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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Es kommt doch weit weniger darauf an, daß jeder Staat dort seine bestimmte
Anzahl Räte in den Hafen der Ruhe bringt, als daß die tüchtigsten Kräfte hinein¬
kommen. In dem einen wie in dem andern Falle vermag der Reichsgerichts-
prasidcnt aus sich heraus nicht Abhilfe zu schaffen, aber seiner wohlerwognen,
kräftigen und nachhaltigen Initiative kaun manches gelingen. Der Umstand, daß
er dem Reichsjustizamt angehörte, und daß er somit einen Überblick über alle in
Betracht kommenden Verhältnisse von ihrem Mittelpunkt aus hat, wird ihm das
wesentlich erleichtern. Es kommt bei dem Reichsgericht doch nicht an erster Stelle
darauf an, daß die laudsmannschaftlichen Wünsche und Interessen Genüge finden,
sondern daß die Rechtspflege an oberster Stelle so gut wie möglich geordnet ist
und von den besten Kräften verwaltet wird.

Zu der ernsten Lage, in der unsre innere Reichspolitik ist, um nur von dieser
zu reden, steht in auffälligen Gegensatz die von Jahr zu Jahr wachsende Pflege
des Äußerlichen. Denkmalsenthüllungen ohne Ende, Feste aller Art, Reden über
Reden, Kongresse, die kaum noch zu zählen sind. Bei diesen letzte" hat sich jetzt
die Spezialität ausgebildet, daß sich nicht nur die gelehrten und geehrten Mitglieder
in Person einfinden, sondern daß sie auch die Gattinnen, Schwestern, Töchter und
Nichten mitbringen. Sicherlich wird das Bild des Kongresses, namentlich das
Phvtvgraphische, dadurch wesentlich anmutiger, der Empfangsabend und das Fest¬
mahl weniger langweilig, auch der Spielraum für die Erfindung vou Festabzeichen
in Broschen und Schleifen wesentlich größer. Das alles ist gewiß für viele Leute
und namentlich für die betreffenden Damen recht erfreulich, aber der Ernst der
Sache leidet darunter. Das Vergnügungs- und Sehenswürdigkeitenprogramm wird
immer umfangreicher, Berlin bildet sich immer mehr zu einer Stadt der Phäaken
aus, wo sich ununterbrochen am Herde der Spieß dreht. Freilich ist es in ganz
Deutschland nicht viel anders. Die Nation in ihren gebildeter" Schichten ist in
einen Erschlaffungszustand verfallen. Festlichkeiten, Ausstellungen, Feiern aller Art,
aber kein Sichaufraffen zu ernster politischer Arbeit. Man spricht so oft von "re¬
gierenden Klassen." Das sollen doch nicht die Berufsklassen sein, denen die höhern
Beamten usw. entstammen, sondern es sind darunter die Klassen, d. h. die gebildeten
Kreise unsers Volks zu versteh", die an der Regierung des Reichs und seiner Teile
unter ernster Verantwortlichkeit mitzuwirken haben: die große Phalanx, durch die
allein das Reich auf seiner Höhe zu erhalten ist. Es gewinnt den Anschein, als
ob diese Klassen anfangen zu versagen. -- Brauchen wir wirklich schon wieder ein
Sokrates, aber nicht "der Sturmgeselle" großes Läuterungsfeuer?

Weil sie nicht rasch genug vorwärts kamen, soll nach einem der
Prvzeßbcrichte, deren Richtigkeit zu prüfen ich nicht in der Lage bin, der un¬
glückliche Bankdirektor seine Sohne aus der bewährten Erziehungsanstalt Haubinda
weggenommen und in die unumschränkte Gewalt eines unbekannten jungen Menschen
gegeben haben, dessen Scheusalnatur eine sorgfältige längere Beobachtung wohl er¬
kannt haben würde, auch wem? man ihr nicht die bequeme Gelegenheit dargeboten
heilte, sich voll zu entfalte". Wenn die Lesart richtig ist, dann ist sie charakteristisch
für unsre Zeit im allgemeinen und für die eine Seite unsers Erziehungswesens
im besondern. Rasch vorwärts kommen, das ist heute die Losung. Wohin und zu
Welchem Zweck? Danach wird erst nachträglich und manchmal gar nicht gefragt.
Bloß des Rekords wegen, um eher den Hals zu brechen als alle rudern. Bricht
man ihn nicht, so radelt, autelt oder spekuliert man zurück, ist auf demselben Fleck
wie vorher und sieht sich nach einer Gelegenheit zu einem neuen Rekord um.
Freilich ist das Leben Bewegung, aber nur die vernünftigen Wesen bringen es
fertig, sich zwecklos zu bewegen; die Gestirne und die Tiere haben einen Zweck bet
jeder Bewegung. So treibt man den" auch die Schüler vorwärts, immer vor¬
wärts, ohne danach zu fragen, ob das Tempo der ihnen zugemuteten geistigen Be¬
wegung ihren Anlagen entspricht. Manchmal ist es ja sogar z" langsam, den" es
gibt Genies, und es gehört eben zu de" für unvermeidlich gehaltne" Übelstände"


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Es kommt doch weit weniger darauf an, daß jeder Staat dort seine bestimmte
Anzahl Räte in den Hafen der Ruhe bringt, als daß die tüchtigsten Kräfte hinein¬
kommen. In dem einen wie in dem andern Falle vermag der Reichsgerichts-
prasidcnt aus sich heraus nicht Abhilfe zu schaffen, aber seiner wohlerwognen,
kräftigen und nachhaltigen Initiative kaun manches gelingen. Der Umstand, daß
er dem Reichsjustizamt angehörte, und daß er somit einen Überblick über alle in
Betracht kommenden Verhältnisse von ihrem Mittelpunkt aus hat, wird ihm das
wesentlich erleichtern. Es kommt bei dem Reichsgericht doch nicht an erster Stelle
darauf an, daß die laudsmannschaftlichen Wünsche und Interessen Genüge finden,
sondern daß die Rechtspflege an oberster Stelle so gut wie möglich geordnet ist
und von den besten Kräften verwaltet wird.

Zu der ernsten Lage, in der unsre innere Reichspolitik ist, um nur von dieser
zu reden, steht in auffälligen Gegensatz die von Jahr zu Jahr wachsende Pflege
des Äußerlichen. Denkmalsenthüllungen ohne Ende, Feste aller Art, Reden über
Reden, Kongresse, die kaum noch zu zählen sind. Bei diesen letzte» hat sich jetzt
die Spezialität ausgebildet, daß sich nicht nur die gelehrten und geehrten Mitglieder
in Person einfinden, sondern daß sie auch die Gattinnen, Schwestern, Töchter und
Nichten mitbringen. Sicherlich wird das Bild des Kongresses, namentlich das
Phvtvgraphische, dadurch wesentlich anmutiger, der Empfangsabend und das Fest¬
mahl weniger langweilig, auch der Spielraum für die Erfindung vou Festabzeichen
in Broschen und Schleifen wesentlich größer. Das alles ist gewiß für viele Leute
und namentlich für die betreffenden Damen recht erfreulich, aber der Ernst der
Sache leidet darunter. Das Vergnügungs- und Sehenswürdigkeitenprogramm wird
immer umfangreicher, Berlin bildet sich immer mehr zu einer Stadt der Phäaken
aus, wo sich ununterbrochen am Herde der Spieß dreht. Freilich ist es in ganz
Deutschland nicht viel anders. Die Nation in ihren gebildeter» Schichten ist in
einen Erschlaffungszustand verfallen. Festlichkeiten, Ausstellungen, Feiern aller Art,
aber kein Sichaufraffen zu ernster politischer Arbeit. Man spricht so oft von „re¬
gierenden Klassen." Das sollen doch nicht die Berufsklassen sein, denen die höhern
Beamten usw. entstammen, sondern es sind darunter die Klassen, d. h. die gebildeten
Kreise unsers Volks zu versteh», die an der Regierung des Reichs und seiner Teile
unter ernster Verantwortlichkeit mitzuwirken haben: die große Phalanx, durch die
allein das Reich auf seiner Höhe zu erhalten ist. Es gewinnt den Anschein, als
ob diese Klassen anfangen zu versagen. — Brauchen wir wirklich schon wieder ein
Sokrates, aber nicht „der Sturmgeselle" großes Läuterungsfeuer?

Weil sie nicht rasch genug vorwärts kamen, soll nach einem der
Prvzeßbcrichte, deren Richtigkeit zu prüfen ich nicht in der Lage bin, der un¬
glückliche Bankdirektor seine Sohne aus der bewährten Erziehungsanstalt Haubinda
weggenommen und in die unumschränkte Gewalt eines unbekannten jungen Menschen
gegeben haben, dessen Scheusalnatur eine sorgfältige längere Beobachtung wohl er¬
kannt haben würde, auch wem? man ihr nicht die bequeme Gelegenheit dargeboten
heilte, sich voll zu entfalte». Wenn die Lesart richtig ist, dann ist sie charakteristisch
für unsre Zeit im allgemeinen und für die eine Seite unsers Erziehungswesens
im besondern. Rasch vorwärts kommen, das ist heute die Losung. Wohin und zu
Welchem Zweck? Danach wird erst nachträglich und manchmal gar nicht gefragt.
Bloß des Rekords wegen, um eher den Hals zu brechen als alle rudern. Bricht
man ihn nicht, so radelt, autelt oder spekuliert man zurück, ist auf demselben Fleck
wie vorher und sieht sich nach einer Gelegenheit zu einem neuen Rekord um.
Freilich ist das Leben Bewegung, aber nur die vernünftigen Wesen bringen es
fertig, sich zwecklos zu bewegen; die Gestirne und die Tiere haben einen Zweck bet
jeder Bewegung. So treibt man den» auch die Schüler vorwärts, immer vor¬
wärts, ohne danach zu fragen, ob das Tempo der ihnen zugemuteten geistigen Be¬
wegung ihren Anlagen entspricht. Manchmal ist es ja sogar z» langsam, den» es
gibt Genies, und es gehört eben zu de» für unvermeidlich gehaltne» Übelstände»


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[0343] Maßgebliches und Unmaßgebliches Es kommt doch weit weniger darauf an, daß jeder Staat dort seine bestimmte Anzahl Räte in den Hafen der Ruhe bringt, als daß die tüchtigsten Kräfte hinein¬ kommen. In dem einen wie in dem andern Falle vermag der Reichsgerichts- prasidcnt aus sich heraus nicht Abhilfe zu schaffen, aber seiner wohlerwognen, kräftigen und nachhaltigen Initiative kaun manches gelingen. Der Umstand, daß er dem Reichsjustizamt angehörte, und daß er somit einen Überblick über alle in Betracht kommenden Verhältnisse von ihrem Mittelpunkt aus hat, wird ihm das wesentlich erleichtern. Es kommt bei dem Reichsgericht doch nicht an erster Stelle darauf an, daß die laudsmannschaftlichen Wünsche und Interessen Genüge finden, sondern daß die Rechtspflege an oberster Stelle so gut wie möglich geordnet ist und von den besten Kräften verwaltet wird. Zu der ernsten Lage, in der unsre innere Reichspolitik ist, um nur von dieser zu reden, steht in auffälligen Gegensatz die von Jahr zu Jahr wachsende Pflege des Äußerlichen. Denkmalsenthüllungen ohne Ende, Feste aller Art, Reden über Reden, Kongresse, die kaum noch zu zählen sind. Bei diesen letzte» hat sich jetzt die Spezialität ausgebildet, daß sich nicht nur die gelehrten und geehrten Mitglieder in Person einfinden, sondern daß sie auch die Gattinnen, Schwestern, Töchter und Nichten mitbringen. Sicherlich wird das Bild des Kongresses, namentlich das Phvtvgraphische, dadurch wesentlich anmutiger, der Empfangsabend und das Fest¬ mahl weniger langweilig, auch der Spielraum für die Erfindung vou Festabzeichen in Broschen und Schleifen wesentlich größer. Das alles ist gewiß für viele Leute und namentlich für die betreffenden Damen recht erfreulich, aber der Ernst der Sache leidet darunter. Das Vergnügungs- und Sehenswürdigkeitenprogramm wird immer umfangreicher, Berlin bildet sich immer mehr zu einer Stadt der Phäaken aus, wo sich ununterbrochen am Herde der Spieß dreht. Freilich ist es in ganz Deutschland nicht viel anders. Die Nation in ihren gebildeter» Schichten ist in einen Erschlaffungszustand verfallen. Festlichkeiten, Ausstellungen, Feiern aller Art, aber kein Sichaufraffen zu ernster politischer Arbeit. Man spricht so oft von „re¬ gierenden Klassen." Das sollen doch nicht die Berufsklassen sein, denen die höhern Beamten usw. entstammen, sondern es sind darunter die Klassen, d. h. die gebildeten Kreise unsers Volks zu versteh», die an der Regierung des Reichs und seiner Teile unter ernster Verantwortlichkeit mitzuwirken haben: die große Phalanx, durch die allein das Reich auf seiner Höhe zu erhalten ist. Es gewinnt den Anschein, als ob diese Klassen anfangen zu versagen. — Brauchen wir wirklich schon wieder ein Sokrates, aber nicht „der Sturmgeselle" großes Läuterungsfeuer? Weil sie nicht rasch genug vorwärts kamen, soll nach einem der Prvzeßbcrichte, deren Richtigkeit zu prüfen ich nicht in der Lage bin, der un¬ glückliche Bankdirektor seine Sohne aus der bewährten Erziehungsanstalt Haubinda weggenommen und in die unumschränkte Gewalt eines unbekannten jungen Menschen gegeben haben, dessen Scheusalnatur eine sorgfältige längere Beobachtung wohl er¬ kannt haben würde, auch wem? man ihr nicht die bequeme Gelegenheit dargeboten heilte, sich voll zu entfalte». Wenn die Lesart richtig ist, dann ist sie charakteristisch für unsre Zeit im allgemeinen und für die eine Seite unsers Erziehungswesens im besondern. Rasch vorwärts kommen, das ist heute die Losung. Wohin und zu Welchem Zweck? Danach wird erst nachträglich und manchmal gar nicht gefragt. Bloß des Rekords wegen, um eher den Hals zu brechen als alle rudern. Bricht man ihn nicht, so radelt, autelt oder spekuliert man zurück, ist auf demselben Fleck wie vorher und sieht sich nach einer Gelegenheit zu einem neuen Rekord um. Freilich ist das Leben Bewegung, aber nur die vernünftigen Wesen bringen es fertig, sich zwecklos zu bewegen; die Gestirne und die Tiere haben einen Zweck bet jeder Bewegung. So treibt man den» auch die Schüler vorwärts, immer vor¬ wärts, ohne danach zu fragen, ob das Tempo der ihnen zugemuteten geistigen Be¬ wegung ihren Anlagen entspricht. Manchmal ist es ja sogar z» langsam, den» es gibt Genies, und es gehört eben zu de» für unvermeidlich gehaltne» Übelstände»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/343>, abgerufen am 22.07.2024.