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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Uann Deutschland reiten?

wirtschaft bedeutete, zum Beispiel noch im sächsischen Landtagswahlrecht mit
seiner Einteilung in städtische und ländliche Wahlkreise; die ursprüngliche Be¬
deutung ist aber hier selbstverständlich fast ganz verloren gegangen.

Nun hat aber gerade in der neusten Geschichte die Berufsgliederung des
Volks neue Bedeutung gewonnen und greift immer weiter um sich. Von ein¬
schneidender Bedeutung ist dafür die Unfallversicherung des Deutschen Reichs
geworden. Das Drängen nach ärztlichen Ehrengerichten war ein Ausdruck
desselben Gedankens, und als neustes wichtiges Glied tritt die Umwandlung
der alten Innungen in Zwangsinnungen auf. Jedenfalls können wir fest¬
stellen, daß die organischen Grundlagen der alten ständischen Verfassung noch
im Volke vorhanden sind, ja wieder neue Lebenskraft gewinnen. Sollte diese
Kraft nicht ausreichen, auch das politische Leben wieder nutzbringend zu be¬
fruchten?

Und nun komme ich zum Kernpunkt der Untersuchung: Würde eine Über-
tragung der ständischen Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht imstande sein,
die Fehler des jetzigen Verfahrens wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern
und zu neuen richtigen Bahnen zu führen, und scheint eine solche Anwendung
ständischer Gliederung durchführbar?

Bei der Übertragung ständischer Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht
würden -- ans die Gestaltung wollen wir hier noch nicht näher eingehen --
sämtliche Angehörige eines bestimmten Berufsstandes innerhalb eines bestimmten
Gebiets einen Abgeordneten aus ihrer Mitte zu wählen haben. Wesentlich
ist dabei jedenfalls, daß der Abgeordnete dem Berufsstande, von Vorteil
wird es gewiß aber much sein, daß er auch dein Gebiete der Wählerschaft
angehört. Eine solche Verteilung der Abgeordneten zum Reichstage vou
toten Zahleugrnppen auf lebendige Bcrufsstäude würde sofort den verloren
gegcmgnen innern, geistigen Zusammenhang der Abgeordneten mit seinem Wähler¬
kreise zurückbringen. Erstens wären die Wähler in ganz untrer Weise als
bisher in der Lage, sich Leute auszusuchen, denen sie wirklich Vertrauen
entgegenbringen könnten. Von ihren hervorragenden Verufsgenossen haben
sie alle Kunde, auch in weitern Kreise". Sie konnten wirklich "wähle"" uuter
den Geeigneten und wären nicht darauf angewiesen, wie es jetzt oft geschieht,
einem Manne, von dem sie nicht das mindeste wissen, zu dein sie deswegen
auch kein Vertrauen haben können, nur um deswillen ihre Stimme zu geben,
weil er von der Partei, zu der sie sich zählen, empfohlen wird. Bei der größern
Ausdehnung der Wahlkreise, die durch das vorgeschlague Verfahren nötig
gemacht würde, böte sich der Vorteil, daß Leute gewählt werde" könnten,
die jetzt im engern Wahlkreise bei der Allgemeinheit weniger bekannt sind,
wohl aber in weiten Kreisen ihrer Standesgenossen mindestens als tüchtige
Leute gerühmt werden, ein Gewinn für die geistige Höhe der Abgeordncten-
versainmluug, auf den schon Joh" Stuart Mill in seinen erwähnten Betrach¬
tungen über repräsentative Negierung bei der Besprechung der Vorschläge vo"
Thomas Hare über die Vertretung der Minderheit hinweist.

Auch der Abgeordnete, der ans diesem Wege gewählt würde, wäre sicher
in ganz anderm Maße geeignet, seinen Wähler" ein wirklicher Vertreter zu


Uann Deutschland reiten?

wirtschaft bedeutete, zum Beispiel noch im sächsischen Landtagswahlrecht mit
seiner Einteilung in städtische und ländliche Wahlkreise; die ursprüngliche Be¬
deutung ist aber hier selbstverständlich fast ganz verloren gegangen.

Nun hat aber gerade in der neusten Geschichte die Berufsgliederung des
Volks neue Bedeutung gewonnen und greift immer weiter um sich. Von ein¬
schneidender Bedeutung ist dafür die Unfallversicherung des Deutschen Reichs
geworden. Das Drängen nach ärztlichen Ehrengerichten war ein Ausdruck
desselben Gedankens, und als neustes wichtiges Glied tritt die Umwandlung
der alten Innungen in Zwangsinnungen auf. Jedenfalls können wir fest¬
stellen, daß die organischen Grundlagen der alten ständischen Verfassung noch
im Volke vorhanden sind, ja wieder neue Lebenskraft gewinnen. Sollte diese
Kraft nicht ausreichen, auch das politische Leben wieder nutzbringend zu be¬
fruchten?

Und nun komme ich zum Kernpunkt der Untersuchung: Würde eine Über-
tragung der ständischen Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht imstande sein,
die Fehler des jetzigen Verfahrens wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern
und zu neuen richtigen Bahnen zu führen, und scheint eine solche Anwendung
ständischer Gliederung durchführbar?

Bei der Übertragung ständischer Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht
würden — ans die Gestaltung wollen wir hier noch nicht näher eingehen —
sämtliche Angehörige eines bestimmten Berufsstandes innerhalb eines bestimmten
Gebiets einen Abgeordneten aus ihrer Mitte zu wählen haben. Wesentlich
ist dabei jedenfalls, daß der Abgeordnete dem Berufsstande, von Vorteil
wird es gewiß aber much sein, daß er auch dein Gebiete der Wählerschaft
angehört. Eine solche Verteilung der Abgeordneten zum Reichstage vou
toten Zahleugrnppen auf lebendige Bcrufsstäude würde sofort den verloren
gegcmgnen innern, geistigen Zusammenhang der Abgeordneten mit seinem Wähler¬
kreise zurückbringen. Erstens wären die Wähler in ganz untrer Weise als
bisher in der Lage, sich Leute auszusuchen, denen sie wirklich Vertrauen
entgegenbringen könnten. Von ihren hervorragenden Verufsgenossen haben
sie alle Kunde, auch in weitern Kreise». Sie konnten wirklich „wähle»" uuter
den Geeigneten und wären nicht darauf angewiesen, wie es jetzt oft geschieht,
einem Manne, von dem sie nicht das mindeste wissen, zu dein sie deswegen
auch kein Vertrauen haben können, nur um deswillen ihre Stimme zu geben,
weil er von der Partei, zu der sie sich zählen, empfohlen wird. Bei der größern
Ausdehnung der Wahlkreise, die durch das vorgeschlague Verfahren nötig
gemacht würde, böte sich der Vorteil, daß Leute gewählt werde» könnten,
die jetzt im engern Wahlkreise bei der Allgemeinheit weniger bekannt sind,
wohl aber in weiten Kreisen ihrer Standesgenossen mindestens als tüchtige
Leute gerühmt werden, ein Gewinn für die geistige Höhe der Abgeordncten-
versainmluug, auf den schon Joh» Stuart Mill in seinen erwähnten Betrach¬
tungen über repräsentative Negierung bei der Besprechung der Vorschläge vo»
Thomas Hare über die Vertretung der Minderheit hinweist.

Auch der Abgeordnete, der ans diesem Wege gewählt würde, wäre sicher
in ganz anderm Maße geeignet, seinen Wähler» ein wirklicher Vertreter zu


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[0092] Uann Deutschland reiten? wirtschaft bedeutete, zum Beispiel noch im sächsischen Landtagswahlrecht mit seiner Einteilung in städtische und ländliche Wahlkreise; die ursprüngliche Be¬ deutung ist aber hier selbstverständlich fast ganz verloren gegangen. Nun hat aber gerade in der neusten Geschichte die Berufsgliederung des Volks neue Bedeutung gewonnen und greift immer weiter um sich. Von ein¬ schneidender Bedeutung ist dafür die Unfallversicherung des Deutschen Reichs geworden. Das Drängen nach ärztlichen Ehrengerichten war ein Ausdruck desselben Gedankens, und als neustes wichtiges Glied tritt die Umwandlung der alten Innungen in Zwangsinnungen auf. Jedenfalls können wir fest¬ stellen, daß die organischen Grundlagen der alten ständischen Verfassung noch im Volke vorhanden sind, ja wieder neue Lebenskraft gewinnen. Sollte diese Kraft nicht ausreichen, auch das politische Leben wieder nutzbringend zu be¬ fruchten? Und nun komme ich zum Kernpunkt der Untersuchung: Würde eine Über- tragung der ständischen Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht imstande sein, die Fehler des jetzigen Verfahrens wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern und zu neuen richtigen Bahnen zu führen, und scheint eine solche Anwendung ständischer Gliederung durchführbar? Bei der Übertragung ständischer Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht würden — ans die Gestaltung wollen wir hier noch nicht näher eingehen — sämtliche Angehörige eines bestimmten Berufsstandes innerhalb eines bestimmten Gebiets einen Abgeordneten aus ihrer Mitte zu wählen haben. Wesentlich ist dabei jedenfalls, daß der Abgeordnete dem Berufsstande, von Vorteil wird es gewiß aber much sein, daß er auch dein Gebiete der Wählerschaft angehört. Eine solche Verteilung der Abgeordneten zum Reichstage vou toten Zahleugrnppen auf lebendige Bcrufsstäude würde sofort den verloren gegcmgnen innern, geistigen Zusammenhang der Abgeordneten mit seinem Wähler¬ kreise zurückbringen. Erstens wären die Wähler in ganz untrer Weise als bisher in der Lage, sich Leute auszusuchen, denen sie wirklich Vertrauen entgegenbringen könnten. Von ihren hervorragenden Verufsgenossen haben sie alle Kunde, auch in weitern Kreise». Sie konnten wirklich „wähle»" uuter den Geeigneten und wären nicht darauf angewiesen, wie es jetzt oft geschieht, einem Manne, von dem sie nicht das mindeste wissen, zu dein sie deswegen auch kein Vertrauen haben können, nur um deswillen ihre Stimme zu geben, weil er von der Partei, zu der sie sich zählen, empfohlen wird. Bei der größern Ausdehnung der Wahlkreise, die durch das vorgeschlague Verfahren nötig gemacht würde, böte sich der Vorteil, daß Leute gewählt werde» könnten, die jetzt im engern Wahlkreise bei der Allgemeinheit weniger bekannt sind, wohl aber in weiten Kreisen ihrer Standesgenossen mindestens als tüchtige Leute gerühmt werden, ein Gewinn für die geistige Höhe der Abgeordncten- versainmluug, auf den schon Joh» Stuart Mill in seinen erwähnten Betrach¬ tungen über repräsentative Negierung bei der Besprechung der Vorschläge vo» Thomas Hare über die Vertretung der Minderheit hinweist. Auch der Abgeordnete, der ans diesem Wege gewählt würde, wäre sicher in ganz anderm Maße geeignet, seinen Wähler» ein wirklicher Vertreter zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/92>, abgerufen am 01.09.2024.