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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Das Verbrechen und seine Bekämpfung

schiednen Landschaften wirken dann noch verschiedne andre Ursachen mit. In
Baden machen die Katholiken die Mehrheit aus. Das ganze Rheinland ist
ein Weinland, was besonders der fröhlichen Pfalz zu einem schlimmen Ruf
bei den Kriminalisten verholfen hat. Bayern ist das Vierland. Die polnischen
Landesteile sind, wie der ganze Osten, Schnapsbrenner- und Schncipstrinker-
lünder, ärmer als der Westen und dabei durch die Zweisprachigkeit und durch
den nationalen Kampf mit reichlicher Gelegenheit zu Konflikten gesegnet. --
Die Wirkungen des Alkohols sind so bekannt, daß wir dabei nicht zu ver¬
weilen brauchen. Nur die eine Tatsache Wollen wir anführen, daß von
den in der Zeit von 1872 bis 1895 zum Tode Verurteilten -- es waren
ihrer 202 -- 59,9 Prozent Gewohnheitstrinker und 43,1 Prozent im Augenblicke
der Tat berauscht waren. Von den Körperverletzungen werden 35,1 Prozent
am Sonntage begangen. Die Zeichnung der Kriminalität der Wochentage
wird fromme Augen schmerzen: der Sonntag hat einen turmhohen Balken,
der Sonnabend als Lohntag und der blaue Montag haben Balken, die nicht
ganz halb so hoch sind, und die Balken der übrigen Tage schrumpfen zu
Würfeln oder ganz niedrigen Klötzchen zusammen. Ein Gefängnisgeistlicher
hat sich dadurch zu dem Ausspruch verleiten lassen: "Das Gesetz über die
Sonntagsruhe ist in der vorliegenden Gestalt ein sehr zweifelhaftes Geschenk."
Ein recht törichtes Urteil! Der Segen der Sonntagsruhe wiegt die paar blutigen
Köpfe tausendmal auf, und eine Bevölkerung, der Kraftübcrschnß und Wein-
odcr Bierrausch das Raufen zum Bedürfnis machen, ist uns entschieden lieber
als ein höchst ehrbares Volk halbverhungerter Weber, dem das Raufen seit
hundert Jahren vergangen ist. Die wüsten Sonntagsvergnügungen legen bloß
den herrschenden Klasse,: die Pflicht aus, durch Wohuungsreform, Vereinshüuser,
Volkstheater, Volks konzcrte, Volksbibliotheken den untern Klassen eine ver¬
nünftige Geselligkeit und Erholung möglich zu machen und sie dafür zu erziehn.
Übrigens bleiben die angestrengten Bemühungen der Alkohvlgegner nicht ohne
Wirkung; die Zeitungen melden, daß in den letzten Jahren der Wein- und der
Bierverbrauch bedeutend abgenommen haben und ein wenig auch der Schnaps¬
verbrauch. Die Kriminalität der Studenten kommt, abgesehen vom Jugendüber-
Mut und der bei den Kommilitonen Ehre eintragenden "Schneidigkeit," ans die
Rechnung der studentischen Trinksitten. Im Jahre 1899 sind von 54000 Studenten
435 verurteilt worden. Wenn man bedenkt, daß sie zum allergrößten Teil
den Gesellschaftsschichten entsprossen sind, deren Kriminalität aus naheliegenden
Ursachen ganz gering ist, daß sie mit einem gesunden Körper und mit nor¬
malen Geistesanlagen ausgerüstet sind, eine sorgfältige Erziehung und einen
gründlichen, bis zum zwanzigsten Jahre währenden Unterricht genossen haben,
daß sie keine Not leiden, und daß sie für ihren Unterhalt nicht zu sorgen
brauchen, daß sie also eigentlich gar keinen Anlaß zu "Straftaten" haben, so
wuß man sich nur darüber wundern, daß die Proletarierjungen, die nnter
gerade entgegengesetzten Bedingungen aufgewachsen sind und sich, ungenügend
ausgerüstet oder mit Hindernissen belastet, vom vierzehnten Jahre ab selb¬
ständig durchschlagen sollen, daß die nicht nach wenig Wochen sämtlich hinter
Schloß und Riegel sitzen. Für etwaige kriminalistische Folgen eines Alkohol-


Das Verbrechen und seine Bekämpfung

schiednen Landschaften wirken dann noch verschiedne andre Ursachen mit. In
Baden machen die Katholiken die Mehrheit aus. Das ganze Rheinland ist
ein Weinland, was besonders der fröhlichen Pfalz zu einem schlimmen Ruf
bei den Kriminalisten verholfen hat. Bayern ist das Vierland. Die polnischen
Landesteile sind, wie der ganze Osten, Schnapsbrenner- und Schncipstrinker-
lünder, ärmer als der Westen und dabei durch die Zweisprachigkeit und durch
den nationalen Kampf mit reichlicher Gelegenheit zu Konflikten gesegnet. —
Die Wirkungen des Alkohols sind so bekannt, daß wir dabei nicht zu ver¬
weilen brauchen. Nur die eine Tatsache Wollen wir anführen, daß von
den in der Zeit von 1872 bis 1895 zum Tode Verurteilten — es waren
ihrer 202 — 59,9 Prozent Gewohnheitstrinker und 43,1 Prozent im Augenblicke
der Tat berauscht waren. Von den Körperverletzungen werden 35,1 Prozent
am Sonntage begangen. Die Zeichnung der Kriminalität der Wochentage
wird fromme Augen schmerzen: der Sonntag hat einen turmhohen Balken,
der Sonnabend als Lohntag und der blaue Montag haben Balken, die nicht
ganz halb so hoch sind, und die Balken der übrigen Tage schrumpfen zu
Würfeln oder ganz niedrigen Klötzchen zusammen. Ein Gefängnisgeistlicher
hat sich dadurch zu dem Ausspruch verleiten lassen: „Das Gesetz über die
Sonntagsruhe ist in der vorliegenden Gestalt ein sehr zweifelhaftes Geschenk."
Ein recht törichtes Urteil! Der Segen der Sonntagsruhe wiegt die paar blutigen
Köpfe tausendmal auf, und eine Bevölkerung, der Kraftübcrschnß und Wein-
odcr Bierrausch das Raufen zum Bedürfnis machen, ist uns entschieden lieber
als ein höchst ehrbares Volk halbverhungerter Weber, dem das Raufen seit
hundert Jahren vergangen ist. Die wüsten Sonntagsvergnügungen legen bloß
den herrschenden Klasse,: die Pflicht aus, durch Wohuungsreform, Vereinshüuser,
Volkstheater, Volks konzcrte, Volksbibliotheken den untern Klassen eine ver¬
nünftige Geselligkeit und Erholung möglich zu machen und sie dafür zu erziehn.
Übrigens bleiben die angestrengten Bemühungen der Alkohvlgegner nicht ohne
Wirkung; die Zeitungen melden, daß in den letzten Jahren der Wein- und der
Bierverbrauch bedeutend abgenommen haben und ein wenig auch der Schnaps¬
verbrauch. Die Kriminalität der Studenten kommt, abgesehen vom Jugendüber-
Mut und der bei den Kommilitonen Ehre eintragenden „Schneidigkeit," ans die
Rechnung der studentischen Trinksitten. Im Jahre 1899 sind von 54000 Studenten
435 verurteilt worden. Wenn man bedenkt, daß sie zum allergrößten Teil
den Gesellschaftsschichten entsprossen sind, deren Kriminalität aus naheliegenden
Ursachen ganz gering ist, daß sie mit einem gesunden Körper und mit nor¬
malen Geistesanlagen ausgerüstet sind, eine sorgfältige Erziehung und einen
gründlichen, bis zum zwanzigsten Jahre währenden Unterricht genossen haben,
daß sie keine Not leiden, und daß sie für ihren Unterhalt nicht zu sorgen
brauchen, daß sie also eigentlich gar keinen Anlaß zu „Straftaten" haben, so
wuß man sich nur darüber wundern, daß die Proletarierjungen, die nnter
gerade entgegengesetzten Bedingungen aufgewachsen sind und sich, ungenügend
ausgerüstet oder mit Hindernissen belastet, vom vierzehnten Jahre ab selb¬
ständig durchschlagen sollen, daß die nicht nach wenig Wochen sämtlich hinter
Schloß und Riegel sitzen. Für etwaige kriminalistische Folgen eines Alkohol-


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[0207] Das Verbrechen und seine Bekämpfung schiednen Landschaften wirken dann noch verschiedne andre Ursachen mit. In Baden machen die Katholiken die Mehrheit aus. Das ganze Rheinland ist ein Weinland, was besonders der fröhlichen Pfalz zu einem schlimmen Ruf bei den Kriminalisten verholfen hat. Bayern ist das Vierland. Die polnischen Landesteile sind, wie der ganze Osten, Schnapsbrenner- und Schncipstrinker- lünder, ärmer als der Westen und dabei durch die Zweisprachigkeit und durch den nationalen Kampf mit reichlicher Gelegenheit zu Konflikten gesegnet. — Die Wirkungen des Alkohols sind so bekannt, daß wir dabei nicht zu ver¬ weilen brauchen. Nur die eine Tatsache Wollen wir anführen, daß von den in der Zeit von 1872 bis 1895 zum Tode Verurteilten — es waren ihrer 202 — 59,9 Prozent Gewohnheitstrinker und 43,1 Prozent im Augenblicke der Tat berauscht waren. Von den Körperverletzungen werden 35,1 Prozent am Sonntage begangen. Die Zeichnung der Kriminalität der Wochentage wird fromme Augen schmerzen: der Sonntag hat einen turmhohen Balken, der Sonnabend als Lohntag und der blaue Montag haben Balken, die nicht ganz halb so hoch sind, und die Balken der übrigen Tage schrumpfen zu Würfeln oder ganz niedrigen Klötzchen zusammen. Ein Gefängnisgeistlicher hat sich dadurch zu dem Ausspruch verleiten lassen: „Das Gesetz über die Sonntagsruhe ist in der vorliegenden Gestalt ein sehr zweifelhaftes Geschenk." Ein recht törichtes Urteil! Der Segen der Sonntagsruhe wiegt die paar blutigen Köpfe tausendmal auf, und eine Bevölkerung, der Kraftübcrschnß und Wein- odcr Bierrausch das Raufen zum Bedürfnis machen, ist uns entschieden lieber als ein höchst ehrbares Volk halbverhungerter Weber, dem das Raufen seit hundert Jahren vergangen ist. Die wüsten Sonntagsvergnügungen legen bloß den herrschenden Klasse,: die Pflicht aus, durch Wohuungsreform, Vereinshüuser, Volkstheater, Volks konzcrte, Volksbibliotheken den untern Klassen eine ver¬ nünftige Geselligkeit und Erholung möglich zu machen und sie dafür zu erziehn. Übrigens bleiben die angestrengten Bemühungen der Alkohvlgegner nicht ohne Wirkung; die Zeitungen melden, daß in den letzten Jahren der Wein- und der Bierverbrauch bedeutend abgenommen haben und ein wenig auch der Schnaps¬ verbrauch. Die Kriminalität der Studenten kommt, abgesehen vom Jugendüber- Mut und der bei den Kommilitonen Ehre eintragenden „Schneidigkeit," ans die Rechnung der studentischen Trinksitten. Im Jahre 1899 sind von 54000 Studenten 435 verurteilt worden. Wenn man bedenkt, daß sie zum allergrößten Teil den Gesellschaftsschichten entsprossen sind, deren Kriminalität aus naheliegenden Ursachen ganz gering ist, daß sie mit einem gesunden Körper und mit nor¬ malen Geistesanlagen ausgerüstet sind, eine sorgfältige Erziehung und einen gründlichen, bis zum zwanzigsten Jahre währenden Unterricht genossen haben, daß sie keine Not leiden, und daß sie für ihren Unterhalt nicht zu sorgen brauchen, daß sie also eigentlich gar keinen Anlaß zu „Straftaten" haben, so wuß man sich nur darüber wundern, daß die Proletarierjungen, die nnter gerade entgegengesetzten Bedingungen aufgewachsen sind und sich, ungenügend ausgerüstet oder mit Hindernissen belastet, vom vierzehnten Jahre ab selb¬ ständig durchschlagen sollen, daß die nicht nach wenig Wochen sämtlich hinter Schloß und Riegel sitzen. Für etwaige kriminalistische Folgen eines Alkohol-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/207>, abgerufen am 23.11.2024.