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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Kann Deutschland reiten?

Erwerb seiner Kolonien große und kostspielige Kriege, im Lande niber steine die
Stimmung für ?roh traäs allmählich ab. Man bedenke, wie lange es in Eng¬
land dauerte, ehe sich der Freihandel in die praktische Politik umsetzte; wird
diese Stimmung aber in die Forderung nach einem Schutzzoll umschlagen?

Die Stützen, auf denen sich einst der Freihandel aufbaute, werden welk
und morsch, ein neues Ideal beginnt England zu begeistern: der Zollverein
Englands mit seinen Kolonien -- nnter Beschränkung des Handels fremder
Industriestaaten.




Kann Deutschland reiten?
(Schluß)

it der Feststellung des innern Widerspruchs zwischen unserm
ungegliederten Wahlrecht und dem deutschen Volksgeist sind
wir schon in das Gebiet der letzten zu erörternden grundsätzlichen
Frage eingetreten, auf welchem organischen Weg an eine Ab¬
änderung gegangen werden muß. Werfen wir zunächst einen
Blick in die ältere Geschichte der deutscheu Volksvertretung, so finden wir
von Anbeginn an auch auf diesem politischen Gebiet als charakteristisch die
ständische Gliederung. Zwar sehen die mittelalterlichen Stände ganz anders
aus als unsre heutige,, Berufsstüudc. Im Grunde beruhn sie aber doch,
den viel einfachern wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend, ans denselben
Unterlagen; die Geistlichkeit als der Gelehrtenstand, der Adel als die Grund¬
herren, die Städte als die Vertreter des emporkommenden Handels sind doch
auch nur Zusammenfassungen der drei Bcrnssständegrnppen, die im Mittelalter
allein politische Bedeutung hatten. Wie die einzelnen Stunde nach und nach
zu Bedeutung gelangen, so gewinnen sie ihre politische Vertretung. Aber,
und das ist beachtenswert, sie treten nicht eigentlich in die bestehende poli¬
tische Versammlung ein, sondern als ein neues Glied neben die ältern.
Wir sehen also, daß die Spuren des auch heute noch arbeitenden Volksgeistes
schon im mittelalterlichen Ständestaat erkennbar sind. Hat nun zwar die alles
gleichmachende französische Revolution diese geschichtlich begründete Gliederung
auch in Deutschland hinweggefegt und den Boden für das geltende Wahl¬
recht geebnet: sollte dadurch der Zusammenhang mit dieser jahrhundertealten
deutschen Einrichtung und Auffassung auch vollkommen verloren gegangen
sein? sollte sich das ganze Denken eines Volkes vou außen her so vollkommen
aus der Richtung dränge" lassen? Gewißlich nicht. Denn wir sahen schon,
daß derselbe alte Volksgeist noch rege, daß der Klassenzusammenhalt der
Stände heute noch so lebhaft ist wie je. Nur auf politischem Gebiete hat er
den zerschnittueu Faden noch nicht wieder weiterspinnen können. Doch sogar
i" politischen Organisationen haben sich noch Anklänge erhalten. So findet
sich ein spärlicher Rest des alten Unterschieds zwischen Stadt und Land, der
im Mittelalter den Unterschied zwischen Handel und Gewerbe und der Land-


Kann Deutschland reiten?

Erwerb seiner Kolonien große und kostspielige Kriege, im Lande niber steine die
Stimmung für ?roh traäs allmählich ab. Man bedenke, wie lange es in Eng¬
land dauerte, ehe sich der Freihandel in die praktische Politik umsetzte; wird
diese Stimmung aber in die Forderung nach einem Schutzzoll umschlagen?

Die Stützen, auf denen sich einst der Freihandel aufbaute, werden welk
und morsch, ein neues Ideal beginnt England zu begeistern: der Zollverein
Englands mit seinen Kolonien — nnter Beschränkung des Handels fremder
Industriestaaten.




Kann Deutschland reiten?
(Schluß)

it der Feststellung des innern Widerspruchs zwischen unserm
ungegliederten Wahlrecht und dem deutschen Volksgeist sind
wir schon in das Gebiet der letzten zu erörternden grundsätzlichen
Frage eingetreten, auf welchem organischen Weg an eine Ab¬
änderung gegangen werden muß. Werfen wir zunächst einen
Blick in die ältere Geschichte der deutscheu Volksvertretung, so finden wir
von Anbeginn an auch auf diesem politischen Gebiet als charakteristisch die
ständische Gliederung. Zwar sehen die mittelalterlichen Stände ganz anders
aus als unsre heutige,, Berufsstüudc. Im Grunde beruhn sie aber doch,
den viel einfachern wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend, ans denselben
Unterlagen; die Geistlichkeit als der Gelehrtenstand, der Adel als die Grund¬
herren, die Städte als die Vertreter des emporkommenden Handels sind doch
auch nur Zusammenfassungen der drei Bcrnssständegrnppen, die im Mittelalter
allein politische Bedeutung hatten. Wie die einzelnen Stunde nach und nach
zu Bedeutung gelangen, so gewinnen sie ihre politische Vertretung. Aber,
und das ist beachtenswert, sie treten nicht eigentlich in die bestehende poli¬
tische Versammlung ein, sondern als ein neues Glied neben die ältern.
Wir sehen also, daß die Spuren des auch heute noch arbeitenden Volksgeistes
schon im mittelalterlichen Ständestaat erkennbar sind. Hat nun zwar die alles
gleichmachende französische Revolution diese geschichtlich begründete Gliederung
auch in Deutschland hinweggefegt und den Boden für das geltende Wahl¬
recht geebnet: sollte dadurch der Zusammenhang mit dieser jahrhundertealten
deutschen Einrichtung und Auffassung auch vollkommen verloren gegangen
sein? sollte sich das ganze Denken eines Volkes vou außen her so vollkommen
aus der Richtung dränge» lassen? Gewißlich nicht. Denn wir sahen schon,
daß derselbe alte Volksgeist noch rege, daß der Klassenzusammenhalt der
Stände heute noch so lebhaft ist wie je. Nur auf politischem Gebiete hat er
den zerschnittueu Faden noch nicht wieder weiterspinnen können. Doch sogar
i» politischen Organisationen haben sich noch Anklänge erhalten. So findet
sich ein spärlicher Rest des alten Unterschieds zwischen Stadt und Land, der
im Mittelalter den Unterschied zwischen Handel und Gewerbe und der Land-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/91>, abgerufen am 25.11.2024.