Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Leipziger Dramaturgie

Kritik schuld, wem, sie glaubt, es sei unter ihrer Würde, sich mit dergleichen zu
beflissen. Denn tels Publikum kann nur durch sie in dieser Sache wirksam ver¬
trete" werden, und wenn es, weil die Kritik schweigt, seinen Schmerz in ein ent¬
rüstetes "Eingesandt" aushauchen will, so verhallt seine Stimme ungehört.

Warum, nochmals auf den Don Karlos zu kommen, wird im ersten Austritt
des dritten Aktes die ausdrückliche Weisung des Dichters unbeachtet gelassen?
Schiller sagt: Im Hintergründe des Zimmers einige Pagen auf den Knieen, ein¬
geschlafen. Dieser Zug entspricht nicht bloß, wie schon früher bemerkt worden ist,
der geschichtlichen Überlieferung, er ist auch für die Charakterisierung des damaligen
spanischen Hofes bezeichnend. Die kastilische Etikette war steif, finster, unerbittlich,
ja geradezu, wie das dem spanischen Charakter entspricht, fanatisch. Ein Heer
reichbegüterter und einflußreicher Granden hatte sich jedes persönlichen Würde- und
Uuabhäugigkeitsgefühls entäußert, um ihr Ideal, das absolute Königtum und dessen
Vertreter, den König, wie über alle Köpfe, so auch über die ihren zu erhöhen.
Daß ein Grande, der die Königin mit Gefahr des eignen Lebens aus ihren
trennenden Gemächern gerettet hatte, im Namen der alles beherrschenden und
berrorisierendeu Etikette bei einem Haare vom Leben zum Tode gebracht worden
wäre, weil er die hohe Fran, um sie zu retten, angefaßt und auf seine Arme ge¬
nommen hatte, worauf, wollte man behaupten, Todesstrafe stehe, ist keine Legende.
Mehrere Szenen des Schillerschen Don Karlos fallen wegen des neuzeitlichen Frei¬
sinns, den sie atmen, aus dem Rahmen der damaligen Zeit, und man sieht das,
obwohl ungern, dem genialen Dichter nach, weil der Effekt, den er beabsichtigte,
nur auf diese Weise zu erreichen war. Warum man sich aber in Fällen, wo er
die echte unheimliche Farbe des durch Schrecken und Selbsterniedrigung zum Zerr¬
bild gewordnen damaligen spanischen Hofes trifft, anstellen will, als könne man
nicht lesen, oder müsse das Gegenteil von dem tun, was Schiller vorschreibt, ist
schwer einzusehen. In Leipzig schlummern die beiden jungen Damen, die uus als
Pagen vorgeführt werdeu, in bequemen Armflühlen vor dem Kamin. Im Hause
einer alten Jungfer könnten Leibkatzen sichs auf dem molligsten Stuhle nicht be¬
quemer machen und sich nicht gemächlicher dem neuen Tage entgegendehnen als
diese beiden Pagen, die wir uns nach Schillers Absicht als vor Müdigkeit inmitten
ihres Dienstes zusammengesunken und plötzlich durch des Königs Klingeln auf¬
geschreckt denken sollen. Warum -- diese Frage ist keine unbeschcidne --, warum
schlägt man, trotz Schillers ausdrücklicher Weisung, ohne Not den Tatsachen ins
Gesicht? Will man zu verstehn geben, daß man mit der für unser Gefühl etwas
schonungsloser Behandlung, die man den aufwartenden Edelknaben zuteil werden
ließ, nicht einverstanden und humaner als König Philipp und sein Cameriere
Mnyor ist? Das wäre doch eine seltsame Art, unsre heutigen Anschauungen in
vergangne Zeiten zu tragen, als ob man dadurch an den Verhältnissen, wie sie
waren, auch nur ein Jota ändern könnte. Darauf, wie wir jetzt denken, kommt
es bei der Inszenierung nicht an, und wenn wir gesonnen wären, den Kellnern,
die in Nachtlokalen bedienen, Ruhebetten oder Schaukelstühle zu beschaffen, so hat
diese menschenfreundliche Gesinnung keine rückwirkende Kraft. Es handelt sich viel¬
mehr darum, wie es zu Philipps des Zweiten Zeit am Madrider Hof herging
und wenn es, wie dies in der Tat der Fall ist, feststeht, daß den Pagen damals
keine Armstühle an den Kamin gestellt wurden, damit sie darin ihr Schläfchen machen
konnten, soudern daß, wenn sie der Schlummer übermannte, zu ihrer Bequemlich¬
keit nur ein Kissen da war, worauf sie knien konnten, so sind die Leipziger Arm-
stühle nicht bloß ein bedauerlicher, soudern, da man gewarnt war, ein freventlicher
Anachronismus, deu sich eine Regie, die Sinn für geschichtliche Treue und echte
Lokalfarbe hat, nicht zuschulden kommen lassen darf. Ist es denn, wenn man überlegt
und sich ein bißchen umsieht, so schwer, sich den Unterschied der Zeiten und der in
ihnen herrschenden Gewohnheiten zu vergegenwärtigen? Bei einem meiner Urgrvß-
onkel mütterlicherseits hat sich vor hundert Jahren, als das Werk seiner Schlaf-


Leipziger Dramaturgie

Kritik schuld, wem, sie glaubt, es sei unter ihrer Würde, sich mit dergleichen zu
beflissen. Denn tels Publikum kann nur durch sie in dieser Sache wirksam ver¬
trete» werden, und wenn es, weil die Kritik schweigt, seinen Schmerz in ein ent¬
rüstetes „Eingesandt" aushauchen will, so verhallt seine Stimme ungehört.

Warum, nochmals auf den Don Karlos zu kommen, wird im ersten Austritt
des dritten Aktes die ausdrückliche Weisung des Dichters unbeachtet gelassen?
Schiller sagt: Im Hintergründe des Zimmers einige Pagen auf den Knieen, ein¬
geschlafen. Dieser Zug entspricht nicht bloß, wie schon früher bemerkt worden ist,
der geschichtlichen Überlieferung, er ist auch für die Charakterisierung des damaligen
spanischen Hofes bezeichnend. Die kastilische Etikette war steif, finster, unerbittlich,
ja geradezu, wie das dem spanischen Charakter entspricht, fanatisch. Ein Heer
reichbegüterter und einflußreicher Granden hatte sich jedes persönlichen Würde- und
Uuabhäugigkeitsgefühls entäußert, um ihr Ideal, das absolute Königtum und dessen
Vertreter, den König, wie über alle Köpfe, so auch über die ihren zu erhöhen.
Daß ein Grande, der die Königin mit Gefahr des eignen Lebens aus ihren
trennenden Gemächern gerettet hatte, im Namen der alles beherrschenden und
berrorisierendeu Etikette bei einem Haare vom Leben zum Tode gebracht worden
wäre, weil er die hohe Fran, um sie zu retten, angefaßt und auf seine Arme ge¬
nommen hatte, worauf, wollte man behaupten, Todesstrafe stehe, ist keine Legende.
Mehrere Szenen des Schillerschen Don Karlos fallen wegen des neuzeitlichen Frei¬
sinns, den sie atmen, aus dem Rahmen der damaligen Zeit, und man sieht das,
obwohl ungern, dem genialen Dichter nach, weil der Effekt, den er beabsichtigte,
nur auf diese Weise zu erreichen war. Warum man sich aber in Fällen, wo er
die echte unheimliche Farbe des durch Schrecken und Selbsterniedrigung zum Zerr¬
bild gewordnen damaligen spanischen Hofes trifft, anstellen will, als könne man
nicht lesen, oder müsse das Gegenteil von dem tun, was Schiller vorschreibt, ist
schwer einzusehen. In Leipzig schlummern die beiden jungen Damen, die uus als
Pagen vorgeführt werdeu, in bequemen Armflühlen vor dem Kamin. Im Hause
einer alten Jungfer könnten Leibkatzen sichs auf dem molligsten Stuhle nicht be¬
quemer machen und sich nicht gemächlicher dem neuen Tage entgegendehnen als
diese beiden Pagen, die wir uns nach Schillers Absicht als vor Müdigkeit inmitten
ihres Dienstes zusammengesunken und plötzlich durch des Königs Klingeln auf¬
geschreckt denken sollen. Warum — diese Frage ist keine unbeschcidne —, warum
schlägt man, trotz Schillers ausdrücklicher Weisung, ohne Not den Tatsachen ins
Gesicht? Will man zu verstehn geben, daß man mit der für unser Gefühl etwas
schonungsloser Behandlung, die man den aufwartenden Edelknaben zuteil werden
ließ, nicht einverstanden und humaner als König Philipp und sein Cameriere
Mnyor ist? Das wäre doch eine seltsame Art, unsre heutigen Anschauungen in
vergangne Zeiten zu tragen, als ob man dadurch an den Verhältnissen, wie sie
waren, auch nur ein Jota ändern könnte. Darauf, wie wir jetzt denken, kommt
es bei der Inszenierung nicht an, und wenn wir gesonnen wären, den Kellnern,
die in Nachtlokalen bedienen, Ruhebetten oder Schaukelstühle zu beschaffen, so hat
diese menschenfreundliche Gesinnung keine rückwirkende Kraft. Es handelt sich viel¬
mehr darum, wie es zu Philipps des Zweiten Zeit am Madrider Hof herging
und wenn es, wie dies in der Tat der Fall ist, feststeht, daß den Pagen damals
keine Armstühle an den Kamin gestellt wurden, damit sie darin ihr Schläfchen machen
konnten, soudern daß, wenn sie der Schlummer übermannte, zu ihrer Bequemlich¬
keit nur ein Kissen da war, worauf sie knien konnten, so sind die Leipziger Arm-
stühle nicht bloß ein bedauerlicher, soudern, da man gewarnt war, ein freventlicher
Anachronismus, deu sich eine Regie, die Sinn für geschichtliche Treue und echte
Lokalfarbe hat, nicht zuschulden kommen lassen darf. Ist es denn, wenn man überlegt
und sich ein bißchen umsieht, so schwer, sich den Unterschied der Zeiten und der in
ihnen herrschenden Gewohnheiten zu vergegenwärtigen? Bei einem meiner Urgrvß-
onkel mütterlicherseits hat sich vor hundert Jahren, als das Werk seiner Schlaf-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0056" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242124"/>
          <fw type="header" place="top"> Leipziger Dramaturgie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_153" prev="#ID_152"> Kritik schuld, wem, sie glaubt, es sei unter ihrer Würde, sich mit dergleichen zu<lb/>
beflissen. Denn tels Publikum kann nur durch sie in dieser Sache wirksam ver¬<lb/>
trete» werden, und wenn es, weil die Kritik schweigt, seinen Schmerz in ein ent¬<lb/>
rüstetes &#x201E;Eingesandt" aushauchen will, so verhallt seine Stimme ungehört.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_154" next="#ID_155"> Warum, nochmals auf den Don Karlos zu kommen, wird im ersten Austritt<lb/>
des dritten Aktes die ausdrückliche Weisung des Dichters unbeachtet gelassen?<lb/>
Schiller sagt: Im Hintergründe des Zimmers einige Pagen auf den Knieen, ein¬<lb/>
geschlafen. Dieser Zug entspricht nicht bloß, wie schon früher bemerkt worden ist,<lb/>
der geschichtlichen Überlieferung, er ist auch für die Charakterisierung des damaligen<lb/>
spanischen Hofes bezeichnend. Die kastilische Etikette war steif, finster, unerbittlich,<lb/>
ja geradezu, wie das dem spanischen Charakter entspricht, fanatisch. Ein Heer<lb/>
reichbegüterter und einflußreicher Granden hatte sich jedes persönlichen Würde- und<lb/>
Uuabhäugigkeitsgefühls entäußert, um ihr Ideal, das absolute Königtum und dessen<lb/>
Vertreter, den König, wie über alle Köpfe, so auch über die ihren zu erhöhen.<lb/>
Daß ein Grande, der die Königin mit Gefahr des eignen Lebens aus ihren<lb/>
trennenden Gemächern gerettet hatte, im Namen der alles beherrschenden und<lb/>
berrorisierendeu Etikette bei einem Haare vom Leben zum Tode gebracht worden<lb/>
wäre, weil er die hohe Fran, um sie zu retten, angefaßt und auf seine Arme ge¬<lb/>
nommen hatte, worauf, wollte man behaupten, Todesstrafe stehe, ist keine Legende.<lb/>
Mehrere Szenen des Schillerschen Don Karlos fallen wegen des neuzeitlichen Frei¬<lb/>
sinns, den sie atmen, aus dem Rahmen der damaligen Zeit, und man sieht das,<lb/>
obwohl ungern, dem genialen Dichter nach, weil der Effekt, den er beabsichtigte,<lb/>
nur auf diese Weise zu erreichen war. Warum man sich aber in Fällen, wo er<lb/>
die echte unheimliche Farbe des durch Schrecken und Selbsterniedrigung zum Zerr¬<lb/>
bild gewordnen damaligen spanischen Hofes trifft, anstellen will, als könne man<lb/>
nicht lesen, oder müsse das Gegenteil von dem tun, was Schiller vorschreibt, ist<lb/>
schwer einzusehen. In Leipzig schlummern die beiden jungen Damen, die uus als<lb/>
Pagen vorgeführt werdeu, in bequemen Armflühlen vor dem Kamin. Im Hause<lb/>
einer alten Jungfer könnten Leibkatzen sichs auf dem molligsten Stuhle nicht be¬<lb/>
quemer machen und sich nicht gemächlicher dem neuen Tage entgegendehnen als<lb/>
diese beiden Pagen, die wir uns nach Schillers Absicht als vor Müdigkeit inmitten<lb/>
ihres Dienstes zusammengesunken und plötzlich durch des Königs Klingeln auf¬<lb/>
geschreckt denken sollen. Warum &#x2014; diese Frage ist keine unbeschcidne &#x2014;, warum<lb/>
schlägt man, trotz Schillers ausdrücklicher Weisung, ohne Not den Tatsachen ins<lb/>
Gesicht? Will man zu verstehn geben, daß man mit der für unser Gefühl etwas<lb/>
schonungsloser Behandlung, die man den aufwartenden Edelknaben zuteil werden<lb/>
ließ, nicht einverstanden und humaner als König Philipp und sein Cameriere<lb/>
Mnyor ist? Das wäre doch eine seltsame Art, unsre heutigen Anschauungen in<lb/>
vergangne Zeiten zu tragen, als ob man dadurch an den Verhältnissen, wie sie<lb/>
waren, auch nur ein Jota ändern könnte. Darauf, wie wir jetzt denken, kommt<lb/>
es bei der Inszenierung nicht an, und wenn wir gesonnen wären, den Kellnern,<lb/>
die in Nachtlokalen bedienen, Ruhebetten oder Schaukelstühle zu beschaffen, so hat<lb/>
diese menschenfreundliche Gesinnung keine rückwirkende Kraft. Es handelt sich viel¬<lb/>
mehr darum, wie es zu Philipps des Zweiten Zeit am Madrider Hof herging<lb/>
und wenn es, wie dies in der Tat der Fall ist, feststeht, daß den Pagen damals<lb/>
keine Armstühle an den Kamin gestellt wurden, damit sie darin ihr Schläfchen machen<lb/>
konnten, soudern daß, wenn sie der Schlummer übermannte, zu ihrer Bequemlich¬<lb/>
keit nur ein Kissen da war, worauf sie knien konnten, so sind die Leipziger Arm-<lb/>
stühle nicht bloß ein bedauerlicher, soudern, da man gewarnt war, ein freventlicher<lb/>
Anachronismus, deu sich eine Regie, die Sinn für geschichtliche Treue und echte<lb/>
Lokalfarbe hat, nicht zuschulden kommen lassen darf. Ist es denn, wenn man überlegt<lb/>
und sich ein bißchen umsieht, so schwer, sich den Unterschied der Zeiten und der in<lb/>
ihnen herrschenden Gewohnheiten zu vergegenwärtigen? Bei einem meiner Urgrvß-<lb/>
onkel mütterlicherseits hat sich vor hundert Jahren, als das Werk seiner Schlaf-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0056] Leipziger Dramaturgie Kritik schuld, wem, sie glaubt, es sei unter ihrer Würde, sich mit dergleichen zu beflissen. Denn tels Publikum kann nur durch sie in dieser Sache wirksam ver¬ trete» werden, und wenn es, weil die Kritik schweigt, seinen Schmerz in ein ent¬ rüstetes „Eingesandt" aushauchen will, so verhallt seine Stimme ungehört. Warum, nochmals auf den Don Karlos zu kommen, wird im ersten Austritt des dritten Aktes die ausdrückliche Weisung des Dichters unbeachtet gelassen? Schiller sagt: Im Hintergründe des Zimmers einige Pagen auf den Knieen, ein¬ geschlafen. Dieser Zug entspricht nicht bloß, wie schon früher bemerkt worden ist, der geschichtlichen Überlieferung, er ist auch für die Charakterisierung des damaligen spanischen Hofes bezeichnend. Die kastilische Etikette war steif, finster, unerbittlich, ja geradezu, wie das dem spanischen Charakter entspricht, fanatisch. Ein Heer reichbegüterter und einflußreicher Granden hatte sich jedes persönlichen Würde- und Uuabhäugigkeitsgefühls entäußert, um ihr Ideal, das absolute Königtum und dessen Vertreter, den König, wie über alle Köpfe, so auch über die ihren zu erhöhen. Daß ein Grande, der die Königin mit Gefahr des eignen Lebens aus ihren trennenden Gemächern gerettet hatte, im Namen der alles beherrschenden und berrorisierendeu Etikette bei einem Haare vom Leben zum Tode gebracht worden wäre, weil er die hohe Fran, um sie zu retten, angefaßt und auf seine Arme ge¬ nommen hatte, worauf, wollte man behaupten, Todesstrafe stehe, ist keine Legende. Mehrere Szenen des Schillerschen Don Karlos fallen wegen des neuzeitlichen Frei¬ sinns, den sie atmen, aus dem Rahmen der damaligen Zeit, und man sieht das, obwohl ungern, dem genialen Dichter nach, weil der Effekt, den er beabsichtigte, nur auf diese Weise zu erreichen war. Warum man sich aber in Fällen, wo er die echte unheimliche Farbe des durch Schrecken und Selbsterniedrigung zum Zerr¬ bild gewordnen damaligen spanischen Hofes trifft, anstellen will, als könne man nicht lesen, oder müsse das Gegenteil von dem tun, was Schiller vorschreibt, ist schwer einzusehen. In Leipzig schlummern die beiden jungen Damen, die uus als Pagen vorgeführt werdeu, in bequemen Armflühlen vor dem Kamin. Im Hause einer alten Jungfer könnten Leibkatzen sichs auf dem molligsten Stuhle nicht be¬ quemer machen und sich nicht gemächlicher dem neuen Tage entgegendehnen als diese beiden Pagen, die wir uns nach Schillers Absicht als vor Müdigkeit inmitten ihres Dienstes zusammengesunken und plötzlich durch des Königs Klingeln auf¬ geschreckt denken sollen. Warum — diese Frage ist keine unbeschcidne —, warum schlägt man, trotz Schillers ausdrücklicher Weisung, ohne Not den Tatsachen ins Gesicht? Will man zu verstehn geben, daß man mit der für unser Gefühl etwas schonungsloser Behandlung, die man den aufwartenden Edelknaben zuteil werden ließ, nicht einverstanden und humaner als König Philipp und sein Cameriere Mnyor ist? Das wäre doch eine seltsame Art, unsre heutigen Anschauungen in vergangne Zeiten zu tragen, als ob man dadurch an den Verhältnissen, wie sie waren, auch nur ein Jota ändern könnte. Darauf, wie wir jetzt denken, kommt es bei der Inszenierung nicht an, und wenn wir gesonnen wären, den Kellnern, die in Nachtlokalen bedienen, Ruhebetten oder Schaukelstühle zu beschaffen, so hat diese menschenfreundliche Gesinnung keine rückwirkende Kraft. Es handelt sich viel¬ mehr darum, wie es zu Philipps des Zweiten Zeit am Madrider Hof herging und wenn es, wie dies in der Tat der Fall ist, feststeht, daß den Pagen damals keine Armstühle an den Kamin gestellt wurden, damit sie darin ihr Schläfchen machen konnten, soudern daß, wenn sie der Schlummer übermannte, zu ihrer Bequemlich¬ keit nur ein Kissen da war, worauf sie knien konnten, so sind die Leipziger Arm- stühle nicht bloß ein bedauerlicher, soudern, da man gewarnt war, ein freventlicher Anachronismus, deu sich eine Regie, die Sinn für geschichtliche Treue und echte Lokalfarbe hat, nicht zuschulden kommen lassen darf. Ist es denn, wenn man überlegt und sich ein bißchen umsieht, so schwer, sich den Unterschied der Zeiten und der in ihnen herrschenden Gewohnheiten zu vergegenwärtigen? Bei einem meiner Urgrvß- onkel mütterlicherseits hat sich vor hundert Jahren, als das Werk seiner Schlaf-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/56
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/56>, abgerufen am 22.07.2024.