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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

wieder an seinen Platz geschoben und auf dem Tisch Ordnung gemacht hatte, so um
die Seite des Alkovens gestellt, das? sie, hinter den Gardinen verborgen, Marguerite
beobachten konnte, ohne von dieser bemerkt zu werden. Sie sah, wie sich die blut¬
losen, trocknen Lippen der Kranken bewegten, und wie die weißen Hände sich von
Zeit zu Zeit auf das Herz preßten. Und das Mitleid mit dem zarten jungen
Mädchen, das so früh sterben mußte, übermannte sie vollends.

Keine acht Tage mehr leben und dabei solche Pein nusstehu! flüsterte sie vor
sich hin. Ob ichs wohl tu? Ein Glas Wasser, sagte der Doktor, würde den Tod
beschleunigen. Aber weshalb soll sie so leiden, wenn es doch mit ihr zu Ende
geht? Das kann kein Christenmensch mit ansehen. Aber die Gerichte? Könnt
sein, daß einer käm und wollt behaupten, die Haßlacherin hätte der Demoiselle um
die Ecke geholfen. Fein schlau sein, fein schlau sein! Wär ein böser Lohn für so
ein Werk der Barmherzigkeit, wenn ich alte Frnn noch für die paar Jährchen, die
ich zu leben hab, in den Turm müßt.

Ein schmerzliches Stöhnen hinter der Gardine machte dem Selbstgespräche der
Alten ein Ende. Sie blinzelte nach dem Alkoven und sagte mit halblauter Stimme:
Sie hat nach Blumen verlangt, das arme Fräulein, nach Reseden und Balsaminen.
Für die ist jetzt freilich nicht die rechte Zeit, aber was Grünes, dacht ich, kath auch
schou. El, dn fällt mir ein, wozu hab ich den schönen Rosengeraniumstock, den mir
die Fran Stadtschreiber als Präsent zum Namenstag verehrt hat? Blüten sind
zwar längst nicht mehr dran, aber dafür duften die Blätter um so feiner. Sie
eilte weg und kehrte nach wenig Augenblicken mit einem mächtigen Blumentopfe
zurück, den sie mitten ans den Tisch stellte. Die dünnen Zweiglein der starkriechenden
Pflanze waren an ein lackiertes Holzgitter aufgebunden, gegen dessen leuchtendes
Rot sich die blaßgrünen Blättchen auf das schönste abhoben.

Marguerite, die sonst meist teilnahmlos dalag, schien den Topf mit einigem
Interesse zu betrachten. Ob der starke Duft ihre Sinne anregte, oder ob die Farben-
zusammenstellung ihrem Ange wohltat -- genug, sie wandte sich auf die Seite und suchte
die Gardinen noch weiter zurückzuschieben. Mutter Haßlacher bemerkte dies mit Genug¬
tuung. Sie gab sich den Anschein, als ob sie die Pflanze einer sorgfältigen Besich¬
tigung unterzöge, und prüfte mit bohrenden Finger, ob die Erde auch noch genügend
feucht sei. Das Ergebnis der Untersuchung schien sie nicht zu befriedigen.

Staubtrocken! sagte sie, wenn das die Fran Stadtschreiber wüßt, daß ihr Ge-
raniumstöcklein bei niir Durst litte.

Und wieder raunte sie weg und kehrte diesesmal mit einem wohlgefüllten
Wasserkrug ans Grenzhauseuer Steinzeug wieder zurück, aus dem sie vor den
lüsternen Augen der Kranken einen gehörigen Guß auf die Erde des Blumentopfes
gab. Sie wartete, bis das kühle Naß aufgesogen worden war, und füllte noch
einmal nach -- so gründlich, daß das Wasser unter am Topfe glucksend wieder
zum Vorschein kam, auf der Tischplatte eiuen blanken See bildete und sich endlich
in schnellem Tropfenfall ans die Dielen ergoß.

Nun stellte sich die gute Alte, als ob sie dieses Phänomen zum allerersten
Wal wahrnähme, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und verwünschte ihren
Leichtsinn, der in dem so sauber gehaltnen Gemach eine solche Wassernot herauf¬
beschworen habe. Und als sie jetzt verschwand, um ein Scheuertuch zu holen, be¬
lehrte sie noch ein letzter Blick nach dem Alkoven, daß sich Marguerite ein wenig
aufrichtete, und daß zugleich ein schmaler Fuß unter der Bettdecke sichtbar wurde.

Wenn Madame Haßlacher wirklich die Absicht hegte, das frcigewvrdne Ele¬
ment wieder einzufangen, so hatte es betnahe den Anschein, als wolle sie abwarten,
sich das Wasser durch Diele und Zimmerdecke zu ihr hinunterbemühe. Aber
das war keineswegs der Fall, sie dachte auch viel weniger an das Wasser, das sich
durch die Fugen dort oben seinen Weg in die Tiefe suchte, als an das Wasser,
das droben auf dem Tische noch in dem Steinkrnge stand oder vielmehr bei ihrem
Weggange dort gestanden hatte.


Der Marquis von Marigny

wieder an seinen Platz geschoben und auf dem Tisch Ordnung gemacht hatte, so um
die Seite des Alkovens gestellt, das? sie, hinter den Gardinen verborgen, Marguerite
beobachten konnte, ohne von dieser bemerkt zu werden. Sie sah, wie sich die blut¬
losen, trocknen Lippen der Kranken bewegten, und wie die weißen Hände sich von
Zeit zu Zeit auf das Herz preßten. Und das Mitleid mit dem zarten jungen
Mädchen, das so früh sterben mußte, übermannte sie vollends.

Keine acht Tage mehr leben und dabei solche Pein nusstehu! flüsterte sie vor
sich hin. Ob ichs wohl tu? Ein Glas Wasser, sagte der Doktor, würde den Tod
beschleunigen. Aber weshalb soll sie so leiden, wenn es doch mit ihr zu Ende
geht? Das kann kein Christenmensch mit ansehen. Aber die Gerichte? Könnt
sein, daß einer käm und wollt behaupten, die Haßlacherin hätte der Demoiselle um
die Ecke geholfen. Fein schlau sein, fein schlau sein! Wär ein böser Lohn für so
ein Werk der Barmherzigkeit, wenn ich alte Frnn noch für die paar Jährchen, die
ich zu leben hab, in den Turm müßt.

Ein schmerzliches Stöhnen hinter der Gardine machte dem Selbstgespräche der
Alten ein Ende. Sie blinzelte nach dem Alkoven und sagte mit halblauter Stimme:
Sie hat nach Blumen verlangt, das arme Fräulein, nach Reseden und Balsaminen.
Für die ist jetzt freilich nicht die rechte Zeit, aber was Grünes, dacht ich, kath auch
schou. El, dn fällt mir ein, wozu hab ich den schönen Rosengeraniumstock, den mir
die Fran Stadtschreiber als Präsent zum Namenstag verehrt hat? Blüten sind
zwar längst nicht mehr dran, aber dafür duften die Blätter um so feiner. Sie
eilte weg und kehrte nach wenig Augenblicken mit einem mächtigen Blumentopfe
zurück, den sie mitten ans den Tisch stellte. Die dünnen Zweiglein der starkriechenden
Pflanze waren an ein lackiertes Holzgitter aufgebunden, gegen dessen leuchtendes
Rot sich die blaßgrünen Blättchen auf das schönste abhoben.

Marguerite, die sonst meist teilnahmlos dalag, schien den Topf mit einigem
Interesse zu betrachten. Ob der starke Duft ihre Sinne anregte, oder ob die Farben-
zusammenstellung ihrem Ange wohltat — genug, sie wandte sich auf die Seite und suchte
die Gardinen noch weiter zurückzuschieben. Mutter Haßlacher bemerkte dies mit Genug¬
tuung. Sie gab sich den Anschein, als ob sie die Pflanze einer sorgfältigen Besich¬
tigung unterzöge, und prüfte mit bohrenden Finger, ob die Erde auch noch genügend
feucht sei. Das Ergebnis der Untersuchung schien sie nicht zu befriedigen.

Staubtrocken! sagte sie, wenn das die Fran Stadtschreiber wüßt, daß ihr Ge-
raniumstöcklein bei niir Durst litte.

Und wieder raunte sie weg und kehrte diesesmal mit einem wohlgefüllten
Wasserkrug ans Grenzhauseuer Steinzeug wieder zurück, aus dem sie vor den
lüsternen Augen der Kranken einen gehörigen Guß auf die Erde des Blumentopfes
gab. Sie wartete, bis das kühle Naß aufgesogen worden war, und füllte noch
einmal nach — so gründlich, daß das Wasser unter am Topfe glucksend wieder
zum Vorschein kam, auf der Tischplatte eiuen blanken See bildete und sich endlich
in schnellem Tropfenfall ans die Dielen ergoß.

Nun stellte sich die gute Alte, als ob sie dieses Phänomen zum allerersten
Wal wahrnähme, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und verwünschte ihren
Leichtsinn, der in dem so sauber gehaltnen Gemach eine solche Wassernot herauf¬
beschworen habe. Und als sie jetzt verschwand, um ein Scheuertuch zu holen, be¬
lehrte sie noch ein letzter Blick nach dem Alkoven, daß sich Marguerite ein wenig
aufrichtete, und daß zugleich ein schmaler Fuß unter der Bettdecke sichtbar wurde.

Wenn Madame Haßlacher wirklich die Absicht hegte, das frcigewvrdne Ele¬
ment wieder einzufangen, so hatte es betnahe den Anschein, als wolle sie abwarten,
sich das Wasser durch Diele und Zimmerdecke zu ihr hinunterbemühe. Aber
das war keineswegs der Fall, sie dachte auch viel weniger an das Wasser, das sich
durch die Fugen dort oben seinen Weg in die Tiefe suchte, als an das Wasser,
das droben auf dem Tische noch in dem Steinkrnge stand oder vielmehr bei ihrem
Weggange dort gestanden hatte.


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[0681] Der Marquis von Marigny wieder an seinen Platz geschoben und auf dem Tisch Ordnung gemacht hatte, so um die Seite des Alkovens gestellt, das? sie, hinter den Gardinen verborgen, Marguerite beobachten konnte, ohne von dieser bemerkt zu werden. Sie sah, wie sich die blut¬ losen, trocknen Lippen der Kranken bewegten, und wie die weißen Hände sich von Zeit zu Zeit auf das Herz preßten. Und das Mitleid mit dem zarten jungen Mädchen, das so früh sterben mußte, übermannte sie vollends. Keine acht Tage mehr leben und dabei solche Pein nusstehu! flüsterte sie vor sich hin. Ob ichs wohl tu? Ein Glas Wasser, sagte der Doktor, würde den Tod beschleunigen. Aber weshalb soll sie so leiden, wenn es doch mit ihr zu Ende geht? Das kann kein Christenmensch mit ansehen. Aber die Gerichte? Könnt sein, daß einer käm und wollt behaupten, die Haßlacherin hätte der Demoiselle um die Ecke geholfen. Fein schlau sein, fein schlau sein! Wär ein böser Lohn für so ein Werk der Barmherzigkeit, wenn ich alte Frnn noch für die paar Jährchen, die ich zu leben hab, in den Turm müßt. Ein schmerzliches Stöhnen hinter der Gardine machte dem Selbstgespräche der Alten ein Ende. Sie blinzelte nach dem Alkoven und sagte mit halblauter Stimme: Sie hat nach Blumen verlangt, das arme Fräulein, nach Reseden und Balsaminen. Für die ist jetzt freilich nicht die rechte Zeit, aber was Grünes, dacht ich, kath auch schou. El, dn fällt mir ein, wozu hab ich den schönen Rosengeraniumstock, den mir die Fran Stadtschreiber als Präsent zum Namenstag verehrt hat? Blüten sind zwar längst nicht mehr dran, aber dafür duften die Blätter um so feiner. Sie eilte weg und kehrte nach wenig Augenblicken mit einem mächtigen Blumentopfe zurück, den sie mitten ans den Tisch stellte. Die dünnen Zweiglein der starkriechenden Pflanze waren an ein lackiertes Holzgitter aufgebunden, gegen dessen leuchtendes Rot sich die blaßgrünen Blättchen auf das schönste abhoben. Marguerite, die sonst meist teilnahmlos dalag, schien den Topf mit einigem Interesse zu betrachten. Ob der starke Duft ihre Sinne anregte, oder ob die Farben- zusammenstellung ihrem Ange wohltat — genug, sie wandte sich auf die Seite und suchte die Gardinen noch weiter zurückzuschieben. Mutter Haßlacher bemerkte dies mit Genug¬ tuung. Sie gab sich den Anschein, als ob sie die Pflanze einer sorgfältigen Besich¬ tigung unterzöge, und prüfte mit bohrenden Finger, ob die Erde auch noch genügend feucht sei. Das Ergebnis der Untersuchung schien sie nicht zu befriedigen. Staubtrocken! sagte sie, wenn das die Fran Stadtschreiber wüßt, daß ihr Ge- raniumstöcklein bei niir Durst litte. Und wieder raunte sie weg und kehrte diesesmal mit einem wohlgefüllten Wasserkrug ans Grenzhauseuer Steinzeug wieder zurück, aus dem sie vor den lüsternen Augen der Kranken einen gehörigen Guß auf die Erde des Blumentopfes gab. Sie wartete, bis das kühle Naß aufgesogen worden war, und füllte noch einmal nach — so gründlich, daß das Wasser unter am Topfe glucksend wieder zum Vorschein kam, auf der Tischplatte eiuen blanken See bildete und sich endlich in schnellem Tropfenfall ans die Dielen ergoß. Nun stellte sich die gute Alte, als ob sie dieses Phänomen zum allerersten Wal wahrnähme, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und verwünschte ihren Leichtsinn, der in dem so sauber gehaltnen Gemach eine solche Wassernot herauf¬ beschworen habe. Und als sie jetzt verschwand, um ein Scheuertuch zu holen, be¬ lehrte sie noch ein letzter Blick nach dem Alkoven, daß sich Marguerite ein wenig aufrichtete, und daß zugleich ein schmaler Fuß unter der Bettdecke sichtbar wurde. Wenn Madame Haßlacher wirklich die Absicht hegte, das frcigewvrdne Ele¬ ment wieder einzufangen, so hatte es betnahe den Anschein, als wolle sie abwarten, sich das Wasser durch Diele und Zimmerdecke zu ihr hinunterbemühe. Aber das war keineswegs der Fall, sie dachte auch viel weniger an das Wasser, das sich durch die Fugen dort oben seinen Weg in die Tiefe suchte, als an das Wasser, das droben auf dem Tische noch in dem Steinkrnge stand oder vielmehr bei ihrem Weggange dort gestanden hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/681>, abgerufen am 28.07.2024.