht gleich tief. Aber in ihrer zer¬ störenden Wirkung sind diese Zeitschriften einander gleich. Schade, daß Blätter wie die „Jugend" und der „Simplicissimus" mit kunst- und geistlosen Schund, wie dem „Satyr" und den „Grazien," ans dem Milchladen in die Hände von kleinen Leuten und jungen Menschen gelangen, wo sie infolge ihres nur für geistig und ästhetisch Mündige ungefährlichen Moulinrongetons ebenso zerstörend wirken, wie ihre schmutzigen Ladengenossen. Was sie an Satire bringen, wirkt in den Kreisen, wohin sie vom Milchladen aus dringen, nicht als Satire, sondern als Äpfel vom Baume der Erkenntnis, als den Nachahmungstrieb und die Neugier weckende Kunde von Verirrungen und Fehlern, die — in Bild und Wort meist weit über dem Leser stehenden Gesellschaftsschichten und Altersklassen beigemessen — als Vorbild, nicht als Warnung dienen, im besten Falle Ideale zertrümmern. So weit der Abstand ist, der die „Jugend" und den „Simplicissimus" in künstlerischer und literarischer Beziehung von den neben ihnen feilgebotnen Witzblättern trennt, so groß sind die Wertunterschiede, die sich in ihrem eignen Inhalt finden. Aber das Schlechte überwiegt. Was einige Mitarbeiter an Geist und Schönheit hineintragen, verbleicht und verzischt in einer trüben, schalen Flut.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/68>, abgerufen am 29.06.2024.