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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Ans der Jugendzeit

anlaßte den Angeschuldigten amtlich, seine Pensionierung nachzusuchen. Das tat er,
und die Disziplinaruntersuchung wurde eingestellt. Immerhin fühlte ich mich in
einer peinlichen Lage. Auf der einen Seite empfand ich noch etwas von der
Autorität, die der Angeschuldigte über mich einst als Lehrer ausgeübt hatte; die
Pietät des Schülers gegen den Lehrer machte sich noch geltend. Auf der andern
Seite stand ich ihm als sein Richter gegenüber und war von der Verantwortung
durchdrungen, die ich für eine gerechte und strenge Handhabung der Disziplin
gegen pflichtvergessene Lehrer im Interesse der Schulverwaltung trug. Mir war
ein Stein vom Herzen, als sich herausstellte, daß hier der freiwillige Abgang des
Angeschuldigten der nicht bloß gangbare, sondern auch gewiesne Ausweg war.

Wohlvorbereitet wurde ich nach Ablauf eines Jahres nach Quarta versetzt.
Ich habe aus jener Zeit den Eindruck behalten, daß das Jahr in Quarta wohl
das grundlegendste, fruchtbarste und normalste meiner ganzen Schulzeit gewesen
ist. Ordinarius von Quarta war damals der Subrektor Kalleubcich, ein eigen¬
tümlicher, aber überaus treuer und wohlwollender Mann und zugleich vorzüglicher
Lehrer, der mit seiner väterlichen Art die ihm anvertraute Klasse in allen Fächern
musterhaft und mit voller Sicherheit zur Erreichung des Klassenziels führte. Wir
hatten uicht mir den äußersten Respekt vor ihm, sondern wir liebten ihn, weil wir
durchfühlten, mit welcher Gewissenhaftigkeit er sein Amt führte, und mit welcher
Treue er jeden seiner Schüler im Herzen trug. Er erhielt uus auch in gespannter
Aufmerksamkeit, und wir fühlten selbst, daß wir unter seiner Leitung vorwärts kamen.
Er hielt in der Quarta alle Stunden selbst, mit Ausnahme des Singens und
Zeichnens. Seine Religionsstunden waren damals die einzigen an dem Gymnasium,
in denen die Schüler wirklich religiös angefaßt wurden. Jedenfalls wurde in uns eine
grundlegende Kenntnis der biblischen Geschichte, des Katechismus und des evangelischen
Liederschatzes befestigt. Dabei war nichts Forciertes und Übertriebnes. Wir gingen
gern in die Neligionsstunde, weil wir wußten, daß Herr Kaltenbach ein frommer
Mann von ganz tadellosem Wandel war, der uns lieb hatte.

In Quarta wurde damals das Griechische angefangen. Wir lernten es nach
Buttmanns Grammatik und benutzten dabei das Lesebuch vou Jacobs. Ich weiß,
welche unendlichen Nöte mir damals der erste Satz dieses Lesebuchs: Ä ^A?/
^"ex^" ^""^" cor/v gemacht hat. Ich übersetzte ihn wörtlich: "Der Trunk ist ein
kleiner Wahnsinn" und konnte durchaus keinen rechten Sinn in diesen Satz bringen.
Ich wollte alles mit völliger Klarheit durchschauen. Daß das bloße Trinken kein
Wahnsinn war, wußte ich. Also mußte etwas andres gemeint sein. Vielleicht die
Trunksucht. Aber auch Trunksüchtige waren doch wenigstens zeitweis nüchtern und
dann nicht verrückt. Schließlich nach vielem Fragen kam ich auf die Betrunkenheit,
den Rausch, der wohl als gelinder Wahnsinn bezeichnet werden konnte. Zum ersten¬
mal hörten wir hier in Quarta solche Begriffe an der Hand der fremden Sprache
mit logischer Klarheit Präzis entwickeln.

Ähnlich, nur viel eingehender, wurden wir im Lateinischen weiter gefördert.
Herr Kaltenbach las mit uns den Cornelius Nepos. Sowohl was die Sprache
wie was die Geschichte anlangt, wußte er unser Interesse dafür zu erwecken, und
wir beherrschten schließlich das Gelesne gründlich.

Herr Kaltenbach war damals noch unverheiratet. Er wohnte in dein alten
Gymnasialgebäude, sah weit älter aus, als er war, trug lange, dunkle Röcke und
hatte in seinem Äußern etwas von dem Gepräge des gelehrten Philologen. Aber
nie hat, glaube ich, einer seiner Schüler über ihn gelacht. Er hatte ein Herz für
die Schüler und wußte sich nicht nur deren Liebe, sondern auch ihren vollen
Respekt zu verschaffen. Ich sehe den laugen, blassen Mann noch vor mir; er
würde an einen Asketen erinnert haben, wenn nicht die liebreichen Kinderaugen so
freundlich und unschuldig aus dem markierter Gesicht hervorgeschaut hätten. Er
schlug nie, schimpfte auch nie, wurde nie hitzig. Hatte man eine falsche Antwort
gegeben oder etwa während des Unterrichts gesprochen -- das war noch immer


Grenzboten IV 1903 32
Ans der Jugendzeit

anlaßte den Angeschuldigten amtlich, seine Pensionierung nachzusuchen. Das tat er,
und die Disziplinaruntersuchung wurde eingestellt. Immerhin fühlte ich mich in
einer peinlichen Lage. Auf der einen Seite empfand ich noch etwas von der
Autorität, die der Angeschuldigte über mich einst als Lehrer ausgeübt hatte; die
Pietät des Schülers gegen den Lehrer machte sich noch geltend. Auf der andern
Seite stand ich ihm als sein Richter gegenüber und war von der Verantwortung
durchdrungen, die ich für eine gerechte und strenge Handhabung der Disziplin
gegen pflichtvergessene Lehrer im Interesse der Schulverwaltung trug. Mir war
ein Stein vom Herzen, als sich herausstellte, daß hier der freiwillige Abgang des
Angeschuldigten der nicht bloß gangbare, sondern auch gewiesne Ausweg war.

Wohlvorbereitet wurde ich nach Ablauf eines Jahres nach Quarta versetzt.
Ich habe aus jener Zeit den Eindruck behalten, daß das Jahr in Quarta wohl
das grundlegendste, fruchtbarste und normalste meiner ganzen Schulzeit gewesen
ist. Ordinarius von Quarta war damals der Subrektor Kalleubcich, ein eigen¬
tümlicher, aber überaus treuer und wohlwollender Mann und zugleich vorzüglicher
Lehrer, der mit seiner väterlichen Art die ihm anvertraute Klasse in allen Fächern
musterhaft und mit voller Sicherheit zur Erreichung des Klassenziels führte. Wir
hatten uicht mir den äußersten Respekt vor ihm, sondern wir liebten ihn, weil wir
durchfühlten, mit welcher Gewissenhaftigkeit er sein Amt führte, und mit welcher
Treue er jeden seiner Schüler im Herzen trug. Er erhielt uus auch in gespannter
Aufmerksamkeit, und wir fühlten selbst, daß wir unter seiner Leitung vorwärts kamen.
Er hielt in der Quarta alle Stunden selbst, mit Ausnahme des Singens und
Zeichnens. Seine Religionsstunden waren damals die einzigen an dem Gymnasium,
in denen die Schüler wirklich religiös angefaßt wurden. Jedenfalls wurde in uns eine
grundlegende Kenntnis der biblischen Geschichte, des Katechismus und des evangelischen
Liederschatzes befestigt. Dabei war nichts Forciertes und Übertriebnes. Wir gingen
gern in die Neligionsstunde, weil wir wußten, daß Herr Kaltenbach ein frommer
Mann von ganz tadellosem Wandel war, der uns lieb hatte.

In Quarta wurde damals das Griechische angefangen. Wir lernten es nach
Buttmanns Grammatik und benutzten dabei das Lesebuch vou Jacobs. Ich weiß,
welche unendlichen Nöte mir damals der erste Satz dieses Lesebuchs: Ä ^A?/
^«ex^« ^«»^« cor/v gemacht hat. Ich übersetzte ihn wörtlich: „Der Trunk ist ein
kleiner Wahnsinn" und konnte durchaus keinen rechten Sinn in diesen Satz bringen.
Ich wollte alles mit völliger Klarheit durchschauen. Daß das bloße Trinken kein
Wahnsinn war, wußte ich. Also mußte etwas andres gemeint sein. Vielleicht die
Trunksucht. Aber auch Trunksüchtige waren doch wenigstens zeitweis nüchtern und
dann nicht verrückt. Schließlich nach vielem Fragen kam ich auf die Betrunkenheit,
den Rausch, der wohl als gelinder Wahnsinn bezeichnet werden konnte. Zum ersten¬
mal hörten wir hier in Quarta solche Begriffe an der Hand der fremden Sprache
mit logischer Klarheit Präzis entwickeln.

Ähnlich, nur viel eingehender, wurden wir im Lateinischen weiter gefördert.
Herr Kaltenbach las mit uns den Cornelius Nepos. Sowohl was die Sprache
wie was die Geschichte anlangt, wußte er unser Interesse dafür zu erwecken, und
wir beherrschten schließlich das Gelesne gründlich.

Herr Kaltenbach war damals noch unverheiratet. Er wohnte in dein alten
Gymnasialgebäude, sah weit älter aus, als er war, trug lange, dunkle Röcke und
hatte in seinem Äußern etwas von dem Gepräge des gelehrten Philologen. Aber
nie hat, glaube ich, einer seiner Schüler über ihn gelacht. Er hatte ein Herz für
die Schüler und wußte sich nicht nur deren Liebe, sondern auch ihren vollen
Respekt zu verschaffen. Ich sehe den laugen, blassen Mann noch vor mir; er
würde an einen Asketen erinnert haben, wenn nicht die liebreichen Kinderaugen so
freundlich und unschuldig aus dem markierter Gesicht hervorgeschaut hätten. Er
schlug nie, schimpfte auch nie, wurde nie hitzig. Hatte man eine falsche Antwort
gegeben oder etwa während des Unterrichts gesprochen — das war noch immer


Grenzboten IV 1903 32
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[0257] Ans der Jugendzeit anlaßte den Angeschuldigten amtlich, seine Pensionierung nachzusuchen. Das tat er, und die Disziplinaruntersuchung wurde eingestellt. Immerhin fühlte ich mich in einer peinlichen Lage. Auf der einen Seite empfand ich noch etwas von der Autorität, die der Angeschuldigte über mich einst als Lehrer ausgeübt hatte; die Pietät des Schülers gegen den Lehrer machte sich noch geltend. Auf der andern Seite stand ich ihm als sein Richter gegenüber und war von der Verantwortung durchdrungen, die ich für eine gerechte und strenge Handhabung der Disziplin gegen pflichtvergessene Lehrer im Interesse der Schulverwaltung trug. Mir war ein Stein vom Herzen, als sich herausstellte, daß hier der freiwillige Abgang des Angeschuldigten der nicht bloß gangbare, sondern auch gewiesne Ausweg war. Wohlvorbereitet wurde ich nach Ablauf eines Jahres nach Quarta versetzt. Ich habe aus jener Zeit den Eindruck behalten, daß das Jahr in Quarta wohl das grundlegendste, fruchtbarste und normalste meiner ganzen Schulzeit gewesen ist. Ordinarius von Quarta war damals der Subrektor Kalleubcich, ein eigen¬ tümlicher, aber überaus treuer und wohlwollender Mann und zugleich vorzüglicher Lehrer, der mit seiner väterlichen Art die ihm anvertraute Klasse in allen Fächern musterhaft und mit voller Sicherheit zur Erreichung des Klassenziels führte. Wir hatten uicht mir den äußersten Respekt vor ihm, sondern wir liebten ihn, weil wir durchfühlten, mit welcher Gewissenhaftigkeit er sein Amt führte, und mit welcher Treue er jeden seiner Schüler im Herzen trug. Er erhielt uus auch in gespannter Aufmerksamkeit, und wir fühlten selbst, daß wir unter seiner Leitung vorwärts kamen. Er hielt in der Quarta alle Stunden selbst, mit Ausnahme des Singens und Zeichnens. Seine Religionsstunden waren damals die einzigen an dem Gymnasium, in denen die Schüler wirklich religiös angefaßt wurden. Jedenfalls wurde in uns eine grundlegende Kenntnis der biblischen Geschichte, des Katechismus und des evangelischen Liederschatzes befestigt. Dabei war nichts Forciertes und Übertriebnes. Wir gingen gern in die Neligionsstunde, weil wir wußten, daß Herr Kaltenbach ein frommer Mann von ganz tadellosem Wandel war, der uns lieb hatte. In Quarta wurde damals das Griechische angefangen. Wir lernten es nach Buttmanns Grammatik und benutzten dabei das Lesebuch vou Jacobs. Ich weiß, welche unendlichen Nöte mir damals der erste Satz dieses Lesebuchs: Ä ^A?/ ^«ex^« ^«»^« cor/v gemacht hat. Ich übersetzte ihn wörtlich: „Der Trunk ist ein kleiner Wahnsinn" und konnte durchaus keinen rechten Sinn in diesen Satz bringen. Ich wollte alles mit völliger Klarheit durchschauen. Daß das bloße Trinken kein Wahnsinn war, wußte ich. Also mußte etwas andres gemeint sein. Vielleicht die Trunksucht. Aber auch Trunksüchtige waren doch wenigstens zeitweis nüchtern und dann nicht verrückt. Schließlich nach vielem Fragen kam ich auf die Betrunkenheit, den Rausch, der wohl als gelinder Wahnsinn bezeichnet werden konnte. Zum ersten¬ mal hörten wir hier in Quarta solche Begriffe an der Hand der fremden Sprache mit logischer Klarheit Präzis entwickeln. Ähnlich, nur viel eingehender, wurden wir im Lateinischen weiter gefördert. Herr Kaltenbach las mit uns den Cornelius Nepos. Sowohl was die Sprache wie was die Geschichte anlangt, wußte er unser Interesse dafür zu erwecken, und wir beherrschten schließlich das Gelesne gründlich. Herr Kaltenbach war damals noch unverheiratet. Er wohnte in dein alten Gymnasialgebäude, sah weit älter aus, als er war, trug lange, dunkle Röcke und hatte in seinem Äußern etwas von dem Gepräge des gelehrten Philologen. Aber nie hat, glaube ich, einer seiner Schüler über ihn gelacht. Er hatte ein Herz für die Schüler und wußte sich nicht nur deren Liebe, sondern auch ihren vollen Respekt zu verschaffen. Ich sehe den laugen, blassen Mann noch vor mir; er würde an einen Asketen erinnert haben, wenn nicht die liebreichen Kinderaugen so freundlich und unschuldig aus dem markierter Gesicht hervorgeschaut hätten. Er schlug nie, schimpfte auch nie, wurde nie hitzig. Hatte man eine falsche Antwort gegeben oder etwa während des Unterrichts gesprochen — das war noch immer Grenzboten IV 1903 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/257>, abgerufen am 03.07.2024.