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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

matischen Stils versteht, arg die drei hochoffiziösen Äußerungen, die der "Nord¬
deutschen Allgemeinen Zeitung" und die beiden des ^ouin-et as Le. ^gtorsdouiA, in
eine Gleichung bringen, vielleicht findet er heraus, weis x, das große Unbekannte,
in der entsprechenden Formel bedeutet. Hinzugefügt mag noch werden, daß der
Petersburger Kommentar zu der Zusammenkunft des Grafen Lamsdorff mit Herrn
Delcasst in den Worten gipfelte, daß sie "nur der großen Sache der Aufrecht¬
erhaltung des Friedens dienen könne, der in den Wünschen und in den Interessen
der beiden Länder liegt." Rußland hat schwerlich ein Interesse daran, die Be¬
wegung auf dem Balkan einen europäischen Charakter annehmen zu sehen. Das
würde geschehen in dem Augenblick, wo sich Frankreich einmischt, die Einmischung
Englands und des ohnehin schon sehr ungeduldigen Italiens wäre damit gegeben.
Das könnte allerdings eine Gefahr für den Frieden mit neuen Gruppierungen und
unberechenbaren Folgen werden. Voraussichtlich hat Graf Lamsdorff in Paris von
Herrn Deleasse Zusagen verlangt und erhalten, die ihm "auf demi Wege nach Wies¬
baden" nicht versagt werden konnten.

Ob und welches positive Ergebnis die deutsch-russische Begegnung diesesmal
gehabt hat, wird zunächst wohl aus den Entwicklungen selbst entnommen werden
müssen. Streitpunkte zwischen uns und Nußland waren nicht zu begleichen, weil
keine bestanden, es kamen mithin nur Erwägungen xro krctnro in Betracht. Die
von Rußland mit Österreich gemeinsam unternommne Aktion in Konstantinopel hatte
von Anfang an Deutschlands Unterstützung, weil sie darauf gerichtet ist, die Er¬
haltung der Herrschaft des Sultans mit der unabweislichen Besserung der Zustände
in Makedonien in Übereinstimmung zu bringen. Einstweilen bezeigt die Pforte
noch wenig Neigung, sich den Vorschlägen der beiden Mächte anzubequemen. Eine
dauernd ablehnende Haltung würde unvermeidlich zur Folge haben, daß die Fort¬
dauer der türkischen Herrschaft über christliche Völkerschaften überhaupt in Frage
gestellt würde. Indem Deutschland im Sinne jener Vorschläge in Konstantinopel
tätig ist, leistet es zugleich dem Sultan und Rußland einen Dienst, da Rußland
wenig daran liegen dürfte, im jetzigen Augenblick durch eine europäische Aktion auf
dem Balkan festgelegt zu werden. Andre Mächte werden vielleicht das entgegen¬
gesetzte Interesse haben. Die Frage ist, wie weit hier die französisch-englische
Entente reicht. Man darf annehmen, daß über die weitern möglichen Entwicklungen
in Darmstadt eine Verständigung.erfolgt ist. Auch die auf beiden Seiten bestehende
feste Absicht, über den Handelsvertrag zu einem Einvernehmen zu gelangen, wird
bei dieser Begegnung von neuem erhärtet wo"den sein.

Bei dieser Gelegenheit kann man in Deutschland wohl hören: Ja, seht diese Russen!
Sie halten keine Reden, machen keinerlei Schaugepränge, aber sie stecken sich große
Ziele, die sie gegen jeden Widerspruch der Mächte erreichen. So haben sie die
Wiesbadner Begegnung durch die gleichzeitige Besetzung von Mugdeu begangen,
die wohl unter allen Umständen als eine endgiltige anzusehen ist. Was tun nun
-- heißt es weiter -- wir Deutschen? Nichts. Wir halten Reden und enthüllen Denk¬
mäler. Solchem Raisonnement gegenüber, das auf den ersten Anblick hin ganz plausibel
aussieht, darf wohl daran erinnert werden, daß sich die russische Erwerbung des
asiatischen Kontinents nach der Methode des großen Fettflecks vollzieht, der sich
unaufhaltsam von seiner Basis aus ausdehnt. Rußland schiebt dabei doch nur seiue
Landgrenzen vor, ein Kunststück, das wir ihm nicht nachmachen können, weil an
unsern Landgrenzen drei europäische Großmächte sitzen, und England als vierte unsre
Seegrenzen eifersüchtig bewacht. Wäre Rußland für seine asiatischen Gebietser¬
weiterungen auf den Seeweg von Kro"stadt aus angewiesen, so würde es sich wahr¬
scheinlich hüten, das Geschäft in solchem Umfange zu betreibe". Außerdem steht der
russischen Politik kein Bundesrat und kein Reichstag, namentlich kein Reichstag zur
Seite. In Rußland findet man keinen Abgeordneten Richter, der den gegemvärtigen
Augenblick zu der Äußerung in seiner Zeitung für angezeigt hält, "die ostasiatische
Expedition müsse doch endlich einmal aufhören," während die Dinge in China eher
danach aussehen, daß die Expedition vielleicht bald wieder von neuem anfangen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

matischen Stils versteht, arg die drei hochoffiziösen Äußerungen, die der „Nord¬
deutschen Allgemeinen Zeitung" und die beiden des ^ouin-et as Le. ^gtorsdouiA, in
eine Gleichung bringen, vielleicht findet er heraus, weis x, das große Unbekannte,
in der entsprechenden Formel bedeutet. Hinzugefügt mag noch werden, daß der
Petersburger Kommentar zu der Zusammenkunft des Grafen Lamsdorff mit Herrn
Delcasst in den Worten gipfelte, daß sie „nur der großen Sache der Aufrecht¬
erhaltung des Friedens dienen könne, der in den Wünschen und in den Interessen
der beiden Länder liegt." Rußland hat schwerlich ein Interesse daran, die Be¬
wegung auf dem Balkan einen europäischen Charakter annehmen zu sehen. Das
würde geschehen in dem Augenblick, wo sich Frankreich einmischt, die Einmischung
Englands und des ohnehin schon sehr ungeduldigen Italiens wäre damit gegeben.
Das könnte allerdings eine Gefahr für den Frieden mit neuen Gruppierungen und
unberechenbaren Folgen werden. Voraussichtlich hat Graf Lamsdorff in Paris von
Herrn Deleasse Zusagen verlangt und erhalten, die ihm „auf demi Wege nach Wies¬
baden" nicht versagt werden konnten.

Ob und welches positive Ergebnis die deutsch-russische Begegnung diesesmal
gehabt hat, wird zunächst wohl aus den Entwicklungen selbst entnommen werden
müssen. Streitpunkte zwischen uns und Nußland waren nicht zu begleichen, weil
keine bestanden, es kamen mithin nur Erwägungen xro krctnro in Betracht. Die
von Rußland mit Österreich gemeinsam unternommne Aktion in Konstantinopel hatte
von Anfang an Deutschlands Unterstützung, weil sie darauf gerichtet ist, die Er¬
haltung der Herrschaft des Sultans mit der unabweislichen Besserung der Zustände
in Makedonien in Übereinstimmung zu bringen. Einstweilen bezeigt die Pforte
noch wenig Neigung, sich den Vorschlägen der beiden Mächte anzubequemen. Eine
dauernd ablehnende Haltung würde unvermeidlich zur Folge haben, daß die Fort¬
dauer der türkischen Herrschaft über christliche Völkerschaften überhaupt in Frage
gestellt würde. Indem Deutschland im Sinne jener Vorschläge in Konstantinopel
tätig ist, leistet es zugleich dem Sultan und Rußland einen Dienst, da Rußland
wenig daran liegen dürfte, im jetzigen Augenblick durch eine europäische Aktion auf
dem Balkan festgelegt zu werden. Andre Mächte werden vielleicht das entgegen¬
gesetzte Interesse haben. Die Frage ist, wie weit hier die französisch-englische
Entente reicht. Man darf annehmen, daß über die weitern möglichen Entwicklungen
in Darmstadt eine Verständigung.erfolgt ist. Auch die auf beiden Seiten bestehende
feste Absicht, über den Handelsvertrag zu einem Einvernehmen zu gelangen, wird
bei dieser Begegnung von neuem erhärtet wo"den sein.

Bei dieser Gelegenheit kann man in Deutschland wohl hören: Ja, seht diese Russen!
Sie halten keine Reden, machen keinerlei Schaugepränge, aber sie stecken sich große
Ziele, die sie gegen jeden Widerspruch der Mächte erreichen. So haben sie die
Wiesbadner Begegnung durch die gleichzeitige Besetzung von Mugdeu begangen,
die wohl unter allen Umständen als eine endgiltige anzusehen ist. Was tun nun
— heißt es weiter — wir Deutschen? Nichts. Wir halten Reden und enthüllen Denk¬
mäler. Solchem Raisonnement gegenüber, das auf den ersten Anblick hin ganz plausibel
aussieht, darf wohl daran erinnert werden, daß sich die russische Erwerbung des
asiatischen Kontinents nach der Methode des großen Fettflecks vollzieht, der sich
unaufhaltsam von seiner Basis aus ausdehnt. Rußland schiebt dabei doch nur seiue
Landgrenzen vor, ein Kunststück, das wir ihm nicht nachmachen können, weil an
unsern Landgrenzen drei europäische Großmächte sitzen, und England als vierte unsre
Seegrenzen eifersüchtig bewacht. Wäre Rußland für seine asiatischen Gebietser¬
weiterungen auf den Seeweg von Kro»stadt aus angewiesen, so würde es sich wahr¬
scheinlich hüten, das Geschäft in solchem Umfange zu betreibe». Außerdem steht der
russischen Politik kein Bundesrat und kein Reichstag, namentlich kein Reichstag zur
Seite. In Rußland findet man keinen Abgeordneten Richter, der den gegemvärtigen
Augenblick zu der Äußerung in seiner Zeitung für angezeigt hält, „die ostasiatische
Expedition müsse doch endlich einmal aufhören," während die Dinge in China eher
danach aussehen, daß die Expedition vielleicht bald wieder von neuem anfangen


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[0468] Maßgebliches und Unmaßgebliches matischen Stils versteht, arg die drei hochoffiziösen Äußerungen, die der „Nord¬ deutschen Allgemeinen Zeitung" und die beiden des ^ouin-et as Le. ^gtorsdouiA, in eine Gleichung bringen, vielleicht findet er heraus, weis x, das große Unbekannte, in der entsprechenden Formel bedeutet. Hinzugefügt mag noch werden, daß der Petersburger Kommentar zu der Zusammenkunft des Grafen Lamsdorff mit Herrn Delcasst in den Worten gipfelte, daß sie „nur der großen Sache der Aufrecht¬ erhaltung des Friedens dienen könne, der in den Wünschen und in den Interessen der beiden Länder liegt." Rußland hat schwerlich ein Interesse daran, die Be¬ wegung auf dem Balkan einen europäischen Charakter annehmen zu sehen. Das würde geschehen in dem Augenblick, wo sich Frankreich einmischt, die Einmischung Englands und des ohnehin schon sehr ungeduldigen Italiens wäre damit gegeben. Das könnte allerdings eine Gefahr für den Frieden mit neuen Gruppierungen und unberechenbaren Folgen werden. Voraussichtlich hat Graf Lamsdorff in Paris von Herrn Deleasse Zusagen verlangt und erhalten, die ihm „auf demi Wege nach Wies¬ baden" nicht versagt werden konnten. Ob und welches positive Ergebnis die deutsch-russische Begegnung diesesmal gehabt hat, wird zunächst wohl aus den Entwicklungen selbst entnommen werden müssen. Streitpunkte zwischen uns und Nußland waren nicht zu begleichen, weil keine bestanden, es kamen mithin nur Erwägungen xro krctnro in Betracht. Die von Rußland mit Österreich gemeinsam unternommne Aktion in Konstantinopel hatte von Anfang an Deutschlands Unterstützung, weil sie darauf gerichtet ist, die Er¬ haltung der Herrschaft des Sultans mit der unabweislichen Besserung der Zustände in Makedonien in Übereinstimmung zu bringen. Einstweilen bezeigt die Pforte noch wenig Neigung, sich den Vorschlägen der beiden Mächte anzubequemen. Eine dauernd ablehnende Haltung würde unvermeidlich zur Folge haben, daß die Fort¬ dauer der türkischen Herrschaft über christliche Völkerschaften überhaupt in Frage gestellt würde. Indem Deutschland im Sinne jener Vorschläge in Konstantinopel tätig ist, leistet es zugleich dem Sultan und Rußland einen Dienst, da Rußland wenig daran liegen dürfte, im jetzigen Augenblick durch eine europäische Aktion auf dem Balkan festgelegt zu werden. Andre Mächte werden vielleicht das entgegen¬ gesetzte Interesse haben. Die Frage ist, wie weit hier die französisch-englische Entente reicht. Man darf annehmen, daß über die weitern möglichen Entwicklungen in Darmstadt eine Verständigung.erfolgt ist. Auch die auf beiden Seiten bestehende feste Absicht, über den Handelsvertrag zu einem Einvernehmen zu gelangen, wird bei dieser Begegnung von neuem erhärtet wo"den sein. Bei dieser Gelegenheit kann man in Deutschland wohl hören: Ja, seht diese Russen! Sie halten keine Reden, machen keinerlei Schaugepränge, aber sie stecken sich große Ziele, die sie gegen jeden Widerspruch der Mächte erreichen. So haben sie die Wiesbadner Begegnung durch die gleichzeitige Besetzung von Mugdeu begangen, die wohl unter allen Umständen als eine endgiltige anzusehen ist. Was tun nun — heißt es weiter — wir Deutschen? Nichts. Wir halten Reden und enthüllen Denk¬ mäler. Solchem Raisonnement gegenüber, das auf den ersten Anblick hin ganz plausibel aussieht, darf wohl daran erinnert werden, daß sich die russische Erwerbung des asiatischen Kontinents nach der Methode des großen Fettflecks vollzieht, der sich unaufhaltsam von seiner Basis aus ausdehnt. Rußland schiebt dabei doch nur seiue Landgrenzen vor, ein Kunststück, das wir ihm nicht nachmachen können, weil an unsern Landgrenzen drei europäische Großmächte sitzen, und England als vierte unsre Seegrenzen eifersüchtig bewacht. Wäre Rußland für seine asiatischen Gebietser¬ weiterungen auf den Seeweg von Kro»stadt aus angewiesen, so würde es sich wahr¬ scheinlich hüten, das Geschäft in solchem Umfange zu betreibe». Außerdem steht der russischen Politik kein Bundesrat und kein Reichstag, namentlich kein Reichstag zur Seite. In Rußland findet man keinen Abgeordneten Richter, der den gegemvärtigen Augenblick zu der Äußerung in seiner Zeitung für angezeigt hält, „die ostasiatische Expedition müsse doch endlich einmal aufhören," während die Dinge in China eher danach aussehen, daß die Expedition vielleicht bald wieder von neuem anfangen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/468>, abgerufen am 01.07.2024.