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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackte in der Kunst

Übertragungen vollziehen sich ohne eine Beteiligung unsers Willens mit der
blitzartigen Schnelligkeit jeder Reflexbewegung.

Nicht nur das Bewußtsein hat ein Gedächtnis; auch der Leib hat das
seinige. Der Anblick fremden Blutes ruft unwillkürlich in unser leibliches
Gedächtnis das schmerzhafte Gefühl zurück, das wir empfanden, als wir unser
eignes Blut fließen sahen; sie erweckt in uns die häßliche Vorstellung von
einer naturwidriger Unterbrechung der zusammenhängenden Oberslüche des
Körpers, von einer schädlichen Störung seiner Verrichtungen. Unter dem Ein¬
druck eines starken Blntergnsses können diese ungcrnfnen Bilder in dem Zu¬
schauer Empfindungen der Furcht und des Schreckens erregen, die sein seelisches
und sein leibliches Gleichgewicht aufheben, sodaß er die Farbe wechselt, zu
zittern anfängt, wohl gar in Ohnmacht fällt, ohne daß ihm selbst ein Leides
zugefügt wäre. In unserm Innern also empfängt die an sich weder angenehme
noch unangenehme Wirkung des Ungewohnten die Willensfärbung einer ent-
schiednen Unlustempfindung.

Auf unser Auge wirkt auch der Anblick des nackten nur mit dem neu¬
tralen Reiz des Ungewohnten; aber in unsrer Seele ruft er Vorstellungen
wach, die unser Blut in Wallung bringen. Ohne daß nur es hindern können,
steigen sie aus dem dunkeln Grunde des großen Lebenstriebes auf, der allen
störenden und zerstörenden Gewalten zum Trotz die Arten erhält. Der hinzu¬
tretende Einfluß dieser Vorstellungen verleiht dem farblosen Eindruck der Über¬
raschung den ausgesprochnen Charakter eines mehr oder weniger starken Lust¬
gefühls.

Die Wirkuug des Nackten im Leben enthält demnach zwei Bestandteile,
die an sich verschieden sind, aber in ihrer Vereinigung einander steigern: erstens
den Reiz des Ungewohnten und zweitens den Reiz des Sinnlichen.

Dabei muß vorweg dem Irrtum begegnet werden, daß der nackte Mannes¬
körper und der nackte Frauenkörper auf Angehörige des andern Geschlechts
mit gleicher Stärke wirkten. Sondern wie die einzelne Fortpflanzung den
weiblichen Organismus weit nachhaltiger und vollständiger in Anspruch nimmt
als den männlichen, ebenso nehmen auch die zu dieser Aufgabe bestimmten
Werkzeuge einen ungleich breitern Raum in dem Gesamtorganismus des
Weibes ein als in dem des Mannes -- ein wesentlicher und unabänder¬
licher Unterschied der beiden menschlichen Geschlechter, dessen weittragende
Konsequenzen von den männlichen und den weiblichen Vorkämpfern der Frauen¬
bewegung beharrlich übersehen werden. Mit sicherm Instinkt hat dagegen die
Sitte zivilisierter Völker dieser Tatsache von jeher Rechnung getragen, indem
sie für das Weib eine Kleidung erfand, die seine natürliche Erscheinung durch¬
aus vcrüudert, wcihreud so weitgehende Verhüllungen der männlichen Gestalt
von derselben Sitte niemals für nötig gehalten wurden.

Von den beiden Ursachen, die, wie wir sahen, in der besondern Wirkuug
des Anblicks lebendiger Nacktheit zusammentreffen, dem Reiz des Ungewohnten
und dem Reiz des Sinnlichen, zeigt sich hiernach weiter, daß beide der weib¬
lichen Nacktheit in höherm Grade eigen sind als der männlichen. Die ent¬
hüllte Gestalt des Weibes wirkt überraschender als die enthüllte Gestalt des


Das Nackte in der Kunst

Übertragungen vollziehen sich ohne eine Beteiligung unsers Willens mit der
blitzartigen Schnelligkeit jeder Reflexbewegung.

Nicht nur das Bewußtsein hat ein Gedächtnis; auch der Leib hat das
seinige. Der Anblick fremden Blutes ruft unwillkürlich in unser leibliches
Gedächtnis das schmerzhafte Gefühl zurück, das wir empfanden, als wir unser
eignes Blut fließen sahen; sie erweckt in uns die häßliche Vorstellung von
einer naturwidriger Unterbrechung der zusammenhängenden Oberslüche des
Körpers, von einer schädlichen Störung seiner Verrichtungen. Unter dem Ein¬
druck eines starken Blntergnsses können diese ungcrnfnen Bilder in dem Zu¬
schauer Empfindungen der Furcht und des Schreckens erregen, die sein seelisches
und sein leibliches Gleichgewicht aufheben, sodaß er die Farbe wechselt, zu
zittern anfängt, wohl gar in Ohnmacht fällt, ohne daß ihm selbst ein Leides
zugefügt wäre. In unserm Innern also empfängt die an sich weder angenehme
noch unangenehme Wirkung des Ungewohnten die Willensfärbung einer ent-
schiednen Unlustempfindung.

Auf unser Auge wirkt auch der Anblick des nackten nur mit dem neu¬
tralen Reiz des Ungewohnten; aber in unsrer Seele ruft er Vorstellungen
wach, die unser Blut in Wallung bringen. Ohne daß nur es hindern können,
steigen sie aus dem dunkeln Grunde des großen Lebenstriebes auf, der allen
störenden und zerstörenden Gewalten zum Trotz die Arten erhält. Der hinzu¬
tretende Einfluß dieser Vorstellungen verleiht dem farblosen Eindruck der Über¬
raschung den ausgesprochnen Charakter eines mehr oder weniger starken Lust¬
gefühls.

Die Wirkuug des Nackten im Leben enthält demnach zwei Bestandteile,
die an sich verschieden sind, aber in ihrer Vereinigung einander steigern: erstens
den Reiz des Ungewohnten und zweitens den Reiz des Sinnlichen.

Dabei muß vorweg dem Irrtum begegnet werden, daß der nackte Mannes¬
körper und der nackte Frauenkörper auf Angehörige des andern Geschlechts
mit gleicher Stärke wirkten. Sondern wie die einzelne Fortpflanzung den
weiblichen Organismus weit nachhaltiger und vollständiger in Anspruch nimmt
als den männlichen, ebenso nehmen auch die zu dieser Aufgabe bestimmten
Werkzeuge einen ungleich breitern Raum in dem Gesamtorganismus des
Weibes ein als in dem des Mannes — ein wesentlicher und unabänder¬
licher Unterschied der beiden menschlichen Geschlechter, dessen weittragende
Konsequenzen von den männlichen und den weiblichen Vorkämpfern der Frauen¬
bewegung beharrlich übersehen werden. Mit sicherm Instinkt hat dagegen die
Sitte zivilisierter Völker dieser Tatsache von jeher Rechnung getragen, indem
sie für das Weib eine Kleidung erfand, die seine natürliche Erscheinung durch¬
aus vcrüudert, wcihreud so weitgehende Verhüllungen der männlichen Gestalt
von derselben Sitte niemals für nötig gehalten wurden.

Von den beiden Ursachen, die, wie wir sahen, in der besondern Wirkuug
des Anblicks lebendiger Nacktheit zusammentreffen, dem Reiz des Ungewohnten
und dem Reiz des Sinnlichen, zeigt sich hiernach weiter, daß beide der weib¬
lichen Nacktheit in höherm Grade eigen sind als der männlichen. Die ent¬
hüllte Gestalt des Weibes wirkt überraschender als die enthüllte Gestalt des


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[0317] Das Nackte in der Kunst Übertragungen vollziehen sich ohne eine Beteiligung unsers Willens mit der blitzartigen Schnelligkeit jeder Reflexbewegung. Nicht nur das Bewußtsein hat ein Gedächtnis; auch der Leib hat das seinige. Der Anblick fremden Blutes ruft unwillkürlich in unser leibliches Gedächtnis das schmerzhafte Gefühl zurück, das wir empfanden, als wir unser eignes Blut fließen sahen; sie erweckt in uns die häßliche Vorstellung von einer naturwidriger Unterbrechung der zusammenhängenden Oberslüche des Körpers, von einer schädlichen Störung seiner Verrichtungen. Unter dem Ein¬ druck eines starken Blntergnsses können diese ungcrnfnen Bilder in dem Zu¬ schauer Empfindungen der Furcht und des Schreckens erregen, die sein seelisches und sein leibliches Gleichgewicht aufheben, sodaß er die Farbe wechselt, zu zittern anfängt, wohl gar in Ohnmacht fällt, ohne daß ihm selbst ein Leides zugefügt wäre. In unserm Innern also empfängt die an sich weder angenehme noch unangenehme Wirkung des Ungewohnten die Willensfärbung einer ent- schiednen Unlustempfindung. Auf unser Auge wirkt auch der Anblick des nackten nur mit dem neu¬ tralen Reiz des Ungewohnten; aber in unsrer Seele ruft er Vorstellungen wach, die unser Blut in Wallung bringen. Ohne daß nur es hindern können, steigen sie aus dem dunkeln Grunde des großen Lebenstriebes auf, der allen störenden und zerstörenden Gewalten zum Trotz die Arten erhält. Der hinzu¬ tretende Einfluß dieser Vorstellungen verleiht dem farblosen Eindruck der Über¬ raschung den ausgesprochnen Charakter eines mehr oder weniger starken Lust¬ gefühls. Die Wirkuug des Nackten im Leben enthält demnach zwei Bestandteile, die an sich verschieden sind, aber in ihrer Vereinigung einander steigern: erstens den Reiz des Ungewohnten und zweitens den Reiz des Sinnlichen. Dabei muß vorweg dem Irrtum begegnet werden, daß der nackte Mannes¬ körper und der nackte Frauenkörper auf Angehörige des andern Geschlechts mit gleicher Stärke wirkten. Sondern wie die einzelne Fortpflanzung den weiblichen Organismus weit nachhaltiger und vollständiger in Anspruch nimmt als den männlichen, ebenso nehmen auch die zu dieser Aufgabe bestimmten Werkzeuge einen ungleich breitern Raum in dem Gesamtorganismus des Weibes ein als in dem des Mannes — ein wesentlicher und unabänder¬ licher Unterschied der beiden menschlichen Geschlechter, dessen weittragende Konsequenzen von den männlichen und den weiblichen Vorkämpfern der Frauen¬ bewegung beharrlich übersehen werden. Mit sicherm Instinkt hat dagegen die Sitte zivilisierter Völker dieser Tatsache von jeher Rechnung getragen, indem sie für das Weib eine Kleidung erfand, die seine natürliche Erscheinung durch¬ aus vcrüudert, wcihreud so weitgehende Verhüllungen der männlichen Gestalt von derselben Sitte niemals für nötig gehalten wurden. Von den beiden Ursachen, die, wie wir sahen, in der besondern Wirkuug des Anblicks lebendiger Nacktheit zusammentreffen, dem Reiz des Ungewohnten und dem Reiz des Sinnlichen, zeigt sich hiernach weiter, daß beide der weib¬ lichen Nacktheit in höherm Grade eigen sind als der männlichen. Die ent¬ hüllte Gestalt des Weibes wirkt überraschender als die enthüllte Gestalt des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/317>, abgerufen am 01.07.2024.