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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht mit Grund und Boden, Haus und Hof angesessen ist, den sieht der Finanz¬
fiskus eigentlich als armen Schlucker an, dem er mitleidsvoll zwar auch einiges
seiner Barschaft für Staatszwecke, aller doch mit unverkennbarer Gutmütigkeit ab¬
nimmt. Alle das Publikum belästigenden Sache", in deren Erfindung Miguel schier
unerschöpflich war -- man denke an die Bahnsteigkarten und die Zuschlage in den
I)-Zügen --, hat Bayern erst in Preußen erproben lassen, und wenn ganz Deutsch¬
land sich über diese preußischen Einrichtungen satt geschimpft hatte, dann ist auch
Bayern damit herausgekommen. Man kann nach dem allem fügen, daß für die
Bewertung der neuen Reichsfinanzexzellenz eigentlich an erster Stelle in Betracht
kommt, wie sie sich mit dem Vnterhause ihrer Benmtenlaufbahu, dem Münchner
Finanzministerium, abzufinden weiß. Sodann mit dem Reichstage. Das Reich
braucht Geld, und Herr von Stengel hat nichts Eiligeres und auch wohl nichts
Besseres tuu können, als seine Finanzkvllegen aus ganz Deutschland nach Berlin
zu berufen und sie zu einem Konsilium am Krankenbett des Neichsdcfizits zu ver¬
sammeln. Über diese Fiuanzkonfereuz ist viel ungereimtes Zeug geschrieben worden.
Irgend eine Berliner Zeitung oder Korrespondenz wußte ganz genau, daß die
finauzweisen Männer über Handelsverträge und Zolltarif zu Rate gesessen hätten.
Jeder, der Verständnis für öffentliche Dinge hat, mußte sich sagen, das sei ein
Unding, da die beiden Reichsressorts, die für Handelsverträge und Zollfragen in
Betracht kommen, die Reichsämter des Innern und des Äußern, an dieser Kon¬
ferenz in keiner Weise, höchstens an ihrer Bewirtung, beteiligt waren. Trotzdem
ließ eine Berliner Zeitung die Finanzminister über "die deutscheu Prohibitivzölle"
stöhnen. Eine neue Spezies von Sprachdummhciten.

Vorläufig sind noch keine Handelsverträge abgeschlossen worden, mithin bestehn
auch noch keine Prohibitivzollsätze, überhaupt noch keine Zollsätze. Aber der deutsche
Michel kaun sich mich im 33. Jahre der Aufrichtung des Reichs noch nicht ver¬
leugnen, und namentlich die ehrsame Zunft der Zeitungsschreiber ist reich um deu
merkwürdigsten Exemplaren dieser Gattung. Unverstand und Phrase im Überfluß,
aber vou Staatssiuu keine Spur. Sonst würden sie nicht so kurzsichtig sein, dem aus¬
ländischen Gegner solche Waffen in die Hand zu geben. Nachdem der Bundesrat eben
mit Ach und Krach, iirto ot> marto, seinen Zolltarif unter Dach und Fach gebracht hat,
hart an einer Neichstagsauflösung vorbei, läßt so ein Berliner Welterlenchter die
vereinigten Finanzminister, also doch wiederum deu Bundesrat, über Prohibitivzölle
schreien! Man sieht fast, wie sie wehklagend einherschreiten, in die langen Mäntel der
Zvlltarifspalteu eingehüllt, gleich dem Chor in der griechischen Tragödie. Nur daß
dabei nicht "das Riesenmnß der Leiber," sondern das Niesenmaß der Dummheit "weit
über Sterbliches hinausragt." Das Reichsschatzamt hat weder mit den Handelsver¬
trägen noch mit dem Zolltarif zu tun, eine unter dem Vorsitz des Schatzsekretärs
tagende Finauzkonferenz erst recht nicht. Man konnte und mußte vou der mutmaßlichen
Wirkung der künftigen Zolleinnahmen auf die Reichsfincmzeu reden, aber man
konnte sich doch unmöglich von noch gar nicht vorhandnen Handelsverträgen und
ihren Zollsätzen unterhalten oder gar darauf hin Beschlüsse fassen. Im übrigen
hat das Geräusch, das die Finanzkonferenz weniger in der Wilhelmstraße als in
den Zeitungsspalteu verursacht hat, die Aufmerksamkeit von den tatsächlich zu der¬
selben Zeit abgehaltnen Handelsvertragsverhandluugeu ganz abgelenkt und solcher¬
gestalt das Verdienst, zugleich den Markt unterhalten zu haben. Bet dem Zustande
der Neichsfinanzen und bei den großen Aufgaben und Ausgaben, denen sich das
Reich gewachsen zeigen muß, wenn es seinen sauer erworbnen Platz im Rate der
Nationen behaupten will, hat Herr von Stengel ein hartes Stück Arbeit zu leisten,
zu dem der neugewählte Reichstag wenig erfreuliche Aussicht bietet. Möge dem
neuen Schatzsekretnr die stahlharte bayrische Zähigkeit dabei zu statten kommen;
wir haben in gar so manchen Dingen die letzte Probe auf das Exempel zu machen.

Auch der neue Präsident des Reichsgerichts findet manche Aufgabe vor. Das
Reichsgericht ist überlastet, und der Modus seiner Besetzung ist nicht zweckmäßig.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht mit Grund und Boden, Haus und Hof angesessen ist, den sieht der Finanz¬
fiskus eigentlich als armen Schlucker an, dem er mitleidsvoll zwar auch einiges
seiner Barschaft für Staatszwecke, aller doch mit unverkennbarer Gutmütigkeit ab¬
nimmt. Alle das Publikum belästigenden Sache», in deren Erfindung Miguel schier
unerschöpflich war — man denke an die Bahnsteigkarten und die Zuschlage in den
I)-Zügen —, hat Bayern erst in Preußen erproben lassen, und wenn ganz Deutsch¬
land sich über diese preußischen Einrichtungen satt geschimpft hatte, dann ist auch
Bayern damit herausgekommen. Man kann nach dem allem fügen, daß für die
Bewertung der neuen Reichsfinanzexzellenz eigentlich an erster Stelle in Betracht
kommt, wie sie sich mit dem Vnterhause ihrer Benmtenlaufbahu, dem Münchner
Finanzministerium, abzufinden weiß. Sodann mit dem Reichstage. Das Reich
braucht Geld, und Herr von Stengel hat nichts Eiligeres und auch wohl nichts
Besseres tuu können, als seine Finanzkvllegen aus ganz Deutschland nach Berlin
zu berufen und sie zu einem Konsilium am Krankenbett des Neichsdcfizits zu ver¬
sammeln. Über diese Fiuanzkonfereuz ist viel ungereimtes Zeug geschrieben worden.
Irgend eine Berliner Zeitung oder Korrespondenz wußte ganz genau, daß die
finauzweisen Männer über Handelsverträge und Zolltarif zu Rate gesessen hätten.
Jeder, der Verständnis für öffentliche Dinge hat, mußte sich sagen, das sei ein
Unding, da die beiden Reichsressorts, die für Handelsverträge und Zollfragen in
Betracht kommen, die Reichsämter des Innern und des Äußern, an dieser Kon¬
ferenz in keiner Weise, höchstens an ihrer Bewirtung, beteiligt waren. Trotzdem
ließ eine Berliner Zeitung die Finanzminister über „die deutscheu Prohibitivzölle"
stöhnen. Eine neue Spezies von Sprachdummhciten.

Vorläufig sind noch keine Handelsverträge abgeschlossen worden, mithin bestehn
auch noch keine Prohibitivzollsätze, überhaupt noch keine Zollsätze. Aber der deutsche
Michel kaun sich mich im 33. Jahre der Aufrichtung des Reichs noch nicht ver¬
leugnen, und namentlich die ehrsame Zunft der Zeitungsschreiber ist reich um deu
merkwürdigsten Exemplaren dieser Gattung. Unverstand und Phrase im Überfluß,
aber vou Staatssiuu keine Spur. Sonst würden sie nicht so kurzsichtig sein, dem aus¬
ländischen Gegner solche Waffen in die Hand zu geben. Nachdem der Bundesrat eben
mit Ach und Krach, iirto ot> marto, seinen Zolltarif unter Dach und Fach gebracht hat,
hart an einer Neichstagsauflösung vorbei, läßt so ein Berliner Welterlenchter die
vereinigten Finanzminister, also doch wiederum deu Bundesrat, über Prohibitivzölle
schreien! Man sieht fast, wie sie wehklagend einherschreiten, in die langen Mäntel der
Zvlltarifspalteu eingehüllt, gleich dem Chor in der griechischen Tragödie. Nur daß
dabei nicht „das Riesenmnß der Leiber," sondern das Niesenmaß der Dummheit „weit
über Sterbliches hinausragt." Das Reichsschatzamt hat weder mit den Handelsver¬
trägen noch mit dem Zolltarif zu tun, eine unter dem Vorsitz des Schatzsekretärs
tagende Finauzkonferenz erst recht nicht. Man konnte und mußte vou der mutmaßlichen
Wirkung der künftigen Zolleinnahmen auf die Reichsfincmzeu reden, aber man
konnte sich doch unmöglich von noch gar nicht vorhandnen Handelsverträgen und
ihren Zollsätzen unterhalten oder gar darauf hin Beschlüsse fassen. Im übrigen
hat das Geräusch, das die Finanzkonferenz weniger in der Wilhelmstraße als in
den Zeitungsspalteu verursacht hat, die Aufmerksamkeit von den tatsächlich zu der¬
selben Zeit abgehaltnen Handelsvertragsverhandluugeu ganz abgelenkt und solcher¬
gestalt das Verdienst, zugleich den Markt unterhalten zu haben. Bet dem Zustande
der Neichsfinanzen und bei den großen Aufgaben und Ausgaben, denen sich das
Reich gewachsen zeigen muß, wenn es seinen sauer erworbnen Platz im Rate der
Nationen behaupten will, hat Herr von Stengel ein hartes Stück Arbeit zu leisten,
zu dem der neugewählte Reichstag wenig erfreuliche Aussicht bietet. Möge dem
neuen Schatzsekretnr die stahlharte bayrische Zähigkeit dabei zu statten kommen;
wir haben in gar so manchen Dingen die letzte Probe auf das Exempel zu machen.

Auch der neue Präsident des Reichsgerichts findet manche Aufgabe vor. Das
Reichsgericht ist überlastet, und der Modus seiner Besetzung ist nicht zweckmäßig.


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[0342] Maßgebliches und Unmaßgebliches nicht mit Grund und Boden, Haus und Hof angesessen ist, den sieht der Finanz¬ fiskus eigentlich als armen Schlucker an, dem er mitleidsvoll zwar auch einiges seiner Barschaft für Staatszwecke, aller doch mit unverkennbarer Gutmütigkeit ab¬ nimmt. Alle das Publikum belästigenden Sache», in deren Erfindung Miguel schier unerschöpflich war — man denke an die Bahnsteigkarten und die Zuschlage in den I)-Zügen —, hat Bayern erst in Preußen erproben lassen, und wenn ganz Deutsch¬ land sich über diese preußischen Einrichtungen satt geschimpft hatte, dann ist auch Bayern damit herausgekommen. Man kann nach dem allem fügen, daß für die Bewertung der neuen Reichsfinanzexzellenz eigentlich an erster Stelle in Betracht kommt, wie sie sich mit dem Vnterhause ihrer Benmtenlaufbahu, dem Münchner Finanzministerium, abzufinden weiß. Sodann mit dem Reichstage. Das Reich braucht Geld, und Herr von Stengel hat nichts Eiligeres und auch wohl nichts Besseres tuu können, als seine Finanzkvllegen aus ganz Deutschland nach Berlin zu berufen und sie zu einem Konsilium am Krankenbett des Neichsdcfizits zu ver¬ sammeln. Über diese Fiuanzkonfereuz ist viel ungereimtes Zeug geschrieben worden. Irgend eine Berliner Zeitung oder Korrespondenz wußte ganz genau, daß die finauzweisen Männer über Handelsverträge und Zolltarif zu Rate gesessen hätten. Jeder, der Verständnis für öffentliche Dinge hat, mußte sich sagen, das sei ein Unding, da die beiden Reichsressorts, die für Handelsverträge und Zollfragen in Betracht kommen, die Reichsämter des Innern und des Äußern, an dieser Kon¬ ferenz in keiner Weise, höchstens an ihrer Bewirtung, beteiligt waren. Trotzdem ließ eine Berliner Zeitung die Finanzminister über „die deutscheu Prohibitivzölle" stöhnen. Eine neue Spezies von Sprachdummhciten. Vorläufig sind noch keine Handelsverträge abgeschlossen worden, mithin bestehn auch noch keine Prohibitivzollsätze, überhaupt noch keine Zollsätze. Aber der deutsche Michel kaun sich mich im 33. Jahre der Aufrichtung des Reichs noch nicht ver¬ leugnen, und namentlich die ehrsame Zunft der Zeitungsschreiber ist reich um deu merkwürdigsten Exemplaren dieser Gattung. Unverstand und Phrase im Überfluß, aber vou Staatssiuu keine Spur. Sonst würden sie nicht so kurzsichtig sein, dem aus¬ ländischen Gegner solche Waffen in die Hand zu geben. Nachdem der Bundesrat eben mit Ach und Krach, iirto ot> marto, seinen Zolltarif unter Dach und Fach gebracht hat, hart an einer Neichstagsauflösung vorbei, läßt so ein Berliner Welterlenchter die vereinigten Finanzminister, also doch wiederum deu Bundesrat, über Prohibitivzölle schreien! Man sieht fast, wie sie wehklagend einherschreiten, in die langen Mäntel der Zvlltarifspalteu eingehüllt, gleich dem Chor in der griechischen Tragödie. Nur daß dabei nicht „das Riesenmnß der Leiber," sondern das Niesenmaß der Dummheit „weit über Sterbliches hinausragt." Das Reichsschatzamt hat weder mit den Handelsver¬ trägen noch mit dem Zolltarif zu tun, eine unter dem Vorsitz des Schatzsekretärs tagende Finauzkonferenz erst recht nicht. Man konnte und mußte vou der mutmaßlichen Wirkung der künftigen Zolleinnahmen auf die Reichsfincmzeu reden, aber man konnte sich doch unmöglich von noch gar nicht vorhandnen Handelsverträgen und ihren Zollsätzen unterhalten oder gar darauf hin Beschlüsse fassen. Im übrigen hat das Geräusch, das die Finanzkonferenz weniger in der Wilhelmstraße als in den Zeitungsspalteu verursacht hat, die Aufmerksamkeit von den tatsächlich zu der¬ selben Zeit abgehaltnen Handelsvertragsverhandluugeu ganz abgelenkt und solcher¬ gestalt das Verdienst, zugleich den Markt unterhalten zu haben. Bet dem Zustande der Neichsfinanzen und bei den großen Aufgaben und Ausgaben, denen sich das Reich gewachsen zeigen muß, wenn es seinen sauer erworbnen Platz im Rate der Nationen behaupten will, hat Herr von Stengel ein hartes Stück Arbeit zu leisten, zu dem der neugewählte Reichstag wenig erfreuliche Aussicht bietet. Möge dem neuen Schatzsekretnr die stahlharte bayrische Zähigkeit dabei zu statten kommen; wir haben in gar so manchen Dingen die letzte Probe auf das Exempel zu machen. Auch der neue Präsident des Reichsgerichts findet manche Aufgabe vor. Das Reichsgericht ist überlastet, und der Modus seiner Besetzung ist nicht zweckmäßig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/342>, abgerufen am 22.07.2024.