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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

die schönen und wichtigen Gedanken, womit ich mich herumschleppte, von einer un¬
sichtbaren Hand jählings entführt worden. Schließlich bin ich auf deu Gedanken
verfallen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben, denn ich hatte irgendwo gelesen, daß
nichts das Herz so sehr beruhige als die Geschichten, deren Gewicht immer auf der
Seele lastet, zu Papier zu bringen, dabei lösten sie sich von uns ab und führten
ihr eignes Dnsein. Jetzt steht mein Leben in unsichern Umrissen vor mir, wie eine
dunkle Landschaft, über die ein fernes Feuer phantastische Lichter wirft. Ich werde
ihm Schritt für Schritt nahe gehn. Dabei werden die Flammen, die mich verzehrt
haben, von neuem auflösen, aber ich hoffe, es wird ein letztes Aufleuchten vor dem
Erlöschen sein.


2

Ich bin als das Mut armer, aber wie ich Wohl sagen darf, redlicher Leute
geboren. Mein Vater war Bcchunrbeiter, ein Mann von zuverlässigem und bei
aller Weichheit des Gemüts festem Wesen, sodaß er, wenn ihm das Glück nur eine
Weile gelächelt hatte, seine Familie gewiß zu einem bescheidnen Wohlstande geführt
haben würde. Nachdem er einige Jahre gewöhnlicher Handarbeiter gewesen war,
wurde er auf einen wichtigern Posten berufen und zuletzt auf eine Bahnwürter-
stelle gesetzt, die mitten im Walde zu versehen war, wo ein freundliches Hänschen
unsre Wohnung wurde. Meine Mutter war mit dieser Versetzung nicht einver¬
standen, denn sie brauchte Menschen um sich her, und seitdem eine gute Freundin
sie bedauert und ihr versichert hatte, sie sei viel zu gut für die Fichten, wollte sie
sich gar nicht mehr im Walde gefallen, sondern bedrängte ihren Mann alle Tage,
er möchte sich um eine andre Stelle bewerben. Das tat er nun freilich nicht, und
dennoch mußte das törichte Morgen- und Abendgebet meiner Mutter irgend ein
verborgnes Uhrfederchen gelöst haben, sodaß unser Schicksal plötzlich in Bewegung
geriet. Gerade als uns ein Töchterchen geboren wurde, verunglückte der Vater
ans der Strecke, und wir sahen ihn erst viele Wochen später wieder, als er die
ersten Versuche machte, sich mit einem Stelzbein durch die Welt zu schlagen. Da
war nnn großer Jammer im Hause, aber wir zogen nun wenigstens in die Stadt,
und als die Mutter erst die verabscheute" Fichten hinter sich hatte und wieder
unter einem Haufen schwätzender Weiber saß, lebte sie wieder auf wie ein nach
Regen lechzender Acker nach einem kräftigen Gewitter.

Auch wir Kinder verließe" deu Wald, wo nur doch so glückliche Tage verlebt
und rote, gesunde Gesichter bekommen hatten, mit tausend Freuden und zogen in
die öden traurigen Gassen der Stadt mit weitgeöffneten Angen, als täte sich da
ein Paradies auf. Doch ist mir der Eindruck des stillen Tannenwaldes für mein
Leben geblieben, und wenn ich mich heute zurückdenke in die verflossenen Jahre, so
winkt mir vom Anfang wie vom Eude meines Lebens etwas Grünes freundlich in
die Augen.

In der Stadt war nun Schmalhans bei uns Küchenmeister. Oft mußten
wir hungrig zu Bett gehn, und die Mutter verschmähte das Kunststück, das ich
manch andres arme Weib habe versuchen sehen, durch ein Märchen oder eine selt¬
same Geschichte über den Kummer hinwegzuhelfen und die bittenden Kinderaugen
mit Sand zu bestreuen. Allmählich bot' sich jedoch manche Hilfe. Dicht neben
uns, auf demselben Korridor, wohnte die Fischern, ein lediges Frauenzimmer, das
jedoch nicht weniger Kinder als wir hatte. Es ist mir heute unbegreiflich, wie sie
es anfing, immer wieder Liebhaber zu finden, denn sie war ein wildes Frauen¬
wesen, schmutzig und zottlig, mit einer dunkeln Zigeuncrfarbe über dem breiten
Gesicht, aber sie entdeckte in der Tat immer wieder einen Menschen, der es eine
Weile bei ihr aushielt, nachher sie freilich in um so größerm Elend zurückließ. Ihre
Kinder schickte sie alle Tage zum Bettel aus und bildete sie zu menschlichen Wesen
aus, die ihr aufs Haar glichen, ohne die Gutmütigkeit jedoch, die ihr nicht nbzu-
sprecheu war. Durch ihre Liederlichkeit und große Armut hatte sie die Aufmerk¬
samkeit mildherziger Menschen auf sich gezogen, in deren Wohltätigkeitsprogramm


Zwei Seelen

die schönen und wichtigen Gedanken, womit ich mich herumschleppte, von einer un¬
sichtbaren Hand jählings entführt worden. Schließlich bin ich auf deu Gedanken
verfallen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben, denn ich hatte irgendwo gelesen, daß
nichts das Herz so sehr beruhige als die Geschichten, deren Gewicht immer auf der
Seele lastet, zu Papier zu bringen, dabei lösten sie sich von uns ab und führten
ihr eignes Dnsein. Jetzt steht mein Leben in unsichern Umrissen vor mir, wie eine
dunkle Landschaft, über die ein fernes Feuer phantastische Lichter wirft. Ich werde
ihm Schritt für Schritt nahe gehn. Dabei werden die Flammen, die mich verzehrt
haben, von neuem auflösen, aber ich hoffe, es wird ein letztes Aufleuchten vor dem
Erlöschen sein.


2

Ich bin als das Mut armer, aber wie ich Wohl sagen darf, redlicher Leute
geboren. Mein Vater war Bcchunrbeiter, ein Mann von zuverlässigem und bei
aller Weichheit des Gemüts festem Wesen, sodaß er, wenn ihm das Glück nur eine
Weile gelächelt hatte, seine Familie gewiß zu einem bescheidnen Wohlstande geführt
haben würde. Nachdem er einige Jahre gewöhnlicher Handarbeiter gewesen war,
wurde er auf einen wichtigern Posten berufen und zuletzt auf eine Bahnwürter-
stelle gesetzt, die mitten im Walde zu versehen war, wo ein freundliches Hänschen
unsre Wohnung wurde. Meine Mutter war mit dieser Versetzung nicht einver¬
standen, denn sie brauchte Menschen um sich her, und seitdem eine gute Freundin
sie bedauert und ihr versichert hatte, sie sei viel zu gut für die Fichten, wollte sie
sich gar nicht mehr im Walde gefallen, sondern bedrängte ihren Mann alle Tage,
er möchte sich um eine andre Stelle bewerben. Das tat er nun freilich nicht, und
dennoch mußte das törichte Morgen- und Abendgebet meiner Mutter irgend ein
verborgnes Uhrfederchen gelöst haben, sodaß unser Schicksal plötzlich in Bewegung
geriet. Gerade als uns ein Töchterchen geboren wurde, verunglückte der Vater
ans der Strecke, und wir sahen ihn erst viele Wochen später wieder, als er die
ersten Versuche machte, sich mit einem Stelzbein durch die Welt zu schlagen. Da
war nnn großer Jammer im Hause, aber wir zogen nun wenigstens in die Stadt,
und als die Mutter erst die verabscheute» Fichten hinter sich hatte und wieder
unter einem Haufen schwätzender Weiber saß, lebte sie wieder auf wie ein nach
Regen lechzender Acker nach einem kräftigen Gewitter.

Auch wir Kinder verließe» deu Wald, wo nur doch so glückliche Tage verlebt
und rote, gesunde Gesichter bekommen hatten, mit tausend Freuden und zogen in
die öden traurigen Gassen der Stadt mit weitgeöffneten Angen, als täte sich da
ein Paradies auf. Doch ist mir der Eindruck des stillen Tannenwaldes für mein
Leben geblieben, und wenn ich mich heute zurückdenke in die verflossenen Jahre, so
winkt mir vom Anfang wie vom Eude meines Lebens etwas Grünes freundlich in
die Augen.

In der Stadt war nun Schmalhans bei uns Küchenmeister. Oft mußten
wir hungrig zu Bett gehn, und die Mutter verschmähte das Kunststück, das ich
manch andres arme Weib habe versuchen sehen, durch ein Märchen oder eine selt¬
same Geschichte über den Kummer hinwegzuhelfen und die bittenden Kinderaugen
mit Sand zu bestreuen. Allmählich bot' sich jedoch manche Hilfe. Dicht neben
uns, auf demselben Korridor, wohnte die Fischern, ein lediges Frauenzimmer, das
jedoch nicht weniger Kinder als wir hatte. Es ist mir heute unbegreiflich, wie sie
es anfing, immer wieder Liebhaber zu finden, denn sie war ein wildes Frauen¬
wesen, schmutzig und zottlig, mit einer dunkeln Zigeuncrfarbe über dem breiten
Gesicht, aber sie entdeckte in der Tat immer wieder einen Menschen, der es eine
Weile bei ihr aushielt, nachher sie freilich in um so größerm Elend zurückließ. Ihre
Kinder schickte sie alle Tage zum Bettel aus und bildete sie zu menschlichen Wesen
aus, die ihr aufs Haar glichen, ohne die Gutmütigkeit jedoch, die ihr nicht nbzu-
sprecheu war. Durch ihre Liederlichkeit und große Armut hatte sie die Aufmerk¬
samkeit mildherziger Menschen auf sich gezogen, in deren Wohltätigkeitsprogramm


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[0061] Zwei Seelen die schönen und wichtigen Gedanken, womit ich mich herumschleppte, von einer un¬ sichtbaren Hand jählings entführt worden. Schließlich bin ich auf deu Gedanken verfallen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben, denn ich hatte irgendwo gelesen, daß nichts das Herz so sehr beruhige als die Geschichten, deren Gewicht immer auf der Seele lastet, zu Papier zu bringen, dabei lösten sie sich von uns ab und führten ihr eignes Dnsein. Jetzt steht mein Leben in unsichern Umrissen vor mir, wie eine dunkle Landschaft, über die ein fernes Feuer phantastische Lichter wirft. Ich werde ihm Schritt für Schritt nahe gehn. Dabei werden die Flammen, die mich verzehrt haben, von neuem auflösen, aber ich hoffe, es wird ein letztes Aufleuchten vor dem Erlöschen sein. 2 Ich bin als das Mut armer, aber wie ich Wohl sagen darf, redlicher Leute geboren. Mein Vater war Bcchunrbeiter, ein Mann von zuverlässigem und bei aller Weichheit des Gemüts festem Wesen, sodaß er, wenn ihm das Glück nur eine Weile gelächelt hatte, seine Familie gewiß zu einem bescheidnen Wohlstande geführt haben würde. Nachdem er einige Jahre gewöhnlicher Handarbeiter gewesen war, wurde er auf einen wichtigern Posten berufen und zuletzt auf eine Bahnwürter- stelle gesetzt, die mitten im Walde zu versehen war, wo ein freundliches Hänschen unsre Wohnung wurde. Meine Mutter war mit dieser Versetzung nicht einver¬ standen, denn sie brauchte Menschen um sich her, und seitdem eine gute Freundin sie bedauert und ihr versichert hatte, sie sei viel zu gut für die Fichten, wollte sie sich gar nicht mehr im Walde gefallen, sondern bedrängte ihren Mann alle Tage, er möchte sich um eine andre Stelle bewerben. Das tat er nun freilich nicht, und dennoch mußte das törichte Morgen- und Abendgebet meiner Mutter irgend ein verborgnes Uhrfederchen gelöst haben, sodaß unser Schicksal plötzlich in Bewegung geriet. Gerade als uns ein Töchterchen geboren wurde, verunglückte der Vater ans der Strecke, und wir sahen ihn erst viele Wochen später wieder, als er die ersten Versuche machte, sich mit einem Stelzbein durch die Welt zu schlagen. Da war nnn großer Jammer im Hause, aber wir zogen nun wenigstens in die Stadt, und als die Mutter erst die verabscheute» Fichten hinter sich hatte und wieder unter einem Haufen schwätzender Weiber saß, lebte sie wieder auf wie ein nach Regen lechzender Acker nach einem kräftigen Gewitter. Auch wir Kinder verließe» deu Wald, wo nur doch so glückliche Tage verlebt und rote, gesunde Gesichter bekommen hatten, mit tausend Freuden und zogen in die öden traurigen Gassen der Stadt mit weitgeöffneten Angen, als täte sich da ein Paradies auf. Doch ist mir der Eindruck des stillen Tannenwaldes für mein Leben geblieben, und wenn ich mich heute zurückdenke in die verflossenen Jahre, so winkt mir vom Anfang wie vom Eude meines Lebens etwas Grünes freundlich in die Augen. In der Stadt war nun Schmalhans bei uns Küchenmeister. Oft mußten wir hungrig zu Bett gehn, und die Mutter verschmähte das Kunststück, das ich manch andres arme Weib habe versuchen sehen, durch ein Märchen oder eine selt¬ same Geschichte über den Kummer hinwegzuhelfen und die bittenden Kinderaugen mit Sand zu bestreuen. Allmählich bot' sich jedoch manche Hilfe. Dicht neben uns, auf demselben Korridor, wohnte die Fischern, ein lediges Frauenzimmer, das jedoch nicht weniger Kinder als wir hatte. Es ist mir heute unbegreiflich, wie sie es anfing, immer wieder Liebhaber zu finden, denn sie war ein wildes Frauen¬ wesen, schmutzig und zottlig, mit einer dunkeln Zigeuncrfarbe über dem breiten Gesicht, aber sie entdeckte in der Tat immer wieder einen Menschen, der es eine Weile bei ihr aushielt, nachher sie freilich in um so größerm Elend zurückließ. Ihre Kinder schickte sie alle Tage zum Bettel aus und bildete sie zu menschlichen Wesen aus, die ihr aufs Haar glichen, ohne die Gutmütigkeit jedoch, die ihr nicht nbzu- sprecheu war. Durch ihre Liederlichkeit und große Armut hatte sie die Aufmerk¬ samkeit mildherziger Menschen auf sich gezogen, in deren Wohltätigkeitsprogramm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/61>, abgerufen am 26.06.2024.