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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

Endlich griff sie nach dem schon längst bereitgelegten Tuche, warf es in einen
Eimer und schlich mit diesen Werkzeugen der Reinlichkeit leise wie ein Dieb die
Stiegen hinauf. Um den Schein zu wahren, kniete sie, oben angelangt, neben dem
Tische nieder, bearbeitete die Dielen mit dem Tuch und preßte unter Aufbietung
aller Kräfte ein paar Tropfen in den Eimer. Beim Wiederaufstehn warf sie einen
flüchtigen aber desto schärfern Blick in den Krug -- er war bis ans einen kleinen
Rest geleert! Jetzt begannen im Innern Mutter Haßlachers Befriedigung über
den wohlgeglückten Anschlag und Reue über die begangne Tat einen erbitterten
Kampf zu kämpfen. Das Bewußtsein, eine Mörderin -- zwar eine Mörderin aus
Mitleid und christlicher Barmherzigkeit, aber doch eine Mörderin! -- geworden zu
sein, legte sich mit Zentnerschwere auf ihr Herz. Sie wagte kaum nach dem Al¬
koven hinüberzuschauen -- am liebsten wäre sie auf und davon gelaufen, so weit
die alten Füße sie getragen hätten. Aber zuletzt siegte doch die Neugier. In der
sichern Erwartung, Marguerite als Leiche zu sehen, trat die Mörderin aus Mit¬
gefühl an das Krankenbett und erblickte -- ein Wesen mit zartgeröteten Wangen,
das die großen Augen mit dem Ausdruck seliger Befriedigung und rührender
Dankbarkeit auf seine Wohltäterin richtete. Das war für Madame Hnßlacher zu
viel. Sie sank am Bette nieder und schluchzte und preßte den Kopf in die Kissen,
bis ihre stolze Haube, die erst zu Fastnacht frisch gewaschen und kunstvoll getollt
worden war, einer Allegorie auf die Vergänglichkeit alles irdischen Tantes glich.

Erst ein wiederholtes Klingeln der Haustürglocke scheuchte die Wittib aus
ihrer Verzückung auf. Sie stellte den Blumentopf in die Fensternische und eilte
mit Wasserkrug, Eimer und Scheuertuch die Treppe hinunter, entledigte sich, so
schnell es ging, dieser Geräte und öffnete die Tür. Martgny war es, der eintrat.
Er hatte, wie er es allabendlich zu tun pflegte, einen Klub seiner Landsleute be¬
sucht, um Neuigkeiten aus der Heimat zu erfahren, und war in der Nähe der
Hauptwache mit dem Arzte seiner Tochter zusammengetroffen, der ihn mit dürren
Worten über das Hoffnungslose ihres Zustands aufgeklärt hatte.

Er fragte heute die Wirtin nicht, wie er es sonst beim Nachhausekommen tat,
nach dem Befinden der Patientin, sondern stieg schweigend, umflorten Auges, zu
seiner Wohnung empor. Marguerite schlummerte. Da schob der Vater leise den
Sessel um ihr Bett und ließ sich zur Seite der Kranken nieder. Wie er so dasaß,
versunken in den Anblick der Tochter, die ihm sobald genommen werden sollte,
kam ihm erst zum Bewußtsein, was er an ihr gehabt hatte. Eine innere Stimme
sagte ihm, daß er es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn das Verhältnis zwischen
ihm und Marguerite kein besonders herzliches oder auch nur vertrauliches gewesen
war. Er hatte einst mit dem Schicksal gegrollt, weil es ihm den sehnlich erhofften
Sohn versagt hatte, und diesem Groll dadurch Ausdruck verleihen zu müssen ge¬
glaubt, daß er die Tochter, wenn nicht mit Geringschätzung, so doch mit einer Art
von Gleichgiltigkeit behandelte, die dem Mädchen schon früh schmerzlich fühlbar ge¬
worden war. Später, als er sich mit dem Unabänderlichen ausgesöhnt hatte, war
die Entfremdung zwischen Vater und Tochter zu weit vorgeschritten, als daß sie
durch eine gewisse, beinahe galante Zärtlichkeit auf der einen oder durch eine kühle
Gefügigkeit auf der andern Seite hätte aus der Welt geschafft oder auch nur ge¬
mildert werden können. Der alte Herr hatte sich nie die Mühe genommen, seine
Tochter zu versteh", er ahnte auch nicht einmal, daß die Charakterstärke, die für
eine Familieneigenschaft der Marignhs galt, ihm selbst aber durchaus nicht eigen
war, über seinen Kopf hinweg den Sprung vom Großvater auf die Enkelin
gemacht hatte.

Diesem Mädchen hätte er mehr sein müssen. Das war die bittre Erkenntnis,
die, wie ja immer, auch jetzt zu spät kam. Wenn er ihr, ehe sie von ihm ging,
wenigstens noch einen Liebesdienst erweisen könnte! Er zermarterte sein Hirn, um
irgend etwas ausfindig zu machen, wovon er annehmen durfte, daß es ihr Freude
bereiten würde. Einen Augenblick dachte er an Henri, aber nur einen Augenblick.


Der Marquis von Marigny

Endlich griff sie nach dem schon längst bereitgelegten Tuche, warf es in einen
Eimer und schlich mit diesen Werkzeugen der Reinlichkeit leise wie ein Dieb die
Stiegen hinauf. Um den Schein zu wahren, kniete sie, oben angelangt, neben dem
Tische nieder, bearbeitete die Dielen mit dem Tuch und preßte unter Aufbietung
aller Kräfte ein paar Tropfen in den Eimer. Beim Wiederaufstehn warf sie einen
flüchtigen aber desto schärfern Blick in den Krug — er war bis ans einen kleinen
Rest geleert! Jetzt begannen im Innern Mutter Haßlachers Befriedigung über
den wohlgeglückten Anschlag und Reue über die begangne Tat einen erbitterten
Kampf zu kämpfen. Das Bewußtsein, eine Mörderin — zwar eine Mörderin aus
Mitleid und christlicher Barmherzigkeit, aber doch eine Mörderin! — geworden zu
sein, legte sich mit Zentnerschwere auf ihr Herz. Sie wagte kaum nach dem Al¬
koven hinüberzuschauen — am liebsten wäre sie auf und davon gelaufen, so weit
die alten Füße sie getragen hätten. Aber zuletzt siegte doch die Neugier. In der
sichern Erwartung, Marguerite als Leiche zu sehen, trat die Mörderin aus Mit¬
gefühl an das Krankenbett und erblickte — ein Wesen mit zartgeröteten Wangen,
das die großen Augen mit dem Ausdruck seliger Befriedigung und rührender
Dankbarkeit auf seine Wohltäterin richtete. Das war für Madame Hnßlacher zu
viel. Sie sank am Bette nieder und schluchzte und preßte den Kopf in die Kissen,
bis ihre stolze Haube, die erst zu Fastnacht frisch gewaschen und kunstvoll getollt
worden war, einer Allegorie auf die Vergänglichkeit alles irdischen Tantes glich.

Erst ein wiederholtes Klingeln der Haustürglocke scheuchte die Wittib aus
ihrer Verzückung auf. Sie stellte den Blumentopf in die Fensternische und eilte
mit Wasserkrug, Eimer und Scheuertuch die Treppe hinunter, entledigte sich, so
schnell es ging, dieser Geräte und öffnete die Tür. Martgny war es, der eintrat.
Er hatte, wie er es allabendlich zu tun pflegte, einen Klub seiner Landsleute be¬
sucht, um Neuigkeiten aus der Heimat zu erfahren, und war in der Nähe der
Hauptwache mit dem Arzte seiner Tochter zusammengetroffen, der ihn mit dürren
Worten über das Hoffnungslose ihres Zustands aufgeklärt hatte.

Er fragte heute die Wirtin nicht, wie er es sonst beim Nachhausekommen tat,
nach dem Befinden der Patientin, sondern stieg schweigend, umflorten Auges, zu
seiner Wohnung empor. Marguerite schlummerte. Da schob der Vater leise den
Sessel um ihr Bett und ließ sich zur Seite der Kranken nieder. Wie er so dasaß,
versunken in den Anblick der Tochter, die ihm sobald genommen werden sollte,
kam ihm erst zum Bewußtsein, was er an ihr gehabt hatte. Eine innere Stimme
sagte ihm, daß er es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn das Verhältnis zwischen
ihm und Marguerite kein besonders herzliches oder auch nur vertrauliches gewesen
war. Er hatte einst mit dem Schicksal gegrollt, weil es ihm den sehnlich erhofften
Sohn versagt hatte, und diesem Groll dadurch Ausdruck verleihen zu müssen ge¬
glaubt, daß er die Tochter, wenn nicht mit Geringschätzung, so doch mit einer Art
von Gleichgiltigkeit behandelte, die dem Mädchen schon früh schmerzlich fühlbar ge¬
worden war. Später, als er sich mit dem Unabänderlichen ausgesöhnt hatte, war
die Entfremdung zwischen Vater und Tochter zu weit vorgeschritten, als daß sie
durch eine gewisse, beinahe galante Zärtlichkeit auf der einen oder durch eine kühle
Gefügigkeit auf der andern Seite hätte aus der Welt geschafft oder auch nur ge¬
mildert werden können. Der alte Herr hatte sich nie die Mühe genommen, seine
Tochter zu versteh», er ahnte auch nicht einmal, daß die Charakterstärke, die für
eine Familieneigenschaft der Marignhs galt, ihm selbst aber durchaus nicht eigen
war, über seinen Kopf hinweg den Sprung vom Großvater auf die Enkelin
gemacht hatte.

Diesem Mädchen hätte er mehr sein müssen. Das war die bittre Erkenntnis,
die, wie ja immer, auch jetzt zu spät kam. Wenn er ihr, ehe sie von ihm ging,
wenigstens noch einen Liebesdienst erweisen könnte! Er zermarterte sein Hirn, um
irgend etwas ausfindig zu machen, wovon er annehmen durfte, daß es ihr Freude
bereiten würde. Einen Augenblick dachte er an Henri, aber nur einen Augenblick.


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[0682] Der Marquis von Marigny Endlich griff sie nach dem schon längst bereitgelegten Tuche, warf es in einen Eimer und schlich mit diesen Werkzeugen der Reinlichkeit leise wie ein Dieb die Stiegen hinauf. Um den Schein zu wahren, kniete sie, oben angelangt, neben dem Tische nieder, bearbeitete die Dielen mit dem Tuch und preßte unter Aufbietung aller Kräfte ein paar Tropfen in den Eimer. Beim Wiederaufstehn warf sie einen flüchtigen aber desto schärfern Blick in den Krug — er war bis ans einen kleinen Rest geleert! Jetzt begannen im Innern Mutter Haßlachers Befriedigung über den wohlgeglückten Anschlag und Reue über die begangne Tat einen erbitterten Kampf zu kämpfen. Das Bewußtsein, eine Mörderin — zwar eine Mörderin aus Mitleid und christlicher Barmherzigkeit, aber doch eine Mörderin! — geworden zu sein, legte sich mit Zentnerschwere auf ihr Herz. Sie wagte kaum nach dem Al¬ koven hinüberzuschauen — am liebsten wäre sie auf und davon gelaufen, so weit die alten Füße sie getragen hätten. Aber zuletzt siegte doch die Neugier. In der sichern Erwartung, Marguerite als Leiche zu sehen, trat die Mörderin aus Mit¬ gefühl an das Krankenbett und erblickte — ein Wesen mit zartgeröteten Wangen, das die großen Augen mit dem Ausdruck seliger Befriedigung und rührender Dankbarkeit auf seine Wohltäterin richtete. Das war für Madame Hnßlacher zu viel. Sie sank am Bette nieder und schluchzte und preßte den Kopf in die Kissen, bis ihre stolze Haube, die erst zu Fastnacht frisch gewaschen und kunstvoll getollt worden war, einer Allegorie auf die Vergänglichkeit alles irdischen Tantes glich. Erst ein wiederholtes Klingeln der Haustürglocke scheuchte die Wittib aus ihrer Verzückung auf. Sie stellte den Blumentopf in die Fensternische und eilte mit Wasserkrug, Eimer und Scheuertuch die Treppe hinunter, entledigte sich, so schnell es ging, dieser Geräte und öffnete die Tür. Martgny war es, der eintrat. Er hatte, wie er es allabendlich zu tun pflegte, einen Klub seiner Landsleute be¬ sucht, um Neuigkeiten aus der Heimat zu erfahren, und war in der Nähe der Hauptwache mit dem Arzte seiner Tochter zusammengetroffen, der ihn mit dürren Worten über das Hoffnungslose ihres Zustands aufgeklärt hatte. Er fragte heute die Wirtin nicht, wie er es sonst beim Nachhausekommen tat, nach dem Befinden der Patientin, sondern stieg schweigend, umflorten Auges, zu seiner Wohnung empor. Marguerite schlummerte. Da schob der Vater leise den Sessel um ihr Bett und ließ sich zur Seite der Kranken nieder. Wie er so dasaß, versunken in den Anblick der Tochter, die ihm sobald genommen werden sollte, kam ihm erst zum Bewußtsein, was er an ihr gehabt hatte. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn das Verhältnis zwischen ihm und Marguerite kein besonders herzliches oder auch nur vertrauliches gewesen war. Er hatte einst mit dem Schicksal gegrollt, weil es ihm den sehnlich erhofften Sohn versagt hatte, und diesem Groll dadurch Ausdruck verleihen zu müssen ge¬ glaubt, daß er die Tochter, wenn nicht mit Geringschätzung, so doch mit einer Art von Gleichgiltigkeit behandelte, die dem Mädchen schon früh schmerzlich fühlbar ge¬ worden war. Später, als er sich mit dem Unabänderlichen ausgesöhnt hatte, war die Entfremdung zwischen Vater und Tochter zu weit vorgeschritten, als daß sie durch eine gewisse, beinahe galante Zärtlichkeit auf der einen oder durch eine kühle Gefügigkeit auf der andern Seite hätte aus der Welt geschafft oder auch nur ge¬ mildert werden können. Der alte Herr hatte sich nie die Mühe genommen, seine Tochter zu versteh», er ahnte auch nicht einmal, daß die Charakterstärke, die für eine Familieneigenschaft der Marignhs galt, ihm selbst aber durchaus nicht eigen war, über seinen Kopf hinweg den Sprung vom Großvater auf die Enkelin gemacht hatte. Diesem Mädchen hätte er mehr sein müssen. Das war die bittre Erkenntnis, die, wie ja immer, auch jetzt zu spät kam. Wenn er ihr, ehe sie von ihm ging, wenigstens noch einen Liebesdienst erweisen könnte! Er zermarterte sein Hirn, um irgend etwas ausfindig zu machen, wovon er annehmen durfte, daß es ihr Freude bereiten würde. Einen Augenblick dachte er an Henri, aber nur einen Augenblick.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/682>, abgerufen am 27.07.2024.