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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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als Vorahner des Calmetteschcn Schlangengiftserums zu preisen.

Aber klar und lebendig treten uns Fragen und Bestrebungen der Gegen¬
wart in einem Buche des achtzehnten Jahrhunderts entgegen, das von der
Literaturgeschichte uur mit höchsten Ehren genannt wird, und dessen vier
Bände doch nur selten aus ihrem beschaulichen Nnhedascin auf den Neposi-
torien der öffentlichen Bibliotheken gestört werden -- in Justus Mösers
Patriotischen Phantasien. Wie in einem klaren Spiegel sehen wir da Auf¬
gaben und Fragen, die der heutige Tag uns stellt, in schöner Helle, und in
den kunstvollen Rahmen sind allerlei vergnügliche Bildchen eingeschliffen, Rokoko¬
damen mit ?1um6es Ä In I/0M8 ssiiüö und ^1IonM8 ü. I" ü'^revis, zierliche
Kammerjungfern und derbe Bauerntänze, uralte niedersächsische Hofstätten und
verschnörkelte "englische Gärigen."

Woher kommt es, daß die Patriotischen Phantasien so wenig gelesen
werden? Truge vielleicht der Titel die Schuld? Wer Möser noch nicht
kennt, dem mag, wenn er von patriotischen Phantasien hört, eine Vorstellung
kommen von lyrisch rhetorischen Ergüssen, von schwungvollen Bardengesängcn,
die wohl angetan ist, den modernen Leser einzuschüchtern. Wie sollte er auch
vermuten, daß dieser Titel einer Sammlung von WochenschriftSartikeln und
kleinen Erzählungen angehört, "die mehrenteils ihren eignen komischen Ton
haben," und darin alles andre eher zu finden ist als Gefühlsschwelgerei.
Feuilletons könnte man sie dem lebhaften, ungezwungner Stil nach nennen,
aber diese Bezeichnung gibt keinen Begriff von dem Reichtum an großen und
fruchtbaren Ideen, die der Verfasser darin niedergelegt hat, und deren Fülle
heute noch nicht ausgeschöpft ist.

Als im Jahre 1774 die erste Sammlung der Patriotischen Phantasien
erschien, konnte der Titel, der so wenig vom Inhalt verrät, das Publikum
nicht irreführen. Die einzelnen Artikel waren schon während einer Reihe von
Jahren in den Osnabrückischen Jntelligenzblättern veröffentlicht worden und
hatten in verschiednen Monatsschriften ihren Weg durch Deutschland gefunden.
Die Herausgabe wurde freudig begrüßt. Goethe, der den "herrlichen Justus
Möser" zu den "bewährtesten Männern des Vaterlands" zählt, dem der "un¬
vergleichliche Mann" "unendlich imponierte," hatte das Erscheinen der Samm¬
lung kaum erwarten können; er trug sie mit sich herum, wann, wo er sie auf¬
schlug, wards ihm wohl. Vom Berliner und vom Wiener Hof wurde "Aller¬
höchster Beyfall" gemeldet. "Über meine Phantasiern erhalte ich die mehrsten
Komplimente aus Wien, und ich habe dem Kaiser ^Joseph dein Zweitens selbst
über einige Punkte Erläuterungen geben müssen." (Mösers Briefe an Nicolai.)

In der Vorrede spricht Möser die Besorgnis aus, vieles sei zu lokal und
möge auswärts einen Erdgeschmack haben. Gerade dieser "Erdgeschmack." dieses



^)
(1'ng,os, Theriak galt noch zu Cnlderons Zeit für das wirksamste Gegengift.)

als Vorahner des Calmetteschcn Schlangengiftserums zu preisen.

Aber klar und lebendig treten uns Fragen und Bestrebungen der Gegen¬
wart in einem Buche des achtzehnten Jahrhunderts entgegen, das von der
Literaturgeschichte uur mit höchsten Ehren genannt wird, und dessen vier
Bände doch nur selten aus ihrem beschaulichen Nnhedascin auf den Neposi-
torien der öffentlichen Bibliotheken gestört werden — in Justus Mösers
Patriotischen Phantasien. Wie in einem klaren Spiegel sehen wir da Auf¬
gaben und Fragen, die der heutige Tag uns stellt, in schöner Helle, und in
den kunstvollen Rahmen sind allerlei vergnügliche Bildchen eingeschliffen, Rokoko¬
damen mit ?1um6es Ä In I/0M8 ssiiüö und ^1IonM8 ü. I» ü'^revis, zierliche
Kammerjungfern und derbe Bauerntänze, uralte niedersächsische Hofstätten und
verschnörkelte „englische Gärigen."

Woher kommt es, daß die Patriotischen Phantasien so wenig gelesen
werden? Truge vielleicht der Titel die Schuld? Wer Möser noch nicht
kennt, dem mag, wenn er von patriotischen Phantasien hört, eine Vorstellung
kommen von lyrisch rhetorischen Ergüssen, von schwungvollen Bardengesängcn,
die wohl angetan ist, den modernen Leser einzuschüchtern. Wie sollte er auch
vermuten, daß dieser Titel einer Sammlung von WochenschriftSartikeln und
kleinen Erzählungen angehört, „die mehrenteils ihren eignen komischen Ton
haben," und darin alles andre eher zu finden ist als Gefühlsschwelgerei.
Feuilletons könnte man sie dem lebhaften, ungezwungner Stil nach nennen,
aber diese Bezeichnung gibt keinen Begriff von dem Reichtum an großen und
fruchtbaren Ideen, die der Verfasser darin niedergelegt hat, und deren Fülle
heute noch nicht ausgeschöpft ist.

Als im Jahre 1774 die erste Sammlung der Patriotischen Phantasien
erschien, konnte der Titel, der so wenig vom Inhalt verrät, das Publikum
nicht irreführen. Die einzelnen Artikel waren schon während einer Reihe von
Jahren in den Osnabrückischen Jntelligenzblättern veröffentlicht worden und
hatten in verschiednen Monatsschriften ihren Weg durch Deutschland gefunden.
Die Herausgabe wurde freudig begrüßt. Goethe, der den „herrlichen Justus
Möser" zu den „bewährtesten Männern des Vaterlands" zählt, dem der „un¬
vergleichliche Mann" „unendlich imponierte," hatte das Erscheinen der Samm¬
lung kaum erwarten können; er trug sie mit sich herum, wann, wo er sie auf¬
schlug, wards ihm wohl. Vom Berliner und vom Wiener Hof wurde „Aller¬
höchster Beyfall" gemeldet. „Über meine Phantasiern erhalte ich die mehrsten
Komplimente aus Wien, und ich habe dem Kaiser ^Joseph dein Zweitens selbst
über einige Punkte Erläuterungen geben müssen." (Mösers Briefe an Nicolai.)

In der Vorrede spricht Möser die Besorgnis aus, vieles sei zu lokal und
möge auswärts einen Erdgeschmack haben. Gerade dieser „Erdgeschmack." dieses



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(1'ng,os, Theriak galt noch zu Cnlderons Zeit für das wirksamste Gegengift.)
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[0245] als Vorahner des Calmetteschcn Schlangengiftserums zu preisen. Aber klar und lebendig treten uns Fragen und Bestrebungen der Gegen¬ wart in einem Buche des achtzehnten Jahrhunderts entgegen, das von der Literaturgeschichte uur mit höchsten Ehren genannt wird, und dessen vier Bände doch nur selten aus ihrem beschaulichen Nnhedascin auf den Neposi- torien der öffentlichen Bibliotheken gestört werden — in Justus Mösers Patriotischen Phantasien. Wie in einem klaren Spiegel sehen wir da Auf¬ gaben und Fragen, die der heutige Tag uns stellt, in schöner Helle, und in den kunstvollen Rahmen sind allerlei vergnügliche Bildchen eingeschliffen, Rokoko¬ damen mit ?1um6es Ä In I/0M8 ssiiüö und ^1IonM8 ü. I» ü'^revis, zierliche Kammerjungfern und derbe Bauerntänze, uralte niedersächsische Hofstätten und verschnörkelte „englische Gärigen." Woher kommt es, daß die Patriotischen Phantasien so wenig gelesen werden? Truge vielleicht der Titel die Schuld? Wer Möser noch nicht kennt, dem mag, wenn er von patriotischen Phantasien hört, eine Vorstellung kommen von lyrisch rhetorischen Ergüssen, von schwungvollen Bardengesängcn, die wohl angetan ist, den modernen Leser einzuschüchtern. Wie sollte er auch vermuten, daß dieser Titel einer Sammlung von WochenschriftSartikeln und kleinen Erzählungen angehört, „die mehrenteils ihren eignen komischen Ton haben," und darin alles andre eher zu finden ist als Gefühlsschwelgerei. Feuilletons könnte man sie dem lebhaften, ungezwungner Stil nach nennen, aber diese Bezeichnung gibt keinen Begriff von dem Reichtum an großen und fruchtbaren Ideen, die der Verfasser darin niedergelegt hat, und deren Fülle heute noch nicht ausgeschöpft ist. Als im Jahre 1774 die erste Sammlung der Patriotischen Phantasien erschien, konnte der Titel, der so wenig vom Inhalt verrät, das Publikum nicht irreführen. Die einzelnen Artikel waren schon während einer Reihe von Jahren in den Osnabrückischen Jntelligenzblättern veröffentlicht worden und hatten in verschiednen Monatsschriften ihren Weg durch Deutschland gefunden. Die Herausgabe wurde freudig begrüßt. Goethe, der den „herrlichen Justus Möser" zu den „bewährtesten Männern des Vaterlands" zählt, dem der „un¬ vergleichliche Mann" „unendlich imponierte," hatte das Erscheinen der Samm¬ lung kaum erwarten können; er trug sie mit sich herum, wann, wo er sie auf¬ schlug, wards ihm wohl. Vom Berliner und vom Wiener Hof wurde „Aller¬ höchster Beyfall" gemeldet. „Über meine Phantasiern erhalte ich die mehrsten Komplimente aus Wien, und ich habe dem Kaiser ^Joseph dein Zweitens selbst über einige Punkte Erläuterungen geben müssen." (Mösers Briefe an Nicolai.) In der Vorrede spricht Möser die Besorgnis aus, vieles sei zu lokal und möge auswärts einen Erdgeschmack haben. Gerade dieser „Erdgeschmack." dieses ^) (1'ng,os, Theriak galt noch zu Cnlderons Zeit für das wirksamste Gegengift.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/245>, abgerufen am 22.07.2024.