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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Parlamentarische Lxperimentaljurisprudenz .

zehn Mark aus Mehl- und ähnlichen Warenkäufen! Vergebens wiesen die
anwesenden Vertreter des Bundesrath, insbesondre die von Preußen und
Bayern, sowie auch eiuzelue Mitglieder der Kommission darauf hin, daß die
im ganzen übrigen Reiche wohlbewährte Rechtseinrichtung der Zwangseiu-
trcigung deshalb weil die badischen Bauern so nachlässig seien, gegen unbe¬
gründete Zahlungsbefehle keinen Widerspruch zu erheben, sowie es wegen der
kleinsten Forderungen zu Zwangseintraguugen kommen zu lassen, nicht be¬
seitigt oder in ihr Gegenteil verkehrt werden könne; die Kommission und der
Reichstag nahmen das Gesetz in der oben mitgeteilten Fassung an, sodaß der
Rechtszustand jetzt so ist: der Gläubiger des Bauern kann nicht den billigen
Weg des Mahnverfahrens wählen, sondern er muß den kostspieligen Weg
der Klage einschlagen; denn die Verhältnisse können so zu liegen kommen,
daß sich der Gläubiger in seinem wie des Schuldners Interesse mit einer
bloßen Zwangseintragung begnügen will; im Mahnverfahren erlangt der
Gläubiger aber nur einen Vollstreckn"gsbefehl, auf Grund dessen er zwar des
Bauern Fahrnis und Grundstück verkaufen lassen, aber keine Zwangseintraguug
erwirken kann. Und auch nur die wohlhabenden Gläubiger sind in der
Lage, für die cmsgeurteilte Forderung eine Zwangseintragung überhaupt
zu erlangen; den kleinen Gewerbetreibenden, deren Forderungen erfahrungs¬
gemäß 300 Mark niemals erreichen, ist die Möglichkeit, die in der Zwangs-
eintrngung liegende Sicherheit zu erlangen, überhaupt genommen. Und dazu
hatte diese "sozialpolitische Monstrosität" als echtes Beispiel parlamentarischer
Experimentaljurisprudenz noch eine Reihe von schwierigen rechtlichen Zweifels¬
fragen im Gefolge, über die sich viele Dutzende vou Entscheidungen der Ge¬
richte abgelagert haben und noch ablagern werden, so ob der Gläubiger, wenn
er zur Schonung des Schuldners nur einen Vollstreckuugsbefehl erwirkt hat,
nun noch von neuem ein Urteil eigens zu dem Zweck erwirken kann, die
Zwangseintragung der ausgeurteilten Forderung zu erlangen; ob, wenn der
Gläubiger mehrere Urteile erstritten hat, von denen keines den Betrag von
300 Mark erreicht, die Zwangseintraguug erfolgen kann, wenn die Gesamt¬
summe der cmsgeurteilteu Ansprüche 300 Mark übersteigt; ob die Zwangs¬
eintragung zulässig ist, wenn die ausgeurteilte Hauptsumme nur unter Hinzu¬
rechnung der festgesetzten Kosten den Betrag von 300 Mark übersteigt; ob zur
Vollziehung des Arrestes in ein Grundstück eine Sicheruugshypothck nur für
eine den Betrag von 300 Mark übersteigende Forderung eingetragen werden
kann; ob eine Vormerkung eingetragen werden kann zur Sicherung des An¬
spruchs auf Eintragung einer Sicherungshypothek, deren Betrag 300 Mark
nicht übersteigt? usw. Und alle die Zeit, die die Gerichte und die Rechts¬
wissenschaft solchen sich aus der parlamentarischen Experimentaljurisprudeuz
ergebenden Zweifelsfragen über das Eintragnngsverfahren widmen, wird doch
schließlich der Erörterung von Fragen des materiellen Rechts entzogen!

(Schluß folgt)




Parlamentarische Lxperimentaljurisprudenz .

zehn Mark aus Mehl- und ähnlichen Warenkäufen! Vergebens wiesen die
anwesenden Vertreter des Bundesrath, insbesondre die von Preußen und
Bayern, sowie auch eiuzelue Mitglieder der Kommission darauf hin, daß die
im ganzen übrigen Reiche wohlbewährte Rechtseinrichtung der Zwangseiu-
trcigung deshalb weil die badischen Bauern so nachlässig seien, gegen unbe¬
gründete Zahlungsbefehle keinen Widerspruch zu erheben, sowie es wegen der
kleinsten Forderungen zu Zwangseintraguugen kommen zu lassen, nicht be¬
seitigt oder in ihr Gegenteil verkehrt werden könne; die Kommission und der
Reichstag nahmen das Gesetz in der oben mitgeteilten Fassung an, sodaß der
Rechtszustand jetzt so ist: der Gläubiger des Bauern kann nicht den billigen
Weg des Mahnverfahrens wählen, sondern er muß den kostspieligen Weg
der Klage einschlagen; denn die Verhältnisse können so zu liegen kommen,
daß sich der Gläubiger in seinem wie des Schuldners Interesse mit einer
bloßen Zwangseintragung begnügen will; im Mahnverfahren erlangt der
Gläubiger aber nur einen Vollstreckn»gsbefehl, auf Grund dessen er zwar des
Bauern Fahrnis und Grundstück verkaufen lassen, aber keine Zwangseintraguug
erwirken kann. Und auch nur die wohlhabenden Gläubiger sind in der
Lage, für die cmsgeurteilte Forderung eine Zwangseintragung überhaupt
zu erlangen; den kleinen Gewerbetreibenden, deren Forderungen erfahrungs¬
gemäß 300 Mark niemals erreichen, ist die Möglichkeit, die in der Zwangs-
eintrngung liegende Sicherheit zu erlangen, überhaupt genommen. Und dazu
hatte diese „sozialpolitische Monstrosität" als echtes Beispiel parlamentarischer
Experimentaljurisprudenz noch eine Reihe von schwierigen rechtlichen Zweifels¬
fragen im Gefolge, über die sich viele Dutzende vou Entscheidungen der Ge¬
richte abgelagert haben und noch ablagern werden, so ob der Gläubiger, wenn
er zur Schonung des Schuldners nur einen Vollstreckuugsbefehl erwirkt hat,
nun noch von neuem ein Urteil eigens zu dem Zweck erwirken kann, die
Zwangseintragung der ausgeurteilten Forderung zu erlangen; ob, wenn der
Gläubiger mehrere Urteile erstritten hat, von denen keines den Betrag von
300 Mark erreicht, die Zwangseintraguug erfolgen kann, wenn die Gesamt¬
summe der cmsgeurteilteu Ansprüche 300 Mark übersteigt; ob die Zwangs¬
eintragung zulässig ist, wenn die ausgeurteilte Hauptsumme nur unter Hinzu¬
rechnung der festgesetzten Kosten den Betrag von 300 Mark übersteigt; ob zur
Vollziehung des Arrestes in ein Grundstück eine Sicheruugshypothck nur für
eine den Betrag von 300 Mark übersteigende Forderung eingetragen werden
kann; ob eine Vormerkung eingetragen werden kann zur Sicherung des An¬
spruchs auf Eintragung einer Sicherungshypothek, deren Betrag 300 Mark
nicht übersteigt? usw. Und alle die Zeit, die die Gerichte und die Rechts¬
wissenschaft solchen sich aus der parlamentarischen Experimentaljurisprudeuz
ergebenden Zweifelsfragen über das Eintragnngsverfahren widmen, wird doch
schließlich der Erörterung von Fragen des materiellen Rechts entzogen!

(Schluß folgt)




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[0706] Parlamentarische Lxperimentaljurisprudenz . zehn Mark aus Mehl- und ähnlichen Warenkäufen! Vergebens wiesen die anwesenden Vertreter des Bundesrath, insbesondre die von Preußen und Bayern, sowie auch eiuzelue Mitglieder der Kommission darauf hin, daß die im ganzen übrigen Reiche wohlbewährte Rechtseinrichtung der Zwangseiu- trcigung deshalb weil die badischen Bauern so nachlässig seien, gegen unbe¬ gründete Zahlungsbefehle keinen Widerspruch zu erheben, sowie es wegen der kleinsten Forderungen zu Zwangseintraguugen kommen zu lassen, nicht be¬ seitigt oder in ihr Gegenteil verkehrt werden könne; die Kommission und der Reichstag nahmen das Gesetz in der oben mitgeteilten Fassung an, sodaß der Rechtszustand jetzt so ist: der Gläubiger des Bauern kann nicht den billigen Weg des Mahnverfahrens wählen, sondern er muß den kostspieligen Weg der Klage einschlagen; denn die Verhältnisse können so zu liegen kommen, daß sich der Gläubiger in seinem wie des Schuldners Interesse mit einer bloßen Zwangseintragung begnügen will; im Mahnverfahren erlangt der Gläubiger aber nur einen Vollstreckn»gsbefehl, auf Grund dessen er zwar des Bauern Fahrnis und Grundstück verkaufen lassen, aber keine Zwangseintraguug erwirken kann. Und auch nur die wohlhabenden Gläubiger sind in der Lage, für die cmsgeurteilte Forderung eine Zwangseintragung überhaupt zu erlangen; den kleinen Gewerbetreibenden, deren Forderungen erfahrungs¬ gemäß 300 Mark niemals erreichen, ist die Möglichkeit, die in der Zwangs- eintrngung liegende Sicherheit zu erlangen, überhaupt genommen. Und dazu hatte diese „sozialpolitische Monstrosität" als echtes Beispiel parlamentarischer Experimentaljurisprudenz noch eine Reihe von schwierigen rechtlichen Zweifels¬ fragen im Gefolge, über die sich viele Dutzende vou Entscheidungen der Ge¬ richte abgelagert haben und noch ablagern werden, so ob der Gläubiger, wenn er zur Schonung des Schuldners nur einen Vollstreckuugsbefehl erwirkt hat, nun noch von neuem ein Urteil eigens zu dem Zweck erwirken kann, die Zwangseintragung der ausgeurteilten Forderung zu erlangen; ob, wenn der Gläubiger mehrere Urteile erstritten hat, von denen keines den Betrag von 300 Mark erreicht, die Zwangseintraguug erfolgen kann, wenn die Gesamt¬ summe der cmsgeurteilteu Ansprüche 300 Mark übersteigt; ob die Zwangs¬ eintragung zulässig ist, wenn die ausgeurteilte Hauptsumme nur unter Hinzu¬ rechnung der festgesetzten Kosten den Betrag von 300 Mark übersteigt; ob zur Vollziehung des Arrestes in ein Grundstück eine Sicheruugshypothck nur für eine den Betrag von 300 Mark übersteigende Forderung eingetragen werden kann; ob eine Vormerkung eingetragen werden kann zur Sicherung des An¬ spruchs auf Eintragung einer Sicherungshypothek, deren Betrag 300 Mark nicht übersteigt? usw. Und alle die Zeit, die die Gerichte und die Rechts¬ wissenschaft solchen sich aus der parlamentarischen Experimentaljurisprudeuz ergebenden Zweifelsfragen über das Eintragnngsverfahren widmen, wird doch schließlich der Erörterung von Fragen des materiellen Rechts entzogen! (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/706>, abgerufen am 25.07.2024.