Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

behandeln. Gegenstände, die in großer Menge vorhanden sind, fordern natürlich
die Mehrzahl, der Singular erscheint wie eine Art Abstraktion, die gar nicht am
Platze ist. Die Gräten sind gewissermaßen früher da als die einzelne Gräte, erst
sieht man den Wald von Haaren und dann erst jedes Härchen, in der Anschauung
und in der Sprache geht hier der Plural dem Singular voraus. Bei den Feld¬
oder den Baumfrüchten ist es gerade so --- wir kennen eigentlich nur die Äpfel und
nicht den Apfel, weil in der Markthalle ganze Korbe voll Äpfel stehn, und weil
man fast nie einen einzigen Äpfel kauft; weil es Äppeläppeläppeläppcl! in die
Höfe hineinruft gleich einem Trommelwirbel. Es ist bemerkenswert, daß das Volk
in vielen Gegenden geradezu Äpfel als einen Singular behandelt und mit Amiant!
der Äpfel sagt.

Daher eine Birne. Bei den Birnen ist nämlich der Singular vollständig
abgekommen und der Plural versteckt dafür eingetreten. Eigentlich trägt der Birn¬
baum Biren und die Obsthökerin hat Biren; am Rhein, am Taunus sprechen
sie noch ganz regelmäßig von den Biren und sogar von den Grundiren oder
den Grundbiren, das heißt von den Erdbirneu oder den Kartoffeln, ein Wort, das
bis nach Amerika gedrungen ist. Eben daher stammt der Familienname Bier-
baum, über deu sich vielleicht schon mancher gewundert hat. Der Bierbaum ist
der Birnbaum. Wer einmal in Bad Soden gewesen ist, der hat viele Bier¬
bäume gesehen.

Man merkt, daß in der Birne das n zu viel, und daß es ein Zeichen des
Plurals ist: Birne klingt wie Rieme. Die Biren oder Bieren waren ursprünglich
die Andeutschuug eines lateinischen Plurals, des Plurals ?ira. Die lateinischen
?irs. haben sich im Munde des Volks in Piren oder Biren verwandelt, wie die
,?rü,us, in Pflaumen oder wie die Lisrass, in Kirschen. Alle unsre Obstarten
stammen bekanntlich aus Italien. Die Obstfrau hatte also Biren, oder kürzer:
sie hatte gute Birn. Nun vergaß sie ganz, daß Birn eine Mehrzahl war. Sie
hielt die Birn für einen Singular und für ein Wort wie Dirn. Und so wurde
schließlich aus den Birn: die Birne, mit dem Plural: die Birnen.

Dieser Vorgang wiederholt sich häufig, auch bei rein deutschen Worten. Wir
haben vorhin die Gräten erwähnt: dies ist der Plural von Gräte, Gräte selbst
aber schon ein Plural, nämlich der Plural von Grat. Wollen wir nun die Probe
auf Bürste machen? -- Bürste ist ein Plural wie Würste, nämlich der Plural von
Bürst; dies eine Nebenform von Börse, das in der Mehrzahl Borste lautete, wie
das Wort: die Worte. Der Plural die Bürste erlangte die Geltung eines Sin¬
gulars, und so entstand der Begriff einer Bürste, der gar nichts weiter als die
Borsten besagen will. Das französische LroWo steht für Broste, und diese verhält
sich zu unsrer Borste wie Bronn zu Born; Lrosso lebt wieder in England als
Lrusb. fort. Alle diese Begriffe hängen mit den Schweinsborsten zusammen, aus
denen die Bürste gebunden wird.

Ein Müllerbursche aus Todtuau im badischen Schwarzwald, namens Leodegar
Thoma, soll um das Jahr 1770 auf den Gedanken gekommen sein, ein Brettchen
an verschiednen Stellen zu durchbohren und in den Löchern Schweinsborsten mit
Hilfe von Pflöcken zu befestigen, um sich das Zusammenkehren des Staubmehls zu
erleichtern.*) Allmühlich begann er gewerbmcißig Bürsten zu binden und in der
Umgebung zu verkaufen, und das wäre der Anfang einer Hausindustrie gewesen,
die in Todtuau und am ganzen Südabhange des Feldbergs jetzt noch blüht. Es
ist bemerkenswert, daß die Bürste als deutsche Erfindung, ini Gegensatze zu dem
lateinischen Pinsel, einen echt deutschen Namen führt, ob sie gleich nur einen viel¬
fachen, in Holz gefaßten Pinsel darstellt. Die Alten hatten keine Bürsten, sondern
nur Pinsel (?ome,iIIciZ) und Besen (8eox->s).



Anmerkung der Redaktion. Die Erfindung der Bürste fällt unsers Erachtens in
eine noch frühere Zeit. Auf dem Bildnis des Johannes Scheffler (Angelus Silesius) als
Hausierer in der gegen ihn gerichteten Schmähschrift "Wohlverdientes Kapitel usw." vom Jahre 1664
tragt der Dargestellte in der linken Hand außer andern Dingen eine deutlich erkennbare Bürste.
Vgl. Könnecke, Bilderatlas. 2. Aufl7 S. 186.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

behandeln. Gegenstände, die in großer Menge vorhanden sind, fordern natürlich
die Mehrzahl, der Singular erscheint wie eine Art Abstraktion, die gar nicht am
Platze ist. Die Gräten sind gewissermaßen früher da als die einzelne Gräte, erst
sieht man den Wald von Haaren und dann erst jedes Härchen, in der Anschauung
und in der Sprache geht hier der Plural dem Singular voraus. Bei den Feld¬
oder den Baumfrüchten ist es gerade so —- wir kennen eigentlich nur die Äpfel und
nicht den Apfel, weil in der Markthalle ganze Korbe voll Äpfel stehn, und weil
man fast nie einen einzigen Äpfel kauft; weil es Äppeläppeläppeläppcl! in die
Höfe hineinruft gleich einem Trommelwirbel. Es ist bemerkenswert, daß das Volk
in vielen Gegenden geradezu Äpfel als einen Singular behandelt und mit Amiant!
der Äpfel sagt.

Daher eine Birne. Bei den Birnen ist nämlich der Singular vollständig
abgekommen und der Plural versteckt dafür eingetreten. Eigentlich trägt der Birn¬
baum Biren und die Obsthökerin hat Biren; am Rhein, am Taunus sprechen
sie noch ganz regelmäßig von den Biren und sogar von den Grundiren oder
den Grundbiren, das heißt von den Erdbirneu oder den Kartoffeln, ein Wort, das
bis nach Amerika gedrungen ist. Eben daher stammt der Familienname Bier-
baum, über deu sich vielleicht schon mancher gewundert hat. Der Bierbaum ist
der Birnbaum. Wer einmal in Bad Soden gewesen ist, der hat viele Bier¬
bäume gesehen.

Man merkt, daß in der Birne das n zu viel, und daß es ein Zeichen des
Plurals ist: Birne klingt wie Rieme. Die Biren oder Bieren waren ursprünglich
die Andeutschuug eines lateinischen Plurals, des Plurals ?ira. Die lateinischen
?irs. haben sich im Munde des Volks in Piren oder Biren verwandelt, wie die
,?rü,us, in Pflaumen oder wie die Lisrass, in Kirschen. Alle unsre Obstarten
stammen bekanntlich aus Italien. Die Obstfrau hatte also Biren, oder kürzer:
sie hatte gute Birn. Nun vergaß sie ganz, daß Birn eine Mehrzahl war. Sie
hielt die Birn für einen Singular und für ein Wort wie Dirn. Und so wurde
schließlich aus den Birn: die Birne, mit dem Plural: die Birnen.

Dieser Vorgang wiederholt sich häufig, auch bei rein deutschen Worten. Wir
haben vorhin die Gräten erwähnt: dies ist der Plural von Gräte, Gräte selbst
aber schon ein Plural, nämlich der Plural von Grat. Wollen wir nun die Probe
auf Bürste machen? — Bürste ist ein Plural wie Würste, nämlich der Plural von
Bürst; dies eine Nebenform von Börse, das in der Mehrzahl Borste lautete, wie
das Wort: die Worte. Der Plural die Bürste erlangte die Geltung eines Sin¬
gulars, und so entstand der Begriff einer Bürste, der gar nichts weiter als die
Borsten besagen will. Das französische LroWo steht für Broste, und diese verhält
sich zu unsrer Borste wie Bronn zu Born; Lrosso lebt wieder in England als
Lrusb. fort. Alle diese Begriffe hängen mit den Schweinsborsten zusammen, aus
denen die Bürste gebunden wird.

Ein Müllerbursche aus Todtuau im badischen Schwarzwald, namens Leodegar
Thoma, soll um das Jahr 1770 auf den Gedanken gekommen sein, ein Brettchen
an verschiednen Stellen zu durchbohren und in den Löchern Schweinsborsten mit
Hilfe von Pflöcken zu befestigen, um sich das Zusammenkehren des Staubmehls zu
erleichtern.*) Allmühlich begann er gewerbmcißig Bürsten zu binden und in der
Umgebung zu verkaufen, und das wäre der Anfang einer Hausindustrie gewesen,
die in Todtuau und am ganzen Südabhange des Feldbergs jetzt noch blüht. Es
ist bemerkenswert, daß die Bürste als deutsche Erfindung, ini Gegensatze zu dem
lateinischen Pinsel, einen echt deutschen Namen führt, ob sie gleich nur einen viel¬
fachen, in Holz gefaßten Pinsel darstellt. Die Alten hatten keine Bürsten, sondern
nur Pinsel (?ome,iIIciZ) und Besen (8eox->s).



Anmerkung der Redaktion. Die Erfindung der Bürste fällt unsers Erachtens in
eine noch frühere Zeit. Auf dem Bildnis des Johannes Scheffler (Angelus Silesius) als
Hausierer in der gegen ihn gerichteten Schmähschrift „Wohlverdientes Kapitel usw." vom Jahre 1664
tragt der Dargestellte in der linken Hand außer andern Dingen eine deutlich erkennbare Bürste.
Vgl. Könnecke, Bilderatlas. 2. Aufl7 S. 186.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241278"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_262" prev="#ID_261"> behandeln. Gegenstände, die in großer Menge vorhanden sind, fordern natürlich<lb/>
die Mehrzahl, der Singular erscheint wie eine Art Abstraktion, die gar nicht am<lb/>
Platze ist. Die Gräten sind gewissermaßen früher da als die einzelne Gräte, erst<lb/>
sieht man den Wald von Haaren und dann erst jedes Härchen, in der Anschauung<lb/>
und in der Sprache geht hier der Plural dem Singular voraus. Bei den Feld¬<lb/>
oder den Baumfrüchten ist es gerade so &#x2014;- wir kennen eigentlich nur die Äpfel und<lb/>
nicht den Apfel, weil in der Markthalle ganze Korbe voll Äpfel stehn, und weil<lb/>
man fast nie einen einzigen Äpfel kauft; weil es Äppeläppeläppeläppcl! in die<lb/>
Höfe hineinruft gleich einem Trommelwirbel. Es ist bemerkenswert, daß das Volk<lb/>
in vielen Gegenden geradezu Äpfel als einen Singular behandelt und mit Amiant!<lb/>
der Äpfel sagt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_263"> Daher eine Birne. Bei den Birnen ist nämlich der Singular vollständig<lb/>
abgekommen und der Plural versteckt dafür eingetreten. Eigentlich trägt der Birn¬<lb/>
baum Biren und die Obsthökerin hat Biren; am Rhein, am Taunus sprechen<lb/>
sie noch ganz regelmäßig von den Biren und sogar von den Grundiren oder<lb/>
den Grundbiren, das heißt von den Erdbirneu oder den Kartoffeln, ein Wort, das<lb/>
bis nach Amerika gedrungen ist. Eben daher stammt der Familienname Bier-<lb/>
baum, über deu sich vielleicht schon mancher gewundert hat. Der Bierbaum ist<lb/>
der Birnbaum. Wer einmal in Bad Soden gewesen ist, der hat viele Bier¬<lb/>
bäume gesehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_264"> Man merkt, daß in der Birne das n zu viel, und daß es ein Zeichen des<lb/>
Plurals ist: Birne klingt wie Rieme. Die Biren oder Bieren waren ursprünglich<lb/>
die Andeutschuug eines lateinischen Plurals, des Plurals ?ira. Die lateinischen<lb/>
?irs. haben sich im Munde des Volks in Piren oder Biren verwandelt, wie die<lb/>
,?rü,us, in Pflaumen oder wie die Lisrass, in Kirschen. Alle unsre Obstarten<lb/>
stammen bekanntlich aus Italien. Die Obstfrau hatte also Biren, oder kürzer:<lb/>
sie hatte gute Birn. Nun vergaß sie ganz, daß Birn eine Mehrzahl war. Sie<lb/>
hielt die Birn für einen Singular und für ein Wort wie Dirn. Und so wurde<lb/>
schließlich aus den Birn: die Birne, mit dem Plural: die Birnen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_265"> Dieser Vorgang wiederholt sich häufig, auch bei rein deutschen Worten. Wir<lb/>
haben vorhin die Gräten erwähnt: dies ist der Plural von Gräte, Gräte selbst<lb/>
aber schon ein Plural, nämlich der Plural von Grat. Wollen wir nun die Probe<lb/>
auf Bürste machen? &#x2014; Bürste ist ein Plural wie Würste, nämlich der Plural von<lb/>
Bürst; dies eine Nebenform von Börse, das in der Mehrzahl Borste lautete, wie<lb/>
das Wort: die Worte. Der Plural die Bürste erlangte die Geltung eines Sin¬<lb/>
gulars, und so entstand der Begriff einer Bürste, der gar nichts weiter als die<lb/>
Borsten besagen will. Das französische LroWo steht für Broste, und diese verhält<lb/>
sich zu unsrer Borste wie Bronn zu Born; Lrosso lebt wieder in England als<lb/>
Lrusb. fort. Alle diese Begriffe hängen mit den Schweinsborsten zusammen, aus<lb/>
denen die Bürste gebunden wird.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_266"> Ein Müllerbursche aus Todtuau im badischen Schwarzwald, namens Leodegar<lb/>
Thoma, soll um das Jahr 1770 auf den Gedanken gekommen sein, ein Brettchen<lb/>
an verschiednen Stellen zu durchbohren und in den Löchern Schweinsborsten mit<lb/>
Hilfe von Pflöcken zu befestigen, um sich das Zusammenkehren des Staubmehls zu<lb/>
erleichtern.*) Allmühlich begann er gewerbmcißig Bürsten zu binden und in der<lb/>
Umgebung zu verkaufen, und das wäre der Anfang einer Hausindustrie gewesen,<lb/>
die in Todtuau und am ganzen Südabhange des Feldbergs jetzt noch blüht. Es<lb/>
ist bemerkenswert, daß die Bürste als deutsche Erfindung, ini Gegensatze zu dem<lb/>
lateinischen Pinsel, einen echt deutschen Namen führt, ob sie gleich nur einen viel¬<lb/>
fachen, in Holz gefaßten Pinsel darstellt. Die Alten hatten keine Bürsten, sondern<lb/>
nur Pinsel (?ome,iIIciZ) und Besen (8eox-&gt;s).</p><lb/>
            <note xml:id="FID_5" place="foot"><note type="byline"> Anmerkung der Redaktion.</note> Die Erfindung der Bürste fällt unsers Erachtens in<lb/>
eine noch frühere Zeit. Auf dem Bildnis des Johannes Scheffler (Angelus Silesius) als<lb/>
Hausierer in der gegen ihn gerichteten Schmähschrift &#x201E;Wohlverdientes Kapitel usw." vom Jahre 1664<lb/>
tragt der Dargestellte in der linken Hand außer andern Dingen eine deutlich erkennbare Bürste.<lb/>
Vgl. Könnecke, Bilderatlas. 2. Aufl7 S. 186.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] Maßgebliches und Unmaßgebliches behandeln. Gegenstände, die in großer Menge vorhanden sind, fordern natürlich die Mehrzahl, der Singular erscheint wie eine Art Abstraktion, die gar nicht am Platze ist. Die Gräten sind gewissermaßen früher da als die einzelne Gräte, erst sieht man den Wald von Haaren und dann erst jedes Härchen, in der Anschauung und in der Sprache geht hier der Plural dem Singular voraus. Bei den Feld¬ oder den Baumfrüchten ist es gerade so —- wir kennen eigentlich nur die Äpfel und nicht den Apfel, weil in der Markthalle ganze Korbe voll Äpfel stehn, und weil man fast nie einen einzigen Äpfel kauft; weil es Äppeläppeläppeläppcl! in die Höfe hineinruft gleich einem Trommelwirbel. Es ist bemerkenswert, daß das Volk in vielen Gegenden geradezu Äpfel als einen Singular behandelt und mit Amiant! der Äpfel sagt. Daher eine Birne. Bei den Birnen ist nämlich der Singular vollständig abgekommen und der Plural versteckt dafür eingetreten. Eigentlich trägt der Birn¬ baum Biren und die Obsthökerin hat Biren; am Rhein, am Taunus sprechen sie noch ganz regelmäßig von den Biren und sogar von den Grundiren oder den Grundbiren, das heißt von den Erdbirneu oder den Kartoffeln, ein Wort, das bis nach Amerika gedrungen ist. Eben daher stammt der Familienname Bier- baum, über deu sich vielleicht schon mancher gewundert hat. Der Bierbaum ist der Birnbaum. Wer einmal in Bad Soden gewesen ist, der hat viele Bier¬ bäume gesehen. Man merkt, daß in der Birne das n zu viel, und daß es ein Zeichen des Plurals ist: Birne klingt wie Rieme. Die Biren oder Bieren waren ursprünglich die Andeutschuug eines lateinischen Plurals, des Plurals ?ira. Die lateinischen ?irs. haben sich im Munde des Volks in Piren oder Biren verwandelt, wie die ,?rü,us, in Pflaumen oder wie die Lisrass, in Kirschen. Alle unsre Obstarten stammen bekanntlich aus Italien. Die Obstfrau hatte also Biren, oder kürzer: sie hatte gute Birn. Nun vergaß sie ganz, daß Birn eine Mehrzahl war. Sie hielt die Birn für einen Singular und für ein Wort wie Dirn. Und so wurde schließlich aus den Birn: die Birne, mit dem Plural: die Birnen. Dieser Vorgang wiederholt sich häufig, auch bei rein deutschen Worten. Wir haben vorhin die Gräten erwähnt: dies ist der Plural von Gräte, Gräte selbst aber schon ein Plural, nämlich der Plural von Grat. Wollen wir nun die Probe auf Bürste machen? — Bürste ist ein Plural wie Würste, nämlich der Plural von Bürst; dies eine Nebenform von Börse, das in der Mehrzahl Borste lautete, wie das Wort: die Worte. Der Plural die Bürste erlangte die Geltung eines Sin¬ gulars, und so entstand der Begriff einer Bürste, der gar nichts weiter als die Borsten besagen will. Das französische LroWo steht für Broste, und diese verhält sich zu unsrer Borste wie Bronn zu Born; Lrosso lebt wieder in England als Lrusb. fort. Alle diese Begriffe hängen mit den Schweinsborsten zusammen, aus denen die Bürste gebunden wird. Ein Müllerbursche aus Todtuau im badischen Schwarzwald, namens Leodegar Thoma, soll um das Jahr 1770 auf den Gedanken gekommen sein, ein Brettchen an verschiednen Stellen zu durchbohren und in den Löchern Schweinsborsten mit Hilfe von Pflöcken zu befestigen, um sich das Zusammenkehren des Staubmehls zu erleichtern.*) Allmühlich begann er gewerbmcißig Bürsten zu binden und in der Umgebung zu verkaufen, und das wäre der Anfang einer Hausindustrie gewesen, die in Todtuau und am ganzen Südabhange des Feldbergs jetzt noch blüht. Es ist bemerkenswert, daß die Bürste als deutsche Erfindung, ini Gegensatze zu dem lateinischen Pinsel, einen echt deutschen Namen führt, ob sie gleich nur einen viel¬ fachen, in Holz gefaßten Pinsel darstellt. Die Alten hatten keine Bürsten, sondern nur Pinsel (?ome,iIIciZ) und Besen (8eox->s). Anmerkung der Redaktion. Die Erfindung der Bürste fällt unsers Erachtens in eine noch frühere Zeit. Auf dem Bildnis des Johannes Scheffler (Angelus Silesius) als Hausierer in der gegen ihn gerichteten Schmähschrift „Wohlverdientes Kapitel usw." vom Jahre 1664 tragt der Dargestellte in der linken Hand außer andern Dingen eine deutlich erkennbare Bürste. Vgl. Könnecke, Bilderatlas. 2. Aufl7 S. 186.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/64>, abgerufen am 24.11.2024.