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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

meine persönliche Gefahr -- oder sonst etwas Verkehrtes gemacht, dann trat er,
in der linken den Cornelius Nepos, dicht an die Bank heran und streckte die rechte
Hand mit ausgespreizten Fingern gegen den Jungen vor und sagte nur: "Ich
werde dir eine Barriere vorsetzen, darüber du nicht springen sollst. Bosse, sechs
Strich!" Damit war die Sache aus. Die Striche waren Notizen für gemachte
Fehler. Sie wurden aber durch gute Leistungen kompensiert. Deshalb waren
nicht einmal sechs auf einmal ein so großes Unglück, wie es zunächst den Anschein
hatte. Hatte ein Junge sich einmal besonders schwer vergangen, dann bestellte ihn
Herr Kaltenbach zu sich aufs Zimmer. Dort wußte er auch den frechsten Jungen
so ernst und doch so liebreich und väterlich ins Gewissen zu reden, daß sie sich
regelmäßig beugten. In Quarta blieb auch der schlechteste Junge nicht hangen.
Herr Kaltenbach brachte jeden Jungen schließlich vorwärts. O du treuer, lieber
Mann! Wie viele werden dir deine Liebe, Geduld und Treue noch in der
Ewigkeit danken! Du warst ein lauteres Kiudesgemüt, darum hast du solche Macht
über die Jugend geübt.

Ganz besonders gewann Herr Kaltenbach unsre Herzen durch den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht, namentlich den botanischen und die botanischen Exkur¬
sionen. Wir lernten bei ihm keineswegs bloß das Linnesche Shstem, sondern wir
lernten unsre herrliche heimatliche Harzflora, mich unsre schönen Bäume und Ge¬
sträuche kennen und lieben. Ich weiß nicht, ob dies damals zum Lehrplan des
Gymnasiums gehörte. Das aber weiß ich, daß ich an dem, was unser lieber alter
Lehrer uns damals gegeben hat, noch heute als Greis meine Freude habe.

Geschlagen wurde auf dem Gymnasium oder, wie man es damals in Quedlin¬
burg im Volksimmde nannte, auf der "großen Schule" nicht. Ich entsinne mich
nicht, daß auch nur ein einziger Gymnasiast von einem Lehrer einmal eine Ohr¬
feige bekommen hätte. Verdient hätten wir eine solche oft genug; aber es mag
wohl besser gewesen sein, daß das Gymnasium nach der Regel Walters von der
Vogelweide ohne Schläge zu erziehen bestrebt war:

Bis hierher war alles gut gegangen. Wir waren frische, fleißige, fröhliche
und auch gesittete Jungen. Wild und zuweilen ein wenig unbändig, aber guten
Willens und folgsam. Unsre Jugendlust tobten wir draußen aus. Von Stubeu-
hockerei, Verweichlichung und Überbürdung war gar keine Rede. Willig leisteten
wir, was die Schule von uns verlangte. Dabei behielten wir Zeit genug, in Feld
und Wald, in der unmittelbaren Nähe der Stadt und im Harz umher zu schweifen.
Von Überarbeitung, Nervenschwäche und solchen modernen Schülerkrankheiten
wußten wir nichts.

Von Tertia an gewann aber unser Leben ein verändertes Aussehen. Es
kamen die Flcgeljnhre, und mit ihnen manche Ausschreitungen schlimmerer Art.

(Fortsetzung folgt)




Aus der Jugendzeit

meine persönliche Gefahr — oder sonst etwas Verkehrtes gemacht, dann trat er,
in der linken den Cornelius Nepos, dicht an die Bank heran und streckte die rechte
Hand mit ausgespreizten Fingern gegen den Jungen vor und sagte nur: „Ich
werde dir eine Barriere vorsetzen, darüber du nicht springen sollst. Bosse, sechs
Strich!" Damit war die Sache aus. Die Striche waren Notizen für gemachte
Fehler. Sie wurden aber durch gute Leistungen kompensiert. Deshalb waren
nicht einmal sechs auf einmal ein so großes Unglück, wie es zunächst den Anschein
hatte. Hatte ein Junge sich einmal besonders schwer vergangen, dann bestellte ihn
Herr Kaltenbach zu sich aufs Zimmer. Dort wußte er auch den frechsten Jungen
so ernst und doch so liebreich und väterlich ins Gewissen zu reden, daß sie sich
regelmäßig beugten. In Quarta blieb auch der schlechteste Junge nicht hangen.
Herr Kaltenbach brachte jeden Jungen schließlich vorwärts. O du treuer, lieber
Mann! Wie viele werden dir deine Liebe, Geduld und Treue noch in der
Ewigkeit danken! Du warst ein lauteres Kiudesgemüt, darum hast du solche Macht
über die Jugend geübt.

Ganz besonders gewann Herr Kaltenbach unsre Herzen durch den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht, namentlich den botanischen und die botanischen Exkur¬
sionen. Wir lernten bei ihm keineswegs bloß das Linnesche Shstem, sondern wir
lernten unsre herrliche heimatliche Harzflora, mich unsre schönen Bäume und Ge¬
sträuche kennen und lieben. Ich weiß nicht, ob dies damals zum Lehrplan des
Gymnasiums gehörte. Das aber weiß ich, daß ich an dem, was unser lieber alter
Lehrer uns damals gegeben hat, noch heute als Greis meine Freude habe.

Geschlagen wurde auf dem Gymnasium oder, wie man es damals in Quedlin¬
burg im Volksimmde nannte, auf der „großen Schule" nicht. Ich entsinne mich
nicht, daß auch nur ein einziger Gymnasiast von einem Lehrer einmal eine Ohr¬
feige bekommen hätte. Verdient hätten wir eine solche oft genug; aber es mag
wohl besser gewesen sein, daß das Gymnasium nach der Regel Walters von der
Vogelweide ohne Schläge zu erziehen bestrebt war:

Bis hierher war alles gut gegangen. Wir waren frische, fleißige, fröhliche
und auch gesittete Jungen. Wild und zuweilen ein wenig unbändig, aber guten
Willens und folgsam. Unsre Jugendlust tobten wir draußen aus. Von Stubeu-
hockerei, Verweichlichung und Überbürdung war gar keine Rede. Willig leisteten
wir, was die Schule von uns verlangte. Dabei behielten wir Zeit genug, in Feld
und Wald, in der unmittelbaren Nähe der Stadt und im Harz umher zu schweifen.
Von Überarbeitung, Nervenschwäche und solchen modernen Schülerkrankheiten
wußten wir nichts.

Von Tertia an gewann aber unser Leben ein verändertes Aussehen. Es
kamen die Flcgeljnhre, und mit ihnen manche Ausschreitungen schlimmerer Art.

(Fortsetzung folgt)




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[0258] Aus der Jugendzeit meine persönliche Gefahr — oder sonst etwas Verkehrtes gemacht, dann trat er, in der linken den Cornelius Nepos, dicht an die Bank heran und streckte die rechte Hand mit ausgespreizten Fingern gegen den Jungen vor und sagte nur: „Ich werde dir eine Barriere vorsetzen, darüber du nicht springen sollst. Bosse, sechs Strich!" Damit war die Sache aus. Die Striche waren Notizen für gemachte Fehler. Sie wurden aber durch gute Leistungen kompensiert. Deshalb waren nicht einmal sechs auf einmal ein so großes Unglück, wie es zunächst den Anschein hatte. Hatte ein Junge sich einmal besonders schwer vergangen, dann bestellte ihn Herr Kaltenbach zu sich aufs Zimmer. Dort wußte er auch den frechsten Jungen so ernst und doch so liebreich und väterlich ins Gewissen zu reden, daß sie sich regelmäßig beugten. In Quarta blieb auch der schlechteste Junge nicht hangen. Herr Kaltenbach brachte jeden Jungen schließlich vorwärts. O du treuer, lieber Mann! Wie viele werden dir deine Liebe, Geduld und Treue noch in der Ewigkeit danken! Du warst ein lauteres Kiudesgemüt, darum hast du solche Macht über die Jugend geübt. Ganz besonders gewann Herr Kaltenbach unsre Herzen durch den natur¬ wissenschaftlichen Unterricht, namentlich den botanischen und die botanischen Exkur¬ sionen. Wir lernten bei ihm keineswegs bloß das Linnesche Shstem, sondern wir lernten unsre herrliche heimatliche Harzflora, mich unsre schönen Bäume und Ge¬ sträuche kennen und lieben. Ich weiß nicht, ob dies damals zum Lehrplan des Gymnasiums gehörte. Das aber weiß ich, daß ich an dem, was unser lieber alter Lehrer uns damals gegeben hat, noch heute als Greis meine Freude habe. Geschlagen wurde auf dem Gymnasium oder, wie man es damals in Quedlin¬ burg im Volksimmde nannte, auf der „großen Schule" nicht. Ich entsinne mich nicht, daß auch nur ein einziger Gymnasiast von einem Lehrer einmal eine Ohr¬ feige bekommen hätte. Verdient hätten wir eine solche oft genug; aber es mag wohl besser gewesen sein, daß das Gymnasium nach der Regel Walters von der Vogelweide ohne Schläge zu erziehen bestrebt war: Bis hierher war alles gut gegangen. Wir waren frische, fleißige, fröhliche und auch gesittete Jungen. Wild und zuweilen ein wenig unbändig, aber guten Willens und folgsam. Unsre Jugendlust tobten wir draußen aus. Von Stubeu- hockerei, Verweichlichung und Überbürdung war gar keine Rede. Willig leisteten wir, was die Schule von uns verlangte. Dabei behielten wir Zeit genug, in Feld und Wald, in der unmittelbaren Nähe der Stadt und im Harz umher zu schweifen. Von Überarbeitung, Nervenschwäche und solchen modernen Schülerkrankheiten wußten wir nichts. Von Tertia an gewann aber unser Leben ein verändertes Aussehen. Es kamen die Flcgeljnhre, und mit ihnen manche Ausschreitungen schlimmerer Art. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/258>, abgerufen am 01.07.2024.