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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

718

Herzensbedürfnissen entsprungnen Phantasien in ein historisches Gewand zu
kleiden, das höchste geleistet. Wie ihm die Offenbarung seines Ursprungs ge¬
kommen ist, erzählt der Herr von Hertefeld. Eines Tages erkletterten beide
einen Felsen an der Ostseeküste, auf dem sie von Fichten beschattete Ruinen
cyklopischer Mauern fanden. "Hier, rief Gobineau, hat Ottars Burg ge¬
standen!" Woher wissen Sie das? fragte sein Begleiter. "Ich fühle es,
daß ich von diesem Ort entsprossen bin." Am Schluß warnt Scilliere seine
Landsleute davor, die Phantasien eines Dilettanten, wofür sie Gobineaus
Hauptwerk hielten, nicht zu leicht zu nehmen; diese Phantasien seien, wenn
auch nicht die einzige Quelle, so doch eine der Quellen einer gewaltigen
Strömung jenseits des Rheins, über die er mehr zu berichten verspricht.




Aus der Jugendzeit
v. Robert Bosse Erinnerungen von
9. Noch allerlei Erinnerungen aus der Schulzeit

,n meinem väterlichen Hause und in Quedlinburg wurde in meiner
i Jugend noch viel Plattdeutsch gesprochen. Niemals freilich in der
Familie oder gar bei Tisch oder in der Gesellschaft. Da galt das
Plattdeutsche für ordinär. Aber die kleinen Leute, die Arbeiter, die
! Dienstboten unter sich, und namentlich die vielen Landleute von aus-
iwärts, die in unser Haus kamen, sprachen, obwohl sie auch Hoch¬
deutsch verstanden und sprechen konnten, mit Vorliebe und fast ausschließlich platt¬
deutsch. So habe ich denn auch als Kind ganz von selbst das Plattdeutsche verstehn
und geläufig sprechen lernen. Unser Plattdeutsch war nicht die wohlklingende, feine
Mundart, wie sie in Mecklenburg und Pommern gesprochen wird und später durch
Fritz Reuter im ganzen deutschen Vaterlnnde so beliebt geworden ist. Unser Platt¬
deutsch klang viel härter und eckiger als das Neutersche. Es entsprach mit seinen
harten Formen, wie cet, deck, meat oder gar cake, decke, mente statt ick, mi, ti usw.
mehr der im Braunschweigischen, Hildesheimischen und Kalenbergischeu üblichen
Sprechweise. Immerhin ist mir die Fertigkeit, mit der ich unser Plattdeutsch völlig
beherrschte, sehr zustatten gekommen. Nicht nur für die Lektüre der Werke Fritz
Reuters und für das Verständnis des Volkslebens in meiner engern Heimat, sondern
später, als ich im Hoyaschen Amtshauvtmann war, auch für den Verkehr mit den
Amtseingeseßnen. Die dortigen Bauern verstanden mich, und ich verstand sie voll¬
kommen. Sie sprachen fast nie Hochdeutsch und freuten sich, wenn ihr Amtshauvt-
mcmn auf gut Plattdeutsch init ihnen verkehrte und verhandelte. Übrigens ließ anch
das Quedlinburger Hochdeutsch manches zu wünschen übrig. Ja man hatte manche
charakteristische plattdeutsche Worte und Wendungen in das Hochdeutsch, ohne sich
dessen bewußt zu sein, herübergenommen. Dies zu entdecken und in Einzelheiten
zu verfolgen, hat mir oft viel Spaß gemacht. Was von solchen Inkorrektheiten
an meiner eignen Sprechweise haften geblieben war, mag spater das Leben nach
und nach einigermaßen abgeschliffen haben.

Ich mag wohl ein ziemlich wilder Junge gewesen sein. Eines Tags, als ich
etwa sechs Jahre alt und Schüler der dritten Klasse der Volksschule war, hörte ich
meinen Vater zur Mutter sagen: "Für den Jungen hält ja weder Rock noch Hose-
Er müßte Hosen von Eisen haben. Ich werde ihm einstweilen ein Paar Leder¬
hosen machen lassen." Zu meinem Schreck machte er mit dieser Drohung Ernst


Aus der Jugendzeit

718

Herzensbedürfnissen entsprungnen Phantasien in ein historisches Gewand zu
kleiden, das höchste geleistet. Wie ihm die Offenbarung seines Ursprungs ge¬
kommen ist, erzählt der Herr von Hertefeld. Eines Tages erkletterten beide
einen Felsen an der Ostseeküste, auf dem sie von Fichten beschattete Ruinen
cyklopischer Mauern fanden. „Hier, rief Gobineau, hat Ottars Burg ge¬
standen!" Woher wissen Sie das? fragte sein Begleiter. „Ich fühle es,
daß ich von diesem Ort entsprossen bin." Am Schluß warnt Scilliere seine
Landsleute davor, die Phantasien eines Dilettanten, wofür sie Gobineaus
Hauptwerk hielten, nicht zu leicht zu nehmen; diese Phantasien seien, wenn
auch nicht die einzige Quelle, so doch eine der Quellen einer gewaltigen
Strömung jenseits des Rheins, über die er mehr zu berichten verspricht.




Aus der Jugendzeit
v. Robert Bosse Erinnerungen von
9. Noch allerlei Erinnerungen aus der Schulzeit

,n meinem väterlichen Hause und in Quedlinburg wurde in meiner
i Jugend noch viel Plattdeutsch gesprochen. Niemals freilich in der
Familie oder gar bei Tisch oder in der Gesellschaft. Da galt das
Plattdeutsche für ordinär. Aber die kleinen Leute, die Arbeiter, die
! Dienstboten unter sich, und namentlich die vielen Landleute von aus-
iwärts, die in unser Haus kamen, sprachen, obwohl sie auch Hoch¬
deutsch verstanden und sprechen konnten, mit Vorliebe und fast ausschließlich platt¬
deutsch. So habe ich denn auch als Kind ganz von selbst das Plattdeutsche verstehn
und geläufig sprechen lernen. Unser Plattdeutsch war nicht die wohlklingende, feine
Mundart, wie sie in Mecklenburg und Pommern gesprochen wird und später durch
Fritz Reuter im ganzen deutschen Vaterlnnde so beliebt geworden ist. Unser Platt¬
deutsch klang viel härter und eckiger als das Neutersche. Es entsprach mit seinen
harten Formen, wie cet, deck, meat oder gar cake, decke, mente statt ick, mi, ti usw.
mehr der im Braunschweigischen, Hildesheimischen und Kalenbergischeu üblichen
Sprechweise. Immerhin ist mir die Fertigkeit, mit der ich unser Plattdeutsch völlig
beherrschte, sehr zustatten gekommen. Nicht nur für die Lektüre der Werke Fritz
Reuters und für das Verständnis des Volkslebens in meiner engern Heimat, sondern
später, als ich im Hoyaschen Amtshauvtmann war, auch für den Verkehr mit den
Amtseingeseßnen. Die dortigen Bauern verstanden mich, und ich verstand sie voll¬
kommen. Sie sprachen fast nie Hochdeutsch und freuten sich, wenn ihr Amtshauvt-
mcmn auf gut Plattdeutsch init ihnen verkehrte und verhandelte. Übrigens ließ anch
das Quedlinburger Hochdeutsch manches zu wünschen übrig. Ja man hatte manche
charakteristische plattdeutsche Worte und Wendungen in das Hochdeutsch, ohne sich
dessen bewußt zu sein, herübergenommen. Dies zu entdecken und in Einzelheiten
zu verfolgen, hat mir oft viel Spaß gemacht. Was von solchen Inkorrektheiten
an meiner eignen Sprechweise haften geblieben war, mag spater das Leben nach
und nach einigermaßen abgeschliffen haben.

Ich mag wohl ein ziemlich wilder Junge gewesen sein. Eines Tags, als ich
etwa sechs Jahre alt und Schüler der dritten Klasse der Volksschule war, hörte ich
meinen Vater zur Mutter sagen: „Für den Jungen hält ja weder Rock noch Hose-
Er müßte Hosen von Eisen haben. Ich werde ihm einstweilen ein Paar Leder¬
hosen machen lassen." Zu meinem Schreck machte er mit dieser Drohung Ernst


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[0748] Aus der Jugendzeit 718 Herzensbedürfnissen entsprungnen Phantasien in ein historisches Gewand zu kleiden, das höchste geleistet. Wie ihm die Offenbarung seines Ursprungs ge¬ kommen ist, erzählt der Herr von Hertefeld. Eines Tages erkletterten beide einen Felsen an der Ostseeküste, auf dem sie von Fichten beschattete Ruinen cyklopischer Mauern fanden. „Hier, rief Gobineau, hat Ottars Burg ge¬ standen!" Woher wissen Sie das? fragte sein Begleiter. „Ich fühle es, daß ich von diesem Ort entsprossen bin." Am Schluß warnt Scilliere seine Landsleute davor, die Phantasien eines Dilettanten, wofür sie Gobineaus Hauptwerk hielten, nicht zu leicht zu nehmen; diese Phantasien seien, wenn auch nicht die einzige Quelle, so doch eine der Quellen einer gewaltigen Strömung jenseits des Rheins, über die er mehr zu berichten verspricht. Aus der Jugendzeit v. Robert Bosse Erinnerungen von 9. Noch allerlei Erinnerungen aus der Schulzeit ,n meinem väterlichen Hause und in Quedlinburg wurde in meiner i Jugend noch viel Plattdeutsch gesprochen. Niemals freilich in der Familie oder gar bei Tisch oder in der Gesellschaft. Da galt das Plattdeutsche für ordinär. Aber die kleinen Leute, die Arbeiter, die ! Dienstboten unter sich, und namentlich die vielen Landleute von aus- iwärts, die in unser Haus kamen, sprachen, obwohl sie auch Hoch¬ deutsch verstanden und sprechen konnten, mit Vorliebe und fast ausschließlich platt¬ deutsch. So habe ich denn auch als Kind ganz von selbst das Plattdeutsche verstehn und geläufig sprechen lernen. Unser Plattdeutsch war nicht die wohlklingende, feine Mundart, wie sie in Mecklenburg und Pommern gesprochen wird und später durch Fritz Reuter im ganzen deutschen Vaterlnnde so beliebt geworden ist. Unser Platt¬ deutsch klang viel härter und eckiger als das Neutersche. Es entsprach mit seinen harten Formen, wie cet, deck, meat oder gar cake, decke, mente statt ick, mi, ti usw. mehr der im Braunschweigischen, Hildesheimischen und Kalenbergischeu üblichen Sprechweise. Immerhin ist mir die Fertigkeit, mit der ich unser Plattdeutsch völlig beherrschte, sehr zustatten gekommen. Nicht nur für die Lektüre der Werke Fritz Reuters und für das Verständnis des Volkslebens in meiner engern Heimat, sondern später, als ich im Hoyaschen Amtshauvtmann war, auch für den Verkehr mit den Amtseingeseßnen. Die dortigen Bauern verstanden mich, und ich verstand sie voll¬ kommen. Sie sprachen fast nie Hochdeutsch und freuten sich, wenn ihr Amtshauvt- mcmn auf gut Plattdeutsch init ihnen verkehrte und verhandelte. Übrigens ließ anch das Quedlinburger Hochdeutsch manches zu wünschen übrig. Ja man hatte manche charakteristische plattdeutsche Worte und Wendungen in das Hochdeutsch, ohne sich dessen bewußt zu sein, herübergenommen. Dies zu entdecken und in Einzelheiten zu verfolgen, hat mir oft viel Spaß gemacht. Was von solchen Inkorrektheiten an meiner eignen Sprechweise haften geblieben war, mag spater das Leben nach und nach einigermaßen abgeschliffen haben. Ich mag wohl ein ziemlich wilder Junge gewesen sein. Eines Tags, als ich etwa sechs Jahre alt und Schüler der dritten Klasse der Volksschule war, hörte ich meinen Vater zur Mutter sagen: „Für den Jungen hält ja weder Rock noch Hose- Er müßte Hosen von Eisen haben. Ich werde ihm einstweilen ein Paar Leder¬ hosen machen lassen." Zu meinem Schreck machte er mit dieser Drohung Ernst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/748>, abgerufen am 22.11.2024.