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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

tige Bäume sein müssen, unter denen es sich angenehm wandelt in heißen Sommer¬
tagen oder auch im ersten Frühling, wenn die grünen Pünktchen an den Zweigen
hervorbrechen. Auch das ist eine bloße Vermutung, daß es Linden seien, ich habe
es noch immer nicht erfahren können. Im Grunde ist es ja gleichgiltig, was für
Bäume da unten wachsen, aber ich habe doch längere Zeit darüber nachgedacht,
und jeden Tag wollte ich die Beamten darüber befragen, aber ich habe es immer
wieder vergessen, oder vielmehr ich habe die Frage immer wieder zurückgedrängt.
Das ist noch eins der wenigen Geheimnisse, auf deren Auflösung ich gespannt bin.
Ich bin jetzt einige dreißig Jahre alt und rechne darauf, noch ungefähr dieselbe
Lebenszeit vor mir zu haben, da werde ich noch selbst des Rätsels Lösung finden
könne". Zwanzig Jahre weiter, dann werden die Bäume wohl ihre Kronen über
die Dächer hinaussehen, dann werde ich es erfahren. Bis dahin will ich warten,
in meinem Dasein gibt es keine Eile mehr.

Es ist Sonntag hente. Friedlich kaltem die Glocken über die Stadt hin. Die
Regenwolke, die vor meinem Fenster hing, hat sich irgend wohin verzogen, ein
lauer, würziger Abendwind bewegt die grünen Spitzen meiner Linden, und ganz
ferne zwischen dunkeln Tanncncisten geht der Mond auf. Ich sitze am Sonntag
gewöhnlich vor einem Buche und blättere darin. Das einemal ist es eine Reise¬
beschreibung, etwa eine Wanderung durch Südamerika, ein andresmal eine neue
Erfindung, von der ich mir erzählen lasse. Es sind freilich meist verschollne Dinge,
um die sich meine Gedanken drehen, aber ich lese doch gern in den alten Büchern.
Die neuen Bücher bereiten Unruhe, es kommt mit ihnen ein Hauch frischen, wirk¬
lichen Lebens zu mir, den ich nicht zu ertragen vermag, sie wecken in mir pein¬
liche Empfindungen und erschließen in meiner Seele Türen, die ich nicht gern
öffnen lasse. Aber diese alten vergilbten Bücher tun mir Wohl. Die sie einst ge¬
schrieben haben, sind wohl schon in die ewige Ruhe eingegangen, und was sie mir
da erzählen, ist auch eine abgetane Sache, alles ist inzwischen anders geworden, das
Leben hat neue Bahnen eingeschlagen, und was man einst anstaunte, wird heute
belächelt. Wie ein vergessener Friedhof, ans dem keine Träne mehr blinkt, unter
dessen Fliederbüschen man ruhigen Herzens sitzt und in die Abenddämmerung hinein¬
träumt, unter mich diese verschollnen Geschichten an.

Es ist doch eine seltsame Fügung: Dreißig Jahre alt und schon fertig mit
dem Leben, fertig nicht als ein überspannter Narr, der die Empfindungen seines
Herzens im langen Genießen verbraucht hat, sondern ein Mensch mit wachen
Sinnen, mit einer sehnsüchtigen Seele, der nur durch einen festen Entschluß mit
allem, was sonst des Menschen Hoffnung füllt, abgeschlossen hat. Manchmal will
ichs selber nicht glauben und meine, es sei das alles, was hinter mir liegt, nur
ein wirrer, böser Traum, ans dem ich noch einmal aufwachen würde; und wenn
unten von der Straße her Kinderstimmen erklingen, wenn jemand ein Lied singt
oder hell auflacht, und wenn unten im Buschwerk die Nachtigall schlägt, dann fasse
ich mich an den Kopf und drücke die Hand gegen das pochende Herz, worin das
Blut heiß zusammenströmt. Und dann hole ich tief Atem, wie einer, dem die Luft
ausgeht. Ruhig, Heinrich, denke nicht mehr daran! Es ist besser für dich, wenn
du nie etwas andres denkst als dies: Es ist alles aus.

Ich bin dieser Tage etwas wunderlich gewesen, der Arzt hat mich sonderbar
angesehen, und auch die andern Beamten sind oft zu mir gekommen und haben
sich lange mit mir unterhalten. Über Dinge, für die ich nicht das geringste Inter¬
esse hatte, und einige haben mit mir wie mit einem Kinde gesprochen, das mau
aus seinen Tränen reißen will. Ich weiß wohl, was sie befürchten. Sie glauben,
daß sich in der Kette nieines Verstandes ein Glied gelöst habe, aber sie irren. Ich
bin ganz gesund, nur etwas mitgenommen von der eintönigen Arbeit und den ein¬
samen Gedanken und den einsamen Büchern. Man hat mir Papier und Federn
gegeben und mir erlaubt zu schreiben, so viel ich wolle, und was mir gerade ein¬
fiele. Das habe ich lange ersehnt, und nun, da mein Wunsch erfüllt ist, sind all


Zwei Seelen

tige Bäume sein müssen, unter denen es sich angenehm wandelt in heißen Sommer¬
tagen oder auch im ersten Frühling, wenn die grünen Pünktchen an den Zweigen
hervorbrechen. Auch das ist eine bloße Vermutung, daß es Linden seien, ich habe
es noch immer nicht erfahren können. Im Grunde ist es ja gleichgiltig, was für
Bäume da unten wachsen, aber ich habe doch längere Zeit darüber nachgedacht,
und jeden Tag wollte ich die Beamten darüber befragen, aber ich habe es immer
wieder vergessen, oder vielmehr ich habe die Frage immer wieder zurückgedrängt.
Das ist noch eins der wenigen Geheimnisse, auf deren Auflösung ich gespannt bin.
Ich bin jetzt einige dreißig Jahre alt und rechne darauf, noch ungefähr dieselbe
Lebenszeit vor mir zu haben, da werde ich noch selbst des Rätsels Lösung finden
könne». Zwanzig Jahre weiter, dann werden die Bäume wohl ihre Kronen über
die Dächer hinaussehen, dann werde ich es erfahren. Bis dahin will ich warten,
in meinem Dasein gibt es keine Eile mehr.

Es ist Sonntag hente. Friedlich kaltem die Glocken über die Stadt hin. Die
Regenwolke, die vor meinem Fenster hing, hat sich irgend wohin verzogen, ein
lauer, würziger Abendwind bewegt die grünen Spitzen meiner Linden, und ganz
ferne zwischen dunkeln Tanncncisten geht der Mond auf. Ich sitze am Sonntag
gewöhnlich vor einem Buche und blättere darin. Das einemal ist es eine Reise¬
beschreibung, etwa eine Wanderung durch Südamerika, ein andresmal eine neue
Erfindung, von der ich mir erzählen lasse. Es sind freilich meist verschollne Dinge,
um die sich meine Gedanken drehen, aber ich lese doch gern in den alten Büchern.
Die neuen Bücher bereiten Unruhe, es kommt mit ihnen ein Hauch frischen, wirk¬
lichen Lebens zu mir, den ich nicht zu ertragen vermag, sie wecken in mir pein¬
liche Empfindungen und erschließen in meiner Seele Türen, die ich nicht gern
öffnen lasse. Aber diese alten vergilbten Bücher tun mir Wohl. Die sie einst ge¬
schrieben haben, sind wohl schon in die ewige Ruhe eingegangen, und was sie mir
da erzählen, ist auch eine abgetane Sache, alles ist inzwischen anders geworden, das
Leben hat neue Bahnen eingeschlagen, und was man einst anstaunte, wird heute
belächelt. Wie ein vergessener Friedhof, ans dem keine Träne mehr blinkt, unter
dessen Fliederbüschen man ruhigen Herzens sitzt und in die Abenddämmerung hinein¬
träumt, unter mich diese verschollnen Geschichten an.

Es ist doch eine seltsame Fügung: Dreißig Jahre alt und schon fertig mit
dem Leben, fertig nicht als ein überspannter Narr, der die Empfindungen seines
Herzens im langen Genießen verbraucht hat, sondern ein Mensch mit wachen
Sinnen, mit einer sehnsüchtigen Seele, der nur durch einen festen Entschluß mit
allem, was sonst des Menschen Hoffnung füllt, abgeschlossen hat. Manchmal will
ichs selber nicht glauben und meine, es sei das alles, was hinter mir liegt, nur
ein wirrer, böser Traum, ans dem ich noch einmal aufwachen würde; und wenn
unten von der Straße her Kinderstimmen erklingen, wenn jemand ein Lied singt
oder hell auflacht, und wenn unten im Buschwerk die Nachtigall schlägt, dann fasse
ich mich an den Kopf und drücke die Hand gegen das pochende Herz, worin das
Blut heiß zusammenströmt. Und dann hole ich tief Atem, wie einer, dem die Luft
ausgeht. Ruhig, Heinrich, denke nicht mehr daran! Es ist besser für dich, wenn
du nie etwas andres denkst als dies: Es ist alles aus.

Ich bin dieser Tage etwas wunderlich gewesen, der Arzt hat mich sonderbar
angesehen, und auch die andern Beamten sind oft zu mir gekommen und haben
sich lange mit mir unterhalten. Über Dinge, für die ich nicht das geringste Inter¬
esse hatte, und einige haben mit mir wie mit einem Kinde gesprochen, das mau
aus seinen Tränen reißen will. Ich weiß wohl, was sie befürchten. Sie glauben,
daß sich in der Kette nieines Verstandes ein Glied gelöst habe, aber sie irren. Ich
bin ganz gesund, nur etwas mitgenommen von der eintönigen Arbeit und den ein¬
samen Gedanken und den einsamen Büchern. Man hat mir Papier und Federn
gegeben und mir erlaubt zu schreiben, so viel ich wolle, und was mir gerade ein¬
fiele. Das habe ich lange ersehnt, und nun, da mein Wunsch erfüllt ist, sind all


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[0060] Zwei Seelen tige Bäume sein müssen, unter denen es sich angenehm wandelt in heißen Sommer¬ tagen oder auch im ersten Frühling, wenn die grünen Pünktchen an den Zweigen hervorbrechen. Auch das ist eine bloße Vermutung, daß es Linden seien, ich habe es noch immer nicht erfahren können. Im Grunde ist es ja gleichgiltig, was für Bäume da unten wachsen, aber ich habe doch längere Zeit darüber nachgedacht, und jeden Tag wollte ich die Beamten darüber befragen, aber ich habe es immer wieder vergessen, oder vielmehr ich habe die Frage immer wieder zurückgedrängt. Das ist noch eins der wenigen Geheimnisse, auf deren Auflösung ich gespannt bin. Ich bin jetzt einige dreißig Jahre alt und rechne darauf, noch ungefähr dieselbe Lebenszeit vor mir zu haben, da werde ich noch selbst des Rätsels Lösung finden könne». Zwanzig Jahre weiter, dann werden die Bäume wohl ihre Kronen über die Dächer hinaussehen, dann werde ich es erfahren. Bis dahin will ich warten, in meinem Dasein gibt es keine Eile mehr. Es ist Sonntag hente. Friedlich kaltem die Glocken über die Stadt hin. Die Regenwolke, die vor meinem Fenster hing, hat sich irgend wohin verzogen, ein lauer, würziger Abendwind bewegt die grünen Spitzen meiner Linden, und ganz ferne zwischen dunkeln Tanncncisten geht der Mond auf. Ich sitze am Sonntag gewöhnlich vor einem Buche und blättere darin. Das einemal ist es eine Reise¬ beschreibung, etwa eine Wanderung durch Südamerika, ein andresmal eine neue Erfindung, von der ich mir erzählen lasse. Es sind freilich meist verschollne Dinge, um die sich meine Gedanken drehen, aber ich lese doch gern in den alten Büchern. Die neuen Bücher bereiten Unruhe, es kommt mit ihnen ein Hauch frischen, wirk¬ lichen Lebens zu mir, den ich nicht zu ertragen vermag, sie wecken in mir pein¬ liche Empfindungen und erschließen in meiner Seele Türen, die ich nicht gern öffnen lasse. Aber diese alten vergilbten Bücher tun mir Wohl. Die sie einst ge¬ schrieben haben, sind wohl schon in die ewige Ruhe eingegangen, und was sie mir da erzählen, ist auch eine abgetane Sache, alles ist inzwischen anders geworden, das Leben hat neue Bahnen eingeschlagen, und was man einst anstaunte, wird heute belächelt. Wie ein vergessener Friedhof, ans dem keine Träne mehr blinkt, unter dessen Fliederbüschen man ruhigen Herzens sitzt und in die Abenddämmerung hinein¬ träumt, unter mich diese verschollnen Geschichten an. Es ist doch eine seltsame Fügung: Dreißig Jahre alt und schon fertig mit dem Leben, fertig nicht als ein überspannter Narr, der die Empfindungen seines Herzens im langen Genießen verbraucht hat, sondern ein Mensch mit wachen Sinnen, mit einer sehnsüchtigen Seele, der nur durch einen festen Entschluß mit allem, was sonst des Menschen Hoffnung füllt, abgeschlossen hat. Manchmal will ichs selber nicht glauben und meine, es sei das alles, was hinter mir liegt, nur ein wirrer, böser Traum, ans dem ich noch einmal aufwachen würde; und wenn unten von der Straße her Kinderstimmen erklingen, wenn jemand ein Lied singt oder hell auflacht, und wenn unten im Buschwerk die Nachtigall schlägt, dann fasse ich mich an den Kopf und drücke die Hand gegen das pochende Herz, worin das Blut heiß zusammenströmt. Und dann hole ich tief Atem, wie einer, dem die Luft ausgeht. Ruhig, Heinrich, denke nicht mehr daran! Es ist besser für dich, wenn du nie etwas andres denkst als dies: Es ist alles aus. Ich bin dieser Tage etwas wunderlich gewesen, der Arzt hat mich sonderbar angesehen, und auch die andern Beamten sind oft zu mir gekommen und haben sich lange mit mir unterhalten. Über Dinge, für die ich nicht das geringste Inter¬ esse hatte, und einige haben mit mir wie mit einem Kinde gesprochen, das mau aus seinen Tränen reißen will. Ich weiß wohl, was sie befürchten. Sie glauben, daß sich in der Kette nieines Verstandes ein Glied gelöst habe, aber sie irren. Ich bin ganz gesund, nur etwas mitgenommen von der eintönigen Arbeit und den ein¬ samen Gedanken und den einsamen Büchern. Man hat mir Papier und Federn gegeben und mir erlaubt zu schreiben, so viel ich wolle, und was mir gerade ein¬ fiele. Das habe ich lange ersehnt, und nun, da mein Wunsch erfüllt ist, sind all

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/60>, abgerufen am 29.06.2024.