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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die Krisis in Ungarn

Die Türkei darauf beschränkt, nur unter dem Schutze Rußlands zu existieren,
nur Rußlands Wünschen hinfort ihr Ohr zu leihen, war nach des Kaisers
Ansicht unsern politischen und Handelsinteressen angemessener als irgend eine
neue Kombination, die uns gezwungen hätte, entweder unsre Herrschaft durch
Eroberungen auszudehnen, oder an die Stelle des Osmanischen Reiches Staaten
treten zu lassen, die bald genug mit uns an Macht, Bildung, Kunstfleiß und
Reichtum gewetteifert haben würden. Da wir den Umsturz der türkischen Regierung
nicht gewollt haben, so suchen wir die Mittel, sie in ihrem jetzigen Staude
aufrecht zu erhalten. Die wichtige Sache der Durchfahrt des Bosporus ist in
einer Weise zu Ende gebracht worden, die die andern Mächte und sogar Eng¬
land in Erstaunen setzen wird; denn die englische Flagge wird bei weitem nicht
mit derselben Rücksicht in der Straße von Konstantinopel behandelt wie die
unsrige. Was Serbien anlangt, hat die Pforte mit Gefügigkeit und Eifer allen
Forderungen gehorcht. Die Moldau und die Walachei sind zurückgegeben;
ihre Eroberung wäre uns umsoweniger nützlich gewesen, als wir nun, ohne
Truppen dort zu unterhalten, nach Wunsch nud Willen in Kriegs- und
Friedenszeit über diese Provinzen verfügen. Die Entschädigung wird Sache
der ausgleichenden Unterhandlung sein, die das Osmanische Reich mit einer
unerträglichen Bürde nicht beschweren, in unsern Händen aber die Schlüssel
der Lage lassen wird, von wo aus wir das Reich im Schach halten, sie wird
ferner das Vorhandensein einer Schuld zur Anerkennung bringen, die der
Pforte lange Jahre ihre wahre Lage Nußland gegenüber und die Gewißheit
ihres Verderbens, falls sie ein zweites mal zu trotzen versuchte, im Bewußt¬
sein halten wird." /c> .c < - .^ (Fortsetzung folgt)




Die Krisis in Ungarn
Albin Geyer von(Schluß)

err von Szell begann die zunehmende Schwächung seiner Stellung
zu fühlen und hielt es für nötig, sich etwas populär zu machen.
Das trifft man überall am leichtesten, wenn man die national¬
chauvinistische Saite erklingen läßt und etwas von dem "Männer-
stolz vor Königsthronen" zur Schau trägt, der in vormärzlicher
Zeit etliche Jahre Zuchthaus einbrachte, aber heutzutage sehr ungefährlich
geworden ist, bei dem großen Haufen jedoch noch in hohem Ansehen steht.
Als Anlaß benutzte Herr von Szell einen Zwischenfall, der mit der Reise
des Erzherzogs Franz Ferdinand, des Thronfolgers, nach Petersburg in
Verbindung stand. Für diese waren vom Hofe zwei Ehrenkavaliere für den
Erzherzog ausgewählt, von diesem aeeeptiert und vom Kaiser genehmigt
worden, und zwar zur Wahrung der dualistischen Parität, ein österreichischer
und ein ungarischer. Beide waren im Namen des Thronfolgers eingeladen


Die Krisis in Ungarn

Die Türkei darauf beschränkt, nur unter dem Schutze Rußlands zu existieren,
nur Rußlands Wünschen hinfort ihr Ohr zu leihen, war nach des Kaisers
Ansicht unsern politischen und Handelsinteressen angemessener als irgend eine
neue Kombination, die uns gezwungen hätte, entweder unsre Herrschaft durch
Eroberungen auszudehnen, oder an die Stelle des Osmanischen Reiches Staaten
treten zu lassen, die bald genug mit uns an Macht, Bildung, Kunstfleiß und
Reichtum gewetteifert haben würden. Da wir den Umsturz der türkischen Regierung
nicht gewollt haben, so suchen wir die Mittel, sie in ihrem jetzigen Staude
aufrecht zu erhalten. Die wichtige Sache der Durchfahrt des Bosporus ist in
einer Weise zu Ende gebracht worden, die die andern Mächte und sogar Eng¬
land in Erstaunen setzen wird; denn die englische Flagge wird bei weitem nicht
mit derselben Rücksicht in der Straße von Konstantinopel behandelt wie die
unsrige. Was Serbien anlangt, hat die Pforte mit Gefügigkeit und Eifer allen
Forderungen gehorcht. Die Moldau und die Walachei sind zurückgegeben;
ihre Eroberung wäre uns umsoweniger nützlich gewesen, als wir nun, ohne
Truppen dort zu unterhalten, nach Wunsch nud Willen in Kriegs- und
Friedenszeit über diese Provinzen verfügen. Die Entschädigung wird Sache
der ausgleichenden Unterhandlung sein, die das Osmanische Reich mit einer
unerträglichen Bürde nicht beschweren, in unsern Händen aber die Schlüssel
der Lage lassen wird, von wo aus wir das Reich im Schach halten, sie wird
ferner das Vorhandensein einer Schuld zur Anerkennung bringen, die der
Pforte lange Jahre ihre wahre Lage Nußland gegenüber und die Gewißheit
ihres Verderbens, falls sie ein zweites mal zu trotzen versuchte, im Bewußt¬
sein halten wird." /c> .c < - .^ (Fortsetzung folgt)




Die Krisis in Ungarn
Albin Geyer von(Schluß)

err von Szell begann die zunehmende Schwächung seiner Stellung
zu fühlen und hielt es für nötig, sich etwas populär zu machen.
Das trifft man überall am leichtesten, wenn man die national¬
chauvinistische Saite erklingen läßt und etwas von dem „Männer-
stolz vor Königsthronen" zur Schau trägt, der in vormärzlicher
Zeit etliche Jahre Zuchthaus einbrachte, aber heutzutage sehr ungefährlich
geworden ist, bei dem großen Haufen jedoch noch in hohem Ansehen steht.
Als Anlaß benutzte Herr von Szell einen Zwischenfall, der mit der Reise
des Erzherzogs Franz Ferdinand, des Thronfolgers, nach Petersburg in
Verbindung stand. Für diese waren vom Hofe zwei Ehrenkavaliere für den
Erzherzog ausgewählt, von diesem aeeeptiert und vom Kaiser genehmigt
worden, und zwar zur Wahrung der dualistischen Parität, ein österreichischer
und ein ungarischer. Beide waren im Namen des Thronfolgers eingeladen


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[0219] Die Krisis in Ungarn Die Türkei darauf beschränkt, nur unter dem Schutze Rußlands zu existieren, nur Rußlands Wünschen hinfort ihr Ohr zu leihen, war nach des Kaisers Ansicht unsern politischen und Handelsinteressen angemessener als irgend eine neue Kombination, die uns gezwungen hätte, entweder unsre Herrschaft durch Eroberungen auszudehnen, oder an die Stelle des Osmanischen Reiches Staaten treten zu lassen, die bald genug mit uns an Macht, Bildung, Kunstfleiß und Reichtum gewetteifert haben würden. Da wir den Umsturz der türkischen Regierung nicht gewollt haben, so suchen wir die Mittel, sie in ihrem jetzigen Staude aufrecht zu erhalten. Die wichtige Sache der Durchfahrt des Bosporus ist in einer Weise zu Ende gebracht worden, die die andern Mächte und sogar Eng¬ land in Erstaunen setzen wird; denn die englische Flagge wird bei weitem nicht mit derselben Rücksicht in der Straße von Konstantinopel behandelt wie die unsrige. Was Serbien anlangt, hat die Pforte mit Gefügigkeit und Eifer allen Forderungen gehorcht. Die Moldau und die Walachei sind zurückgegeben; ihre Eroberung wäre uns umsoweniger nützlich gewesen, als wir nun, ohne Truppen dort zu unterhalten, nach Wunsch nud Willen in Kriegs- und Friedenszeit über diese Provinzen verfügen. Die Entschädigung wird Sache der ausgleichenden Unterhandlung sein, die das Osmanische Reich mit einer unerträglichen Bürde nicht beschweren, in unsern Händen aber die Schlüssel der Lage lassen wird, von wo aus wir das Reich im Schach halten, sie wird ferner das Vorhandensein einer Schuld zur Anerkennung bringen, die der Pforte lange Jahre ihre wahre Lage Nußland gegenüber und die Gewißheit ihres Verderbens, falls sie ein zweites mal zu trotzen versuchte, im Bewußt¬ sein halten wird." /c> .c < - .^ (Fortsetzung folgt) Die Krisis in Ungarn Albin Geyer von(Schluß) err von Szell begann die zunehmende Schwächung seiner Stellung zu fühlen und hielt es für nötig, sich etwas populär zu machen. Das trifft man überall am leichtesten, wenn man die national¬ chauvinistische Saite erklingen läßt und etwas von dem „Männer- stolz vor Königsthronen" zur Schau trägt, der in vormärzlicher Zeit etliche Jahre Zuchthaus einbrachte, aber heutzutage sehr ungefährlich geworden ist, bei dem großen Haufen jedoch noch in hohem Ansehen steht. Als Anlaß benutzte Herr von Szell einen Zwischenfall, der mit der Reise des Erzherzogs Franz Ferdinand, des Thronfolgers, nach Petersburg in Verbindung stand. Für diese waren vom Hofe zwei Ehrenkavaliere für den Erzherzog ausgewählt, von diesem aeeeptiert und vom Kaiser genehmigt worden, und zwar zur Wahrung der dualistischen Parität, ein österreichischer und ein ungarischer. Beide waren im Namen des Thronfolgers eingeladen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/219>, abgerufen am 22.11.2024.