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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung

Norddeutschen meist eigen ist, das, was er "gemütlich" nennt. Das stramme
Wesen und die straffe Tätigkeit sind ihm unbehaglich. So sagte auch Ende der
sechziger Jahre ein süddeutscher Offizier im kameradschaftlichen Kreise zu einem
preußischen, der mit der Aufgabe in das süddeutsche Kontingent kommandiert
worden war, bei der Überführung in preußische Militärverhältnisse tätig und
behilflich zu sein: "Ja, das ist ja alles ganz schön und gut in Preußen, aber
ihr Preußen selbst, ihr müßt gemütlicher sein!" Sofort antwortete der Preuße
schlagfertig: "Ja, lieber Freund, zur Gemütlichkeit haben wir gar keine Zeit!"
Und darin hatte er Recht, denn von 1866 bis 1870 mußten die süddeutschen
Kontingente den preußischen Truppen gleich organisiert und ausgebildet werden.
Dazu konnte man keine Gemütlichkeit brauchen. Daß aber der Zweck 187V
erreicht wurde, ist wieder ein Beweis von der deutschen Leistungsfähigkeit, sobald
der ernste Wille da ist. Mochte doch dieser ernste Wille auch in unserm Reichs¬
tage wieder hervortreten. Sachlich sollte beraten und beschlossen werden, nicht
nach Parteiinteressen, und vor allem, wer sich wählen läßt, der müßte auch
im Reichstag gegenwärtig sein und dürfte sich nicht mit der Diätenlosigkeit ent¬
schuldigen, denn er hat ja vor seiner Wahl gewußt, daß er keine Tagegelder
bekommt.

So wenig ich Frankreich und England als Musterstaaten aufstellen will,
so muß man doch die Einigkeit in beiden Staaten darin anerkennen, daß sie
die Forderungen der Regierung für Heer und Flotte jederzeit annehmen, manchmal
sogar noch erhöhen. Wo es das Wohl und die Größe des Vaterlandes gilt,
herrscht in jedem dieser beiden Völker unbedingte Einigkeit. Möchten sich unsre
Bundesstaaten und unser Reichstag endlich daran ein Beispiel nehmen und den
deutscheu Partikularismus, der ja in Zeiten wie 1870 schwindet, aber in andern
^- v. H. Zeiten sofort wiederkehrt, endlich für immer verbannen!




Wesen und Wirkung
der gesetzlichen Freiheitsentziehung
Ein Beitrag zur Gefängnisxsychologie (Schluß)
7

as Charakteristische der Jsolierhaft liegt in der Einsamkeit. "In
der Einsamkeit des Kerkers über seine Schandtaten nachdenken" --
das ist so eine beliebte gedankenlose Nomanphrase, der man
übrigens auch bisweilen in Staatsanwalts-Plaidoyers begegnet.
Tun das wohl die Isolierten? Sie denken gar nicht daran,
und sie wären Narren, wenn sie es täten. Es ist eine wunderbar schöne
Sache um die Einsamkeit für den, der davon Gebrauch zu machen weiß.
Gerade in der aufreibenden Hast unsers heutigen Verkehrs, in der drängenden,
lärmenden Jagd nach dem Glück, in dem Übermaß gesellschaftlichen Treibens


Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung

Norddeutschen meist eigen ist, das, was er „gemütlich" nennt. Das stramme
Wesen und die straffe Tätigkeit sind ihm unbehaglich. So sagte auch Ende der
sechziger Jahre ein süddeutscher Offizier im kameradschaftlichen Kreise zu einem
preußischen, der mit der Aufgabe in das süddeutsche Kontingent kommandiert
worden war, bei der Überführung in preußische Militärverhältnisse tätig und
behilflich zu sein: „Ja, das ist ja alles ganz schön und gut in Preußen, aber
ihr Preußen selbst, ihr müßt gemütlicher sein!" Sofort antwortete der Preuße
schlagfertig: „Ja, lieber Freund, zur Gemütlichkeit haben wir gar keine Zeit!"
Und darin hatte er Recht, denn von 1866 bis 1870 mußten die süddeutschen
Kontingente den preußischen Truppen gleich organisiert und ausgebildet werden.
Dazu konnte man keine Gemütlichkeit brauchen. Daß aber der Zweck 187V
erreicht wurde, ist wieder ein Beweis von der deutschen Leistungsfähigkeit, sobald
der ernste Wille da ist. Mochte doch dieser ernste Wille auch in unserm Reichs¬
tage wieder hervortreten. Sachlich sollte beraten und beschlossen werden, nicht
nach Parteiinteressen, und vor allem, wer sich wählen läßt, der müßte auch
im Reichstag gegenwärtig sein und dürfte sich nicht mit der Diätenlosigkeit ent¬
schuldigen, denn er hat ja vor seiner Wahl gewußt, daß er keine Tagegelder
bekommt.

So wenig ich Frankreich und England als Musterstaaten aufstellen will,
so muß man doch die Einigkeit in beiden Staaten darin anerkennen, daß sie
die Forderungen der Regierung für Heer und Flotte jederzeit annehmen, manchmal
sogar noch erhöhen. Wo es das Wohl und die Größe des Vaterlandes gilt,
herrscht in jedem dieser beiden Völker unbedingte Einigkeit. Möchten sich unsre
Bundesstaaten und unser Reichstag endlich daran ein Beispiel nehmen und den
deutscheu Partikularismus, der ja in Zeiten wie 1870 schwindet, aber in andern
^- v. H. Zeiten sofort wiederkehrt, endlich für immer verbannen!




Wesen und Wirkung
der gesetzlichen Freiheitsentziehung
Ein Beitrag zur Gefängnisxsychologie (Schluß)
7

as Charakteristische der Jsolierhaft liegt in der Einsamkeit. „In
der Einsamkeit des Kerkers über seine Schandtaten nachdenken" —
das ist so eine beliebte gedankenlose Nomanphrase, der man
übrigens auch bisweilen in Staatsanwalts-Plaidoyers begegnet.
Tun das wohl die Isolierten? Sie denken gar nicht daran,
und sie wären Narren, wenn sie es täten. Es ist eine wunderbar schöne
Sache um die Einsamkeit für den, der davon Gebrauch zu machen weiß.
Gerade in der aufreibenden Hast unsers heutigen Verkehrs, in der drängenden,
lärmenden Jagd nach dem Glück, in dem Übermaß gesellschaftlichen Treibens


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[0366] Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung Norddeutschen meist eigen ist, das, was er „gemütlich" nennt. Das stramme Wesen und die straffe Tätigkeit sind ihm unbehaglich. So sagte auch Ende der sechziger Jahre ein süddeutscher Offizier im kameradschaftlichen Kreise zu einem preußischen, der mit der Aufgabe in das süddeutsche Kontingent kommandiert worden war, bei der Überführung in preußische Militärverhältnisse tätig und behilflich zu sein: „Ja, das ist ja alles ganz schön und gut in Preußen, aber ihr Preußen selbst, ihr müßt gemütlicher sein!" Sofort antwortete der Preuße schlagfertig: „Ja, lieber Freund, zur Gemütlichkeit haben wir gar keine Zeit!" Und darin hatte er Recht, denn von 1866 bis 1870 mußten die süddeutschen Kontingente den preußischen Truppen gleich organisiert und ausgebildet werden. Dazu konnte man keine Gemütlichkeit brauchen. Daß aber der Zweck 187V erreicht wurde, ist wieder ein Beweis von der deutschen Leistungsfähigkeit, sobald der ernste Wille da ist. Mochte doch dieser ernste Wille auch in unserm Reichs¬ tage wieder hervortreten. Sachlich sollte beraten und beschlossen werden, nicht nach Parteiinteressen, und vor allem, wer sich wählen läßt, der müßte auch im Reichstag gegenwärtig sein und dürfte sich nicht mit der Diätenlosigkeit ent¬ schuldigen, denn er hat ja vor seiner Wahl gewußt, daß er keine Tagegelder bekommt. So wenig ich Frankreich und England als Musterstaaten aufstellen will, so muß man doch die Einigkeit in beiden Staaten darin anerkennen, daß sie die Forderungen der Regierung für Heer und Flotte jederzeit annehmen, manchmal sogar noch erhöhen. Wo es das Wohl und die Größe des Vaterlandes gilt, herrscht in jedem dieser beiden Völker unbedingte Einigkeit. Möchten sich unsre Bundesstaaten und unser Reichstag endlich daran ein Beispiel nehmen und den deutscheu Partikularismus, der ja in Zeiten wie 1870 schwindet, aber in andern ^- v. H. Zeiten sofort wiederkehrt, endlich für immer verbannen! Wesen und Wirkung der gesetzlichen Freiheitsentziehung Ein Beitrag zur Gefängnisxsychologie (Schluß) 7 as Charakteristische der Jsolierhaft liegt in der Einsamkeit. „In der Einsamkeit des Kerkers über seine Schandtaten nachdenken" — das ist so eine beliebte gedankenlose Nomanphrase, der man übrigens auch bisweilen in Staatsanwalts-Plaidoyers begegnet. Tun das wohl die Isolierten? Sie denken gar nicht daran, und sie wären Narren, wenn sie es täten. Es ist eine wunderbar schöne Sache um die Einsamkeit für den, der davon Gebrauch zu machen weiß. Gerade in der aufreibenden Hast unsers heutigen Verkehrs, in der drängenden, lärmenden Jagd nach dem Glück, in dem Übermaß gesellschaftlichen Treibens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/366>, abgerufen am 03.07.2024.