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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Lkkehard der Erste von Se. Gallen und das lvaltharilied

Verskunst ausgesprochen IM. Er empfiehlt darin vor allem die sorgfältigste
Wahl des Ausdrucks: die ungewöhnlichen Worte sollen statt der gewöhnlichen
stehn, sodaß etwa für Agruini diri, für pnlczlrsr Lsronu" oder l^olu", für irovilv
"winiug., für 1von8 xuleller xg.rg.ä^8us gesetzt wird. Vor Teutonismeu soll sich
der Poet in acht nehmen, immer soll er der Vorschriften des Donat eingedenk
sein und sein Augenmerk auf die Einflechtung zierlicher Redeblumen richten;
Verse wie der folgende: "At i'ouuzs vitas oidus ni" ugotÄi-^us euxitsv, d. h. Speise
und Trank möge der Zunder des erwünschten Lebens sein," gelten dem Ver¬
fasser der Epistel als Muster des figürlichen Ausdrucks. Das find Grundsätze,
wie sie ähnlich zu alleu Zeiten des sinkenden Geschmacks gepredigt und geübt
worden sind, und man denkt, wenn man sie liest, unwillkürlich an die Künsteleien
der Meistersänger oder an die Verstiegenheit des sogenannten Marinismus,
und wenn Etckehard wirklich bei der Korrektur des Gedichts, was doch am
Ende anzunehmen ist, diese Stilgesetze zur Richtschnur genommen hat, so hat
er eine Verschlimmbessernng geliefert, über deren Untergang man nicht gerade
zu klagen braucht, wenn anch der Philolog im Interesse seiner Wissenschaft
den Verlust bedauern mag.

Woher hat denn nun Ekkehard den Stoff zu seinem Gedicht? Diese
Frage wird sich jedem Leser aufdrängen. Dein? daß der Klosterschüler von
Se. Gallen, wenn auch allerlei Nebenwerk, doch die Grundzüge der Fabel, die
Vergeißelung der Königskinder, ihre Flucht, Walthers Kämpfe am Wasgen-
stein, nicht selbständig ersonnen hat, liegt auf der Hand. Man hat deshalb
nach Jakob Grimms Vorgang allgemein angenommen, daß die Verse Ekkehards
im engen Anschluß an eine alte stabreimende Dichtung entworfen worden seien.
Sicherlich hat es solche Dichtungen auch in Deutschland gegeben, ebensogut
wie in England, wo im achten Jahrhundert der "Mildere" (d. h. Walther)
entstanden ist, von dem heute noch zwei kleinere Bruchstücke vorhanden sind.
Und möglich ist es auch, daß sich trotz der Verfolgung, die auf Ludwigs des
Frommen Geheiß gegen die altdeutsche, aus dem Heidentum stammende Dichtung
unternommen worden ist, ein Exemplar eines alten Waltharilicdes nach Se.
Gallen gerettet hat und dort nach dem Satze: andre Zeiten, andre Lieder
sorgsam gehegt und gepflegt worden ist. Man hat deswegen im Texte des
Waltharins eifrig nach den Spuren einer deutschen Dichtung geforscht. Aber
im ganzen ist doch herzlich wenig dabei herausgekommen, für die Behauptung,
unter den Versen des Se. Galterer Mönches schimmere noch deutlich die alte
Vorlage durch, schwindet mehr und mehr der Boden. Anzeichen der Allite¬
rationen, auf die man sorgsam gefahndet hat, find wenig oder gar keine nach¬
gewiesen, Anklänge an deutsche Redeweise, sogenannte Germanismen sind vor¬
handen, aber was beweisen sie für ein deutsches Gedicht? Sie stellen sich überall
ein, wo ein Deutscher lateinische Verse macht, mögen sie frei entworfen oder
übersetzt sein. Und ebenso steht es mit den Varianten des Ausdrucks, der
Hüufnng gleichbedeutender Wörter und Redewendungen, die bekanntlich ein
charakteristisches Kunstmittel altgermanischer Poesie sind. Wenn Walther in
Ekkehards Gedicht als lAuä^Mis oder torUssiinus oder eslödcrrinius Inzros,
als vir iUustris oder prs-Evipuns, als juvkni8 oonstML, als s-Mons ZAtellos

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Lkkehard der Erste von Se. Gallen und das lvaltharilied

Verskunst ausgesprochen IM. Er empfiehlt darin vor allem die sorgfältigste
Wahl des Ausdrucks: die ungewöhnlichen Worte sollen statt der gewöhnlichen
stehn, sodaß etwa für Agruini diri, für pnlczlrsr Lsronu« oder l^olu», für irovilv
«winiug., für 1von8 xuleller xg.rg.ä^8us gesetzt wird. Vor Teutonismeu soll sich
der Poet in acht nehmen, immer soll er der Vorschriften des Donat eingedenk
sein und sein Augenmerk auf die Einflechtung zierlicher Redeblumen richten;
Verse wie der folgende: „At i'ouuzs vitas oidus ni« ugotÄi-^us euxitsv, d. h. Speise
und Trank möge der Zunder des erwünschten Lebens sein," gelten dem Ver¬
fasser der Epistel als Muster des figürlichen Ausdrucks. Das find Grundsätze,
wie sie ähnlich zu alleu Zeiten des sinkenden Geschmacks gepredigt und geübt
worden sind, und man denkt, wenn man sie liest, unwillkürlich an die Künsteleien
der Meistersänger oder an die Verstiegenheit des sogenannten Marinismus,
und wenn Etckehard wirklich bei der Korrektur des Gedichts, was doch am
Ende anzunehmen ist, diese Stilgesetze zur Richtschnur genommen hat, so hat
er eine Verschlimmbessernng geliefert, über deren Untergang man nicht gerade
zu klagen braucht, wenn anch der Philolog im Interesse seiner Wissenschaft
den Verlust bedauern mag.

Woher hat denn nun Ekkehard den Stoff zu seinem Gedicht? Diese
Frage wird sich jedem Leser aufdrängen. Dein? daß der Klosterschüler von
Se. Gallen, wenn auch allerlei Nebenwerk, doch die Grundzüge der Fabel, die
Vergeißelung der Königskinder, ihre Flucht, Walthers Kämpfe am Wasgen-
stein, nicht selbständig ersonnen hat, liegt auf der Hand. Man hat deshalb
nach Jakob Grimms Vorgang allgemein angenommen, daß die Verse Ekkehards
im engen Anschluß an eine alte stabreimende Dichtung entworfen worden seien.
Sicherlich hat es solche Dichtungen auch in Deutschland gegeben, ebensogut
wie in England, wo im achten Jahrhundert der „Mildere" (d. h. Walther)
entstanden ist, von dem heute noch zwei kleinere Bruchstücke vorhanden sind.
Und möglich ist es auch, daß sich trotz der Verfolgung, die auf Ludwigs des
Frommen Geheiß gegen die altdeutsche, aus dem Heidentum stammende Dichtung
unternommen worden ist, ein Exemplar eines alten Waltharilicdes nach Se.
Gallen gerettet hat und dort nach dem Satze: andre Zeiten, andre Lieder
sorgsam gehegt und gepflegt worden ist. Man hat deswegen im Texte des
Waltharins eifrig nach den Spuren einer deutschen Dichtung geforscht. Aber
im ganzen ist doch herzlich wenig dabei herausgekommen, für die Behauptung,
unter den Versen des Se. Galterer Mönches schimmere noch deutlich die alte
Vorlage durch, schwindet mehr und mehr der Boden. Anzeichen der Allite¬
rationen, auf die man sorgsam gefahndet hat, find wenig oder gar keine nach¬
gewiesen, Anklänge an deutsche Redeweise, sogenannte Germanismen sind vor¬
handen, aber was beweisen sie für ein deutsches Gedicht? Sie stellen sich überall
ein, wo ein Deutscher lateinische Verse macht, mögen sie frei entworfen oder
übersetzt sein. Und ebenso steht es mit den Varianten des Ausdrucks, der
Hüufnng gleichbedeutender Wörter und Redewendungen, die bekanntlich ein
charakteristisches Kunstmittel altgermanischer Poesie sind. Wenn Walther in
Ekkehards Gedicht als lAuä^Mis oder torUssiinus oder eslödcrrinius Inzros,
als vir iUustris oder prs-Evipuns, als juvkni8 oonstML, als s-Mons ZAtellos

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[0292] Lkkehard der Erste von Se. Gallen und das lvaltharilied Verskunst ausgesprochen IM. Er empfiehlt darin vor allem die sorgfältigste Wahl des Ausdrucks: die ungewöhnlichen Worte sollen statt der gewöhnlichen stehn, sodaß etwa für Agruini diri, für pnlczlrsr Lsronu« oder l^olu», für irovilv «winiug., für 1von8 xuleller xg.rg.ä^8us gesetzt wird. Vor Teutonismeu soll sich der Poet in acht nehmen, immer soll er der Vorschriften des Donat eingedenk sein und sein Augenmerk auf die Einflechtung zierlicher Redeblumen richten; Verse wie der folgende: „At i'ouuzs vitas oidus ni« ugotÄi-^us euxitsv, d. h. Speise und Trank möge der Zunder des erwünschten Lebens sein," gelten dem Ver¬ fasser der Epistel als Muster des figürlichen Ausdrucks. Das find Grundsätze, wie sie ähnlich zu alleu Zeiten des sinkenden Geschmacks gepredigt und geübt worden sind, und man denkt, wenn man sie liest, unwillkürlich an die Künsteleien der Meistersänger oder an die Verstiegenheit des sogenannten Marinismus, und wenn Etckehard wirklich bei der Korrektur des Gedichts, was doch am Ende anzunehmen ist, diese Stilgesetze zur Richtschnur genommen hat, so hat er eine Verschlimmbessernng geliefert, über deren Untergang man nicht gerade zu klagen braucht, wenn anch der Philolog im Interesse seiner Wissenschaft den Verlust bedauern mag. Woher hat denn nun Ekkehard den Stoff zu seinem Gedicht? Diese Frage wird sich jedem Leser aufdrängen. Dein? daß der Klosterschüler von Se. Gallen, wenn auch allerlei Nebenwerk, doch die Grundzüge der Fabel, die Vergeißelung der Königskinder, ihre Flucht, Walthers Kämpfe am Wasgen- stein, nicht selbständig ersonnen hat, liegt auf der Hand. Man hat deshalb nach Jakob Grimms Vorgang allgemein angenommen, daß die Verse Ekkehards im engen Anschluß an eine alte stabreimende Dichtung entworfen worden seien. Sicherlich hat es solche Dichtungen auch in Deutschland gegeben, ebensogut wie in England, wo im achten Jahrhundert der „Mildere" (d. h. Walther) entstanden ist, von dem heute noch zwei kleinere Bruchstücke vorhanden sind. Und möglich ist es auch, daß sich trotz der Verfolgung, die auf Ludwigs des Frommen Geheiß gegen die altdeutsche, aus dem Heidentum stammende Dichtung unternommen worden ist, ein Exemplar eines alten Waltharilicdes nach Se. Gallen gerettet hat und dort nach dem Satze: andre Zeiten, andre Lieder sorgsam gehegt und gepflegt worden ist. Man hat deswegen im Texte des Waltharins eifrig nach den Spuren einer deutschen Dichtung geforscht. Aber im ganzen ist doch herzlich wenig dabei herausgekommen, für die Behauptung, unter den Versen des Se. Galterer Mönches schimmere noch deutlich die alte Vorlage durch, schwindet mehr und mehr der Boden. Anzeichen der Allite¬ rationen, auf die man sorgsam gefahndet hat, find wenig oder gar keine nach¬ gewiesen, Anklänge an deutsche Redeweise, sogenannte Germanismen sind vor¬ handen, aber was beweisen sie für ein deutsches Gedicht? Sie stellen sich überall ein, wo ein Deutscher lateinische Verse macht, mögen sie frei entworfen oder übersetzt sein. Und ebenso steht es mit den Varianten des Ausdrucks, der Hüufnng gleichbedeutender Wörter und Redewendungen, die bekanntlich ein charakteristisches Kunstmittel altgermanischer Poesie sind. Wenn Walther in Ekkehards Gedicht als lAuä^Mis oder torUssiinus oder eslödcrrinius Inzros, als vir iUustris oder prs-Evipuns, als juvkni8 oonstML, als s-Mons ZAtellos 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/292>, abgerufen am 26.11.2024.