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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Rußland in Vorderasien

Landes. Seine südliche Hälfte wird von einer großen Zahl von Flüssen und
Bächen bewässert, die vom Alai dem Syr-Darja zufließen. Diese würden sich
sämtlich mit ihm vereinigen, wenn sie nicht schon ein großes Stück vorher
vollständig durch die Bewässerung der Felder aufgezehrt wären. Auf diese
Weise bleibt zwischen dem Syr-Darja und der südlichen Anbauzone ein breiter
Streifen nnbewässerten, teils Steppen- und teils wüstenartigen Landes übrig.
Hier wächst nur ans dem Grunde nichts, weil das Wasser und der von ihm
mitgeführte fruchtbare Schlamm nicht hingelangt. Die Frage ist nun die:
Soll man das Wasser des Syr-Darja innerhalb des Talkessels von Ferghana
oder außerhalb, jenseits der schmalen Talpforte von Chodshent, in der Hunger¬
steppe verwenden?

Die Wasserführung des Syr-Darja an der Brücke von Chodshent betrügt
in der trocknen Jahreszeit 600000 Liter in der Sekunde. Nach den Er¬
fahrungen, die man in Turkestan und anderwärts gemacht hat, bedarf es zur
Bewässerung eiues Hektars mit Baumwollenknltur eines stündigen Zuflusses
von einem Liter in der Sekunde. Folglich reicht das Sommerwasser des Syr
zur dauernden Bewässerung vou 600000 Hektaren aus. Eingehende Ni-
vellierungsarbeiten haben das Ergebnis gehabt, daß es unvorteilhaft wäre,
diese ganze Bodenmasse innerhalb des Talbeckens von Ferghana zu bewässern.
Man will einen Teil der Hungersteppe hinzunehmen und erreicht das, indem
man von Chodshent aus in ostwestlicher Richtung einen Kanal führt. Bon
dieser Linie aus senkt sich das Gelände gegen Norden in einem Gefälle von
etwa 1 : 3000 im Durchschnitt. Die Bodengestalt kommt also im höchsten
Grade der Irrigation entgegen, die in der Weise auszuführen ist, daß sich an
den Hauptkanal Nebeukcmäle in südnördlicher Richtung ansetzen, die sich nun
fortgesetzt spalten und so ein unendlich feines Kanalnetz über das ganze Gebiet
bilden. Nach Ausführung dieser Projekte hofft man -- wohl etwas sangui-
nisch -- bei einer Neubewüsserung von 5000 Quadratkilometern Land die
Textilindustrie nicht nur von ganz Nußland auf die turtestauische Produktion
gründen, sondern anch noch einen Teil des mitteleuropäischen Marktes ver¬
sorgen zu können.

Ich bin auf diese Frage etwas näher eingegangen, weil in ihr der Kern¬
punkt der wirtschaftlichen Tätigkeit Rußlands in Turkestan liegt, und weil sie
ferner zeigt, wie groß die Aufgaben sind, die sich Rußland in seiner .Koloni¬
sationsarbeit stellt. In dieser Tätigkeit wird die russische Negierung auf das
wirksamste von ihren Offizieren unterstützt. Ich kann nicht unterlassen, auf
den großen Eindruck hinzuweisen, deu ich von der Tüchtigkeit dieser Leute er¬
halten habe. Man sagt mir allerdings, daß Rußland seine besten und ge-
bildetsten Offiziere hierher schicke. Neben ihrer militärischen Tätigkeit liegt
die Verwaltung lind die wirtschaftliche Hebung des Landes zum größten Teil in
ihren Hunden. Des Morgens bildet der Hauptmann seine Kompagnie aus,
am Nachmittag zieht er mit seinen Leutnants hinaus, vermißt und nivelliert,
bestimmt den Lauf der neu zu bauenden Kanäle. Die Bevölkerung muß die
Arbeiter stellen: so wird eine Quadratmeile nach der andern der Wüste ab¬
gerungen.


Rußland in Vorderasien

Landes. Seine südliche Hälfte wird von einer großen Zahl von Flüssen und
Bächen bewässert, die vom Alai dem Syr-Darja zufließen. Diese würden sich
sämtlich mit ihm vereinigen, wenn sie nicht schon ein großes Stück vorher
vollständig durch die Bewässerung der Felder aufgezehrt wären. Auf diese
Weise bleibt zwischen dem Syr-Darja und der südlichen Anbauzone ein breiter
Streifen nnbewässerten, teils Steppen- und teils wüstenartigen Landes übrig.
Hier wächst nur ans dem Grunde nichts, weil das Wasser und der von ihm
mitgeführte fruchtbare Schlamm nicht hingelangt. Die Frage ist nun die:
Soll man das Wasser des Syr-Darja innerhalb des Talkessels von Ferghana
oder außerhalb, jenseits der schmalen Talpforte von Chodshent, in der Hunger¬
steppe verwenden?

Die Wasserführung des Syr-Darja an der Brücke von Chodshent betrügt
in der trocknen Jahreszeit 600000 Liter in der Sekunde. Nach den Er¬
fahrungen, die man in Turkestan und anderwärts gemacht hat, bedarf es zur
Bewässerung eiues Hektars mit Baumwollenknltur eines stündigen Zuflusses
von einem Liter in der Sekunde. Folglich reicht das Sommerwasser des Syr
zur dauernden Bewässerung vou 600000 Hektaren aus. Eingehende Ni-
vellierungsarbeiten haben das Ergebnis gehabt, daß es unvorteilhaft wäre,
diese ganze Bodenmasse innerhalb des Talbeckens von Ferghana zu bewässern.
Man will einen Teil der Hungersteppe hinzunehmen und erreicht das, indem
man von Chodshent aus in ostwestlicher Richtung einen Kanal führt. Bon
dieser Linie aus senkt sich das Gelände gegen Norden in einem Gefälle von
etwa 1 : 3000 im Durchschnitt. Die Bodengestalt kommt also im höchsten
Grade der Irrigation entgegen, die in der Weise auszuführen ist, daß sich an
den Hauptkanal Nebeukcmäle in südnördlicher Richtung ansetzen, die sich nun
fortgesetzt spalten und so ein unendlich feines Kanalnetz über das ganze Gebiet
bilden. Nach Ausführung dieser Projekte hofft man — wohl etwas sangui-
nisch — bei einer Neubewüsserung von 5000 Quadratkilometern Land die
Textilindustrie nicht nur von ganz Nußland auf die turtestauische Produktion
gründen, sondern anch noch einen Teil des mitteleuropäischen Marktes ver¬
sorgen zu können.

Ich bin auf diese Frage etwas näher eingegangen, weil in ihr der Kern¬
punkt der wirtschaftlichen Tätigkeit Rußlands in Turkestan liegt, und weil sie
ferner zeigt, wie groß die Aufgaben sind, die sich Rußland in seiner .Koloni¬
sationsarbeit stellt. In dieser Tätigkeit wird die russische Negierung auf das
wirksamste von ihren Offizieren unterstützt. Ich kann nicht unterlassen, auf
den großen Eindruck hinzuweisen, deu ich von der Tüchtigkeit dieser Leute er¬
halten habe. Man sagt mir allerdings, daß Rußland seine besten und ge-
bildetsten Offiziere hierher schicke. Neben ihrer militärischen Tätigkeit liegt
die Verwaltung lind die wirtschaftliche Hebung des Landes zum größten Teil in
ihren Hunden. Des Morgens bildet der Hauptmann seine Kompagnie aus,
am Nachmittag zieht er mit seinen Leutnants hinaus, vermißt und nivelliert,
bestimmt den Lauf der neu zu bauenden Kanäle. Die Bevölkerung muß die
Arbeiter stellen: so wird eine Quadratmeile nach der andern der Wüste ab¬
gerungen.


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[0526] Rußland in Vorderasien Landes. Seine südliche Hälfte wird von einer großen Zahl von Flüssen und Bächen bewässert, die vom Alai dem Syr-Darja zufließen. Diese würden sich sämtlich mit ihm vereinigen, wenn sie nicht schon ein großes Stück vorher vollständig durch die Bewässerung der Felder aufgezehrt wären. Auf diese Weise bleibt zwischen dem Syr-Darja und der südlichen Anbauzone ein breiter Streifen nnbewässerten, teils Steppen- und teils wüstenartigen Landes übrig. Hier wächst nur ans dem Grunde nichts, weil das Wasser und der von ihm mitgeführte fruchtbare Schlamm nicht hingelangt. Die Frage ist nun die: Soll man das Wasser des Syr-Darja innerhalb des Talkessels von Ferghana oder außerhalb, jenseits der schmalen Talpforte von Chodshent, in der Hunger¬ steppe verwenden? Die Wasserführung des Syr-Darja an der Brücke von Chodshent betrügt in der trocknen Jahreszeit 600000 Liter in der Sekunde. Nach den Er¬ fahrungen, die man in Turkestan und anderwärts gemacht hat, bedarf es zur Bewässerung eiues Hektars mit Baumwollenknltur eines stündigen Zuflusses von einem Liter in der Sekunde. Folglich reicht das Sommerwasser des Syr zur dauernden Bewässerung vou 600000 Hektaren aus. Eingehende Ni- vellierungsarbeiten haben das Ergebnis gehabt, daß es unvorteilhaft wäre, diese ganze Bodenmasse innerhalb des Talbeckens von Ferghana zu bewässern. Man will einen Teil der Hungersteppe hinzunehmen und erreicht das, indem man von Chodshent aus in ostwestlicher Richtung einen Kanal führt. Bon dieser Linie aus senkt sich das Gelände gegen Norden in einem Gefälle von etwa 1 : 3000 im Durchschnitt. Die Bodengestalt kommt also im höchsten Grade der Irrigation entgegen, die in der Weise auszuführen ist, daß sich an den Hauptkanal Nebeukcmäle in südnördlicher Richtung ansetzen, die sich nun fortgesetzt spalten und so ein unendlich feines Kanalnetz über das ganze Gebiet bilden. Nach Ausführung dieser Projekte hofft man — wohl etwas sangui- nisch — bei einer Neubewüsserung von 5000 Quadratkilometern Land die Textilindustrie nicht nur von ganz Nußland auf die turtestauische Produktion gründen, sondern anch noch einen Teil des mitteleuropäischen Marktes ver¬ sorgen zu können. Ich bin auf diese Frage etwas näher eingegangen, weil in ihr der Kern¬ punkt der wirtschaftlichen Tätigkeit Rußlands in Turkestan liegt, und weil sie ferner zeigt, wie groß die Aufgaben sind, die sich Rußland in seiner .Koloni¬ sationsarbeit stellt. In dieser Tätigkeit wird die russische Negierung auf das wirksamste von ihren Offizieren unterstützt. Ich kann nicht unterlassen, auf den großen Eindruck hinzuweisen, deu ich von der Tüchtigkeit dieser Leute er¬ halten habe. Man sagt mir allerdings, daß Rußland seine besten und ge- bildetsten Offiziere hierher schicke. Neben ihrer militärischen Tätigkeit liegt die Verwaltung lind die wirtschaftliche Hebung des Landes zum größten Teil in ihren Hunden. Des Morgens bildet der Hauptmann seine Kompagnie aus, am Nachmittag zieht er mit seinen Leutnants hinaus, vermißt und nivelliert, bestimmt den Lauf der neu zu bauenden Kanäle. Die Bevölkerung muß die Arbeiter stellen: so wird eine Quadratmeile nach der andern der Wüste ab¬ gerungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/526>, abgerufen am 27.07.2024.