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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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fortschreitet und auch geschickt und kurz exponiert, füllt eine Manier nach¬
schleppender Genitive auf; z. B. "er konnte sich nicht des Eindrucks erwehren
der Großartigkeit und Kraft; gerade vorhin war ich auf dem "Tiefpunkte" an¬
gelangt der Verzweiflung; dann würde man vielleicht die richtige Würdigung
haben des Lebens" und dergleichen mehr. Einmal sagt er: per Rad! An einer
andern Stelle lesen wir: "am Orte angekommen . . . wurde der Aufenthalt des
Professors schnell ausfindig gemacht." Vekcmntlich ist schwer zu sagen, wo die
Grenze ist zwischen Sprachgebrauch und Sprachfehler. Der berühmteste deutsche
Partizipialstilist ist ja der königliche bajnvarische Dichter, Ludwig der Erste. Er
singt z

. B.

Ein Bruder in Apoll, Grillparzer, sagt einmal (Ahnfrau V, 1):

So kühn ist unser Stilist nicht; ja er kann sich auf ein Beispiel bei Goethe
berufen (Briefe aus der Schweiz, 6. Mai 1779): unser Gepäck auf ein Maul¬
tier geladen, zogen wir heute früh aus. Aber auch bei Goethe fällt uns das
auf. Mir scheint, daß solche Partizipialkonstrnktionen gräßlich sind und nicht
gebraucht werden dürfen. Die zahlreichen Beispiele in Herders Eid muß man
auf das romanische Original zurückführen.

Wir haben die Bauern- und die Bvurgcvissphnre kennen gelernt. In
dieser hat wohl nur Jutta einen Gedanken, eine suchende Seele. Ähnlich, aber
in andrer Art, Thekla Lüdekind. Hier kommt als Neues der Hintergrund eines
herzoglichen Hofes hinzu. Da sehen wir die possierlichen Devotionslnrven, den
Nadlertypus, d. h. deu gekrümmten Rücken nach oben, die Fußtritte nach unten
und das rücksichtslose Jagen nach dem Ziele. Thekla findet aber nicht wie
Jutta, sondern als sie ihren heimlich geliebten Leo hat, da geht ihr all¬
mählich auf, daß es doch nicht der Rechte ist, sodaß es -- Kvrrsur -- zur
Scheidung kommt. Die Frage der Frauenbildung und der "Emanzipation"
wird zwar berührt, aber nicht aus diesem Boden wächst für Thekla die Kraft
ihrer Entschließungen, sondern aus ihrer eignen Natur, ans ihrer reinen lind
tiefen Weiblichkeit. Man kann fragen, warum die kleine Agathe (das zweite
Kind) überhaupt geboren werden muß? Offenbar, damit Theklns Empfindungen
vorher gezeigt werden. Der Verfasser hat den höchsten Respekt vor diesem
Mysterium. Und warum läßt er Agathe so bald sterben? Wer kann so sicher
in der Seele des Verfassers lesen? Vielleicht, damit sich zeigt, wie anders
Vater und Mutter diesen Fall ansehen. Dem Vater bereiten die vielen Blumen¬
kränze -- darunter solche vom Herzog -- eine gewisse Genugtuung- Die
Mutter dagegen wird durch diesen Verlust "och mehr vom Vater abgerückt.
Außerdem, wäre Agathe am Leben geblieben, so hätte der Verfasser noch für
eine Person mehr zu sorgen gehabt. Dann wäre auch Leo vielleicht nicht so,
wie durch den Sohn allein (der ihn einmal mit dreizehn Jahren besucht) zu
der reuigen Erkenntnis gekommen, wie übel er daran getan hat, Thekla fahren


fortschreitet und auch geschickt und kurz exponiert, füllt eine Manier nach¬
schleppender Genitive auf; z. B. „er konnte sich nicht des Eindrucks erwehren
der Großartigkeit und Kraft; gerade vorhin war ich auf dem „Tiefpunkte" an¬
gelangt der Verzweiflung; dann würde man vielleicht die richtige Würdigung
haben des Lebens" und dergleichen mehr. Einmal sagt er: per Rad! An einer
andern Stelle lesen wir: „am Orte angekommen . . . wurde der Aufenthalt des
Professors schnell ausfindig gemacht." Vekcmntlich ist schwer zu sagen, wo die
Grenze ist zwischen Sprachgebrauch und Sprachfehler. Der berühmteste deutsche
Partizipialstilist ist ja der königliche bajnvarische Dichter, Ludwig der Erste. Er
singt z

. B.

Ein Bruder in Apoll, Grillparzer, sagt einmal (Ahnfrau V, 1):

So kühn ist unser Stilist nicht; ja er kann sich auf ein Beispiel bei Goethe
berufen (Briefe aus der Schweiz, 6. Mai 1779): unser Gepäck auf ein Maul¬
tier geladen, zogen wir heute früh aus. Aber auch bei Goethe fällt uns das
auf. Mir scheint, daß solche Partizipialkonstrnktionen gräßlich sind und nicht
gebraucht werden dürfen. Die zahlreichen Beispiele in Herders Eid muß man
auf das romanische Original zurückführen.

Wir haben die Bauern- und die Bvurgcvissphnre kennen gelernt. In
dieser hat wohl nur Jutta einen Gedanken, eine suchende Seele. Ähnlich, aber
in andrer Art, Thekla Lüdekind. Hier kommt als Neues der Hintergrund eines
herzoglichen Hofes hinzu. Da sehen wir die possierlichen Devotionslnrven, den
Nadlertypus, d. h. deu gekrümmten Rücken nach oben, die Fußtritte nach unten
und das rücksichtslose Jagen nach dem Ziele. Thekla findet aber nicht wie
Jutta, sondern als sie ihren heimlich geliebten Leo hat, da geht ihr all¬
mählich auf, daß es doch nicht der Rechte ist, sodaß es — Kvrrsur — zur
Scheidung kommt. Die Frage der Frauenbildung und der „Emanzipation"
wird zwar berührt, aber nicht aus diesem Boden wächst für Thekla die Kraft
ihrer Entschließungen, sondern aus ihrer eignen Natur, ans ihrer reinen lind
tiefen Weiblichkeit. Man kann fragen, warum die kleine Agathe (das zweite
Kind) überhaupt geboren werden muß? Offenbar, damit Theklns Empfindungen
vorher gezeigt werden. Der Verfasser hat den höchsten Respekt vor diesem
Mysterium. Und warum läßt er Agathe so bald sterben? Wer kann so sicher
in der Seele des Verfassers lesen? Vielleicht, damit sich zeigt, wie anders
Vater und Mutter diesen Fall ansehen. Dem Vater bereiten die vielen Blumen¬
kränze — darunter solche vom Herzog — eine gewisse Genugtuung- Die
Mutter dagegen wird durch diesen Verlust »och mehr vom Vater abgerückt.
Außerdem, wäre Agathe am Leben geblieben, so hätte der Verfasser noch für
eine Person mehr zu sorgen gehabt. Dann wäre auch Leo vielleicht nicht so,
wie durch den Sohn allein (der ihn einmal mit dreizehn Jahren besucht) zu
der reuigen Erkenntnis gekommen, wie übel er daran getan hat, Thekla fahren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/808>, abgerufen am 27.07.2024.