Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Nackte in der Umlst

Mannes, weil sie im täglichen Verkehr viel undeutlicher wahrgenommen wird;
und zugleich reizt der weibliche Körper die Sinnlichkeit des Mannes stärker
als der männliche die Sinnlichkeit des Weibes, weil der weibliche Körperbau
in unmittelbarer und einseitiger Weise auf die geschlechtlichen Aufgaben hin¬
weist, während das für den Körper des Mannes in keinem Sinne zutrifft.

Soviel über den Eindruck des Nackten im Leben. Wir müssen jetzt unter¬
suchen, ob die künstlerische Darstellung des Nackten wesentlich anders wirkt.


3

Auch die täuschendste Nachbildung einer nackten Menschengestalt in Stein
und Farbe wird in dem Beschauer niemals dieselben Gefühle wachrufen wie
der nackte Körper eines lebendigen Menschen. Halten wir uns an die beiden
Bestandteile der Wirkung des Nackten, so ist weder der überraschende Abstand
von einem gewohnten Anblick hier wie dort derselbe, da wir die Urbilder
nackter Darstellungen in der Regel nicht von Angesicht kennen; noch vermag
jemals das Bildnis eines Menschen denselben Sinnenreiz auszuüben wie der
leibhaftige, lebende Mensch. Das ist doch Fleisch von meinem Fleisch und
Bein von meinem Bein, läßt die biblische Schöpfungsgeschichte den Menschen¬
vater bei dem Anblick seiner Gefährtin ausrufen. Auf diesem doppelten: der¬
selbe Stoff und andre Gestalt, beruht die dauernde Trennung der Geschlechter
wie ihr unabänderliches Zusammenstreben. Das künstlerische Bildwerk, gleich¬
viel ob Skulptur oder Gemälde, kann die Gestalt überzeugend vor unser Auge
stellen, aber nicht in demselben Maße den Stoff. In der Ausscheidung des
stofflichen Elements und in der Darstellung der vom Stoffe losgelösten Gestalt
besteht ja das Wesen aller Kunst. Das Auge des Künstlers fängt die Um¬
risse und Flüchen, die Licht- und Farbenwirkungen eines Körpers, den Rhyth¬
mus einer Bewegung auf; von seinem Auge geführt zieht seine Hand behut¬
sam und entschlossen das festgehaltene Bild in irgend einer leblosen Masse
nach. So streift er die Gestalt von ihrem Körper ab und vollbringt damit ihre
Befreiung von dem gebrechlichen Stoffe, mit dem sie in der Wirklichkeit ver¬
wachsen ist. Ohne jeden stofflichen Träger kann sie freilich auch jetzt nicht bestehn.
Denn die Kunst ist eine Frucht des menschlichen Geistes und kann den Zusammen¬
hang mit ihm nicht verleugnen; wie er selbst, bedarf auch das Kunstwerk eines
Leibes. Nur begnügt es sich mit einem beliebigen leblosen Stoff -- Stein
oder Leinwand --, der für sich selbst nichts bedeutet, der deshalb in dem
Bilde, zu dem er gebraucht worden ist, aufgeht und an seiner Wirkung auf den
Beschauer keinen Teil hat. Das Bild behauptet also über den geringern aber
dauerhaftem weil unorganischen Stoff, aus dem es verfertigt ist, ein viel
entschiedneres Übergewicht als die Erscheinung eines Stücks Wirklichkeit über
die Körper, an denen sie wahrgenommen wird; seien es nun Menschen, Tiere,
Pflanzen oder eine Landschaft in der Zusammenfassung des auf ihr ruhenden
Blickes.

Diesem unvergleichlichen Mehrwert gegenüber ihrem stofflichen Trüger
verdankt die Gestalt im Kunstwerk ein freieres, selbständigeres Dasein, als
ihrem körperhaften Urbild erreichbar ist. In der wirklichen Welt, der Welt


Das Nackte in der Umlst

Mannes, weil sie im täglichen Verkehr viel undeutlicher wahrgenommen wird;
und zugleich reizt der weibliche Körper die Sinnlichkeit des Mannes stärker
als der männliche die Sinnlichkeit des Weibes, weil der weibliche Körperbau
in unmittelbarer und einseitiger Weise auf die geschlechtlichen Aufgaben hin¬
weist, während das für den Körper des Mannes in keinem Sinne zutrifft.

Soviel über den Eindruck des Nackten im Leben. Wir müssen jetzt unter¬
suchen, ob die künstlerische Darstellung des Nackten wesentlich anders wirkt.


3

Auch die täuschendste Nachbildung einer nackten Menschengestalt in Stein
und Farbe wird in dem Beschauer niemals dieselben Gefühle wachrufen wie
der nackte Körper eines lebendigen Menschen. Halten wir uns an die beiden
Bestandteile der Wirkung des Nackten, so ist weder der überraschende Abstand
von einem gewohnten Anblick hier wie dort derselbe, da wir die Urbilder
nackter Darstellungen in der Regel nicht von Angesicht kennen; noch vermag
jemals das Bildnis eines Menschen denselben Sinnenreiz auszuüben wie der
leibhaftige, lebende Mensch. Das ist doch Fleisch von meinem Fleisch und
Bein von meinem Bein, läßt die biblische Schöpfungsgeschichte den Menschen¬
vater bei dem Anblick seiner Gefährtin ausrufen. Auf diesem doppelten: der¬
selbe Stoff und andre Gestalt, beruht die dauernde Trennung der Geschlechter
wie ihr unabänderliches Zusammenstreben. Das künstlerische Bildwerk, gleich¬
viel ob Skulptur oder Gemälde, kann die Gestalt überzeugend vor unser Auge
stellen, aber nicht in demselben Maße den Stoff. In der Ausscheidung des
stofflichen Elements und in der Darstellung der vom Stoffe losgelösten Gestalt
besteht ja das Wesen aller Kunst. Das Auge des Künstlers fängt die Um¬
risse und Flüchen, die Licht- und Farbenwirkungen eines Körpers, den Rhyth¬
mus einer Bewegung auf; von seinem Auge geführt zieht seine Hand behut¬
sam und entschlossen das festgehaltene Bild in irgend einer leblosen Masse
nach. So streift er die Gestalt von ihrem Körper ab und vollbringt damit ihre
Befreiung von dem gebrechlichen Stoffe, mit dem sie in der Wirklichkeit ver¬
wachsen ist. Ohne jeden stofflichen Träger kann sie freilich auch jetzt nicht bestehn.
Denn die Kunst ist eine Frucht des menschlichen Geistes und kann den Zusammen¬
hang mit ihm nicht verleugnen; wie er selbst, bedarf auch das Kunstwerk eines
Leibes. Nur begnügt es sich mit einem beliebigen leblosen Stoff — Stein
oder Leinwand —, der für sich selbst nichts bedeutet, der deshalb in dem
Bilde, zu dem er gebraucht worden ist, aufgeht und an seiner Wirkung auf den
Beschauer keinen Teil hat. Das Bild behauptet also über den geringern aber
dauerhaftem weil unorganischen Stoff, aus dem es verfertigt ist, ein viel
entschiedneres Übergewicht als die Erscheinung eines Stücks Wirklichkeit über
die Körper, an denen sie wahrgenommen wird; seien es nun Menschen, Tiere,
Pflanzen oder eine Landschaft in der Zusammenfassung des auf ihr ruhenden
Blickes.

Diesem unvergleichlichen Mehrwert gegenüber ihrem stofflichen Trüger
verdankt die Gestalt im Kunstwerk ein freieres, selbständigeres Dasein, als
ihrem körperhaften Urbild erreichbar ist. In der wirklichen Welt, der Welt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0318" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242386"/>
            <fw type="header" place="top"> Das Nackte in der Umlst</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1102" prev="#ID_1101"> Mannes, weil sie im täglichen Verkehr viel undeutlicher wahrgenommen wird;<lb/>
und zugleich reizt der weibliche Körper die Sinnlichkeit des Mannes stärker<lb/>
als der männliche die Sinnlichkeit des Weibes, weil der weibliche Körperbau<lb/>
in unmittelbarer und einseitiger Weise auf die geschlechtlichen Aufgaben hin¬<lb/>
weist, während das für den Körper des Mannes in keinem Sinne zutrifft.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1103"> Soviel über den Eindruck des Nackten im Leben. Wir müssen jetzt unter¬<lb/>
suchen, ob die künstlerische Darstellung des Nackten wesentlich anders wirkt.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 3</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1104"> Auch die täuschendste Nachbildung einer nackten Menschengestalt in Stein<lb/>
und Farbe wird in dem Beschauer niemals dieselben Gefühle wachrufen wie<lb/>
der nackte Körper eines lebendigen Menschen. Halten wir uns an die beiden<lb/>
Bestandteile der Wirkung des Nackten, so ist weder der überraschende Abstand<lb/>
von einem gewohnten Anblick hier wie dort derselbe, da wir die Urbilder<lb/>
nackter Darstellungen in der Regel nicht von Angesicht kennen; noch vermag<lb/>
jemals das Bildnis eines Menschen denselben Sinnenreiz auszuüben wie der<lb/>
leibhaftige, lebende Mensch. Das ist doch Fleisch von meinem Fleisch und<lb/>
Bein von meinem Bein, läßt die biblische Schöpfungsgeschichte den Menschen¬<lb/>
vater bei dem Anblick seiner Gefährtin ausrufen. Auf diesem doppelten: der¬<lb/>
selbe Stoff und andre Gestalt, beruht die dauernde Trennung der Geschlechter<lb/>
wie ihr unabänderliches Zusammenstreben. Das künstlerische Bildwerk, gleich¬<lb/>
viel ob Skulptur oder Gemälde, kann die Gestalt überzeugend vor unser Auge<lb/>
stellen, aber nicht in demselben Maße den Stoff. In der Ausscheidung des<lb/>
stofflichen Elements und in der Darstellung der vom Stoffe losgelösten Gestalt<lb/>
besteht ja das Wesen aller Kunst. Das Auge des Künstlers fängt die Um¬<lb/>
risse und Flüchen, die Licht- und Farbenwirkungen eines Körpers, den Rhyth¬<lb/>
mus einer Bewegung auf; von seinem Auge geführt zieht seine Hand behut¬<lb/>
sam und entschlossen das festgehaltene Bild in irgend einer leblosen Masse<lb/>
nach. So streift er die Gestalt von ihrem Körper ab und vollbringt damit ihre<lb/>
Befreiung von dem gebrechlichen Stoffe, mit dem sie in der Wirklichkeit ver¬<lb/>
wachsen ist. Ohne jeden stofflichen Träger kann sie freilich auch jetzt nicht bestehn.<lb/>
Denn die Kunst ist eine Frucht des menschlichen Geistes und kann den Zusammen¬<lb/>
hang mit ihm nicht verleugnen; wie er selbst, bedarf auch das Kunstwerk eines<lb/>
Leibes. Nur begnügt es sich mit einem beliebigen leblosen Stoff &#x2014; Stein<lb/>
oder Leinwand &#x2014;, der für sich selbst nichts bedeutet, der deshalb in dem<lb/>
Bilde, zu dem er gebraucht worden ist, aufgeht und an seiner Wirkung auf den<lb/>
Beschauer keinen Teil hat. Das Bild behauptet also über den geringern aber<lb/>
dauerhaftem weil unorganischen Stoff, aus dem es verfertigt ist, ein viel<lb/>
entschiedneres Übergewicht als die Erscheinung eines Stücks Wirklichkeit über<lb/>
die Körper, an denen sie wahrgenommen wird; seien es nun Menschen, Tiere,<lb/>
Pflanzen oder eine Landschaft in der Zusammenfassung des auf ihr ruhenden<lb/>
Blickes.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1105" next="#ID_1106"> Diesem unvergleichlichen Mehrwert gegenüber ihrem stofflichen Trüger<lb/>
verdankt die Gestalt im Kunstwerk ein freieres, selbständigeres Dasein, als<lb/>
ihrem körperhaften Urbild erreichbar ist.  In der wirklichen Welt, der Welt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0318] Das Nackte in der Umlst Mannes, weil sie im täglichen Verkehr viel undeutlicher wahrgenommen wird; und zugleich reizt der weibliche Körper die Sinnlichkeit des Mannes stärker als der männliche die Sinnlichkeit des Weibes, weil der weibliche Körperbau in unmittelbarer und einseitiger Weise auf die geschlechtlichen Aufgaben hin¬ weist, während das für den Körper des Mannes in keinem Sinne zutrifft. Soviel über den Eindruck des Nackten im Leben. Wir müssen jetzt unter¬ suchen, ob die künstlerische Darstellung des Nackten wesentlich anders wirkt. 3 Auch die täuschendste Nachbildung einer nackten Menschengestalt in Stein und Farbe wird in dem Beschauer niemals dieselben Gefühle wachrufen wie der nackte Körper eines lebendigen Menschen. Halten wir uns an die beiden Bestandteile der Wirkung des Nackten, so ist weder der überraschende Abstand von einem gewohnten Anblick hier wie dort derselbe, da wir die Urbilder nackter Darstellungen in der Regel nicht von Angesicht kennen; noch vermag jemals das Bildnis eines Menschen denselben Sinnenreiz auszuüben wie der leibhaftige, lebende Mensch. Das ist doch Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein, läßt die biblische Schöpfungsgeschichte den Menschen¬ vater bei dem Anblick seiner Gefährtin ausrufen. Auf diesem doppelten: der¬ selbe Stoff und andre Gestalt, beruht die dauernde Trennung der Geschlechter wie ihr unabänderliches Zusammenstreben. Das künstlerische Bildwerk, gleich¬ viel ob Skulptur oder Gemälde, kann die Gestalt überzeugend vor unser Auge stellen, aber nicht in demselben Maße den Stoff. In der Ausscheidung des stofflichen Elements und in der Darstellung der vom Stoffe losgelösten Gestalt besteht ja das Wesen aller Kunst. Das Auge des Künstlers fängt die Um¬ risse und Flüchen, die Licht- und Farbenwirkungen eines Körpers, den Rhyth¬ mus einer Bewegung auf; von seinem Auge geführt zieht seine Hand behut¬ sam und entschlossen das festgehaltene Bild in irgend einer leblosen Masse nach. So streift er die Gestalt von ihrem Körper ab und vollbringt damit ihre Befreiung von dem gebrechlichen Stoffe, mit dem sie in der Wirklichkeit ver¬ wachsen ist. Ohne jeden stofflichen Träger kann sie freilich auch jetzt nicht bestehn. Denn die Kunst ist eine Frucht des menschlichen Geistes und kann den Zusammen¬ hang mit ihm nicht verleugnen; wie er selbst, bedarf auch das Kunstwerk eines Leibes. Nur begnügt es sich mit einem beliebigen leblosen Stoff — Stein oder Leinwand —, der für sich selbst nichts bedeutet, der deshalb in dem Bilde, zu dem er gebraucht worden ist, aufgeht und an seiner Wirkung auf den Beschauer keinen Teil hat. Das Bild behauptet also über den geringern aber dauerhaftem weil unorganischen Stoff, aus dem es verfertigt ist, ein viel entschiedneres Übergewicht als die Erscheinung eines Stücks Wirklichkeit über die Körper, an denen sie wahrgenommen wird; seien es nun Menschen, Tiere, Pflanzen oder eine Landschaft in der Zusammenfassung des auf ihr ruhenden Blickes. Diesem unvergleichlichen Mehrwert gegenüber ihrem stofflichen Trüger verdankt die Gestalt im Kunstwerk ein freieres, selbständigeres Dasein, als ihrem körperhaften Urbild erreichbar ist. In der wirklichen Welt, der Welt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/318
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/318>, abgerufen am 03.07.2024.