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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Kronprinz Friedrich und Ernst Lnrtius

Mit der alten Unfähigkeit des liberalen deutschen Bürgertums, Machtfragen
zu begreifen, geschweige denn die Macht selbst zu ergreifen, versäumte damals
die liberale Partei Preußens die unwiederbringliche Gelegenheit, durch Be¬
willigung der für ihre eignen nationalen Ziele unbedingt notwendigen Heeres-
reform ihre Macht dauernd zu befestigen, die Regierung König Wilhelms, die
für sie so verheißungsvoll begonnen hatte, in ihrem Sinne zu lenken. Schon
im März 1862 berief der König, der doch selbst gestand, "daß ihm nach den
roten Republikanern keine Leute so verhaßt seien, wie die Kreuzzeitungsleute"
(Curtius, 13, Januar 1862), das schon konservativ gefärbte Kabinett Hohen-
lohe, und im September stellte er nach schwerem innerm Kampfe einen Kreuz-
zcitungsmann, Otto von Bismarck, an die Spitze des Ministeriums. So geriet
der Kronprinz in die schwierigste Lage. Von der Notwendigkeit der Heeres¬
reform war er gerade so gut überzeugt wie der König (an Curtius 3. Februar
1861), aber durch seine ganze Erziehung und durch seine Charaktcrmilage war
er für die liberale Staatsauffassung gewonnen worden ("er war sehr menschen¬
freundlich und aus Menschenfreundlichkeit liberal," urteilte später einmal Fürst
Bismarck); durch den Einfluß seiner jungen Gemahlin, seines Schwiegervaters
und Stockmars wurde er in dieser Auffassung noch mehr befestigt.*) Der
Gedanke, mit der im Landtage vertretnen gebildeten Mehrheit seines Volks in
Kampf zu geraten, war ihm schrecklich, und nur als Vorkämpfer des liberalen
Prinzips sollte Preußen Deutschland leiten; jede Andeutung von Annexionen
wies er weit von sich, und der Grundgedanke seiner auswärtigen Politik war
das Einvernehmen mit England.

Es standen einander eben zwei Anschauungen vom Staate gegenüber, die
hart politische, die das Wesen des Staats in der Macht, seine erste Aufgabe
in der Selbstbehauptung sieht, deshalb auch eine möglichst starke Staatsgewalt
null, und die aus der Bildung der Aufklärn"gszeit erwachsne, auch die Zeit
unsrer klassischen Dichtung beherrschende individualistische, liberale, die die
möglichste Freiheit des Einzelnen mehr vom Staate als im Staate versieht
und in der Förderung der persönlichen Entwicklung, also auch der Kultur
seinen Hauptzweck erkennt, deshalb eine möglichst ausgedehnte Teilnahme des
Volks an der Regierung für selbstverständlich hält. Der edelste Staat wird
natürlich der sein, der beide Aufgaben löst, und er war Curtius Ideal; aber
in Zeiten der Krisis wie die damalige, wo das Fortbcstehn der deutschen
Nation auf dem Spiele stand, mußte die erste hinter der zweiten zurücktreten.
Gewiß war es ein Verhängnis, daß die Grundlagen der deutschen Einheit im
Widerspruch mit der großen Mehrheit der gebildeten Deutschen geschaffen werden
mußten, aber das war nicht die Schuld des preußischen Königtums, sondern
der mangelhaften politischen Schulung der Deutschen, die wieder in ihrem
ganzen Entwicklungsgange begründet war, und es war unendlich wichtiger, der
Nation eine brauchbare Gesamtverfassung zu geben, als den unklaren, wider¬
spruchsvollen Strömungen ihrer Mehrheit zu folgen.



") Dnsz sie durch solche Einwirkungen nicht erst in ihm begründet worden sei, betont mit
Recht Philippson S. 297.
Ärenzlwten IV 1S08 13
Kronprinz Friedrich und Ernst Lnrtius

Mit der alten Unfähigkeit des liberalen deutschen Bürgertums, Machtfragen
zu begreifen, geschweige denn die Macht selbst zu ergreifen, versäumte damals
die liberale Partei Preußens die unwiederbringliche Gelegenheit, durch Be¬
willigung der für ihre eignen nationalen Ziele unbedingt notwendigen Heeres-
reform ihre Macht dauernd zu befestigen, die Regierung König Wilhelms, die
für sie so verheißungsvoll begonnen hatte, in ihrem Sinne zu lenken. Schon
im März 1862 berief der König, der doch selbst gestand, „daß ihm nach den
roten Republikanern keine Leute so verhaßt seien, wie die Kreuzzeitungsleute"
(Curtius, 13, Januar 1862), das schon konservativ gefärbte Kabinett Hohen-
lohe, und im September stellte er nach schwerem innerm Kampfe einen Kreuz-
zcitungsmann, Otto von Bismarck, an die Spitze des Ministeriums. So geriet
der Kronprinz in die schwierigste Lage. Von der Notwendigkeit der Heeres¬
reform war er gerade so gut überzeugt wie der König (an Curtius 3. Februar
1861), aber durch seine ganze Erziehung und durch seine Charaktcrmilage war
er für die liberale Staatsauffassung gewonnen worden („er war sehr menschen¬
freundlich und aus Menschenfreundlichkeit liberal," urteilte später einmal Fürst
Bismarck); durch den Einfluß seiner jungen Gemahlin, seines Schwiegervaters
und Stockmars wurde er in dieser Auffassung noch mehr befestigt.*) Der
Gedanke, mit der im Landtage vertretnen gebildeten Mehrheit seines Volks in
Kampf zu geraten, war ihm schrecklich, und nur als Vorkämpfer des liberalen
Prinzips sollte Preußen Deutschland leiten; jede Andeutung von Annexionen
wies er weit von sich, und der Grundgedanke seiner auswärtigen Politik war
das Einvernehmen mit England.

Es standen einander eben zwei Anschauungen vom Staate gegenüber, die
hart politische, die das Wesen des Staats in der Macht, seine erste Aufgabe
in der Selbstbehauptung sieht, deshalb auch eine möglichst starke Staatsgewalt
null, und die aus der Bildung der Aufklärn»gszeit erwachsne, auch die Zeit
unsrer klassischen Dichtung beherrschende individualistische, liberale, die die
möglichste Freiheit des Einzelnen mehr vom Staate als im Staate versieht
und in der Förderung der persönlichen Entwicklung, also auch der Kultur
seinen Hauptzweck erkennt, deshalb eine möglichst ausgedehnte Teilnahme des
Volks an der Regierung für selbstverständlich hält. Der edelste Staat wird
natürlich der sein, der beide Aufgaben löst, und er war Curtius Ideal; aber
in Zeiten der Krisis wie die damalige, wo das Fortbcstehn der deutschen
Nation auf dem Spiele stand, mußte die erste hinter der zweiten zurücktreten.
Gewiß war es ein Verhängnis, daß die Grundlagen der deutschen Einheit im
Widerspruch mit der großen Mehrheit der gebildeten Deutschen geschaffen werden
mußten, aber das war nicht die Schuld des preußischen Königtums, sondern
der mangelhaften politischen Schulung der Deutschen, die wieder in ihrem
ganzen Entwicklungsgange begründet war, und es war unendlich wichtiger, der
Nation eine brauchbare Gesamtverfassung zu geben, als den unklaren, wider¬
spruchsvollen Strömungen ihrer Mehrheit zu folgen.



") Dnsz sie durch solche Einwirkungen nicht erst in ihm begründet worden sei, betont mit
Recht Philippson S. 297.
Ärenzlwten IV 1S08 13
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/105>, abgerufen am 22.07.2024.