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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

Erwarten schnell nachkam. Dann steckte er den Hirschfänger wieder in die Scheide,
mit der gravitätischen Bewegung etwa, wie sie den römischen Feldherren der Oper
eigen ist, wenn die besiegten Feinde, um Gnade bittend, zu ihren Füßen liegen.
Aber er hatte übersehen, daß er kein siegreicher Feldherr, und daß Villeroi kein
gedemütigter Feind war. Seine Absicht, in einer wohlgesetzten Rede Amnestie zu
proklamieren, wurde durch den Gegner selbst vereitelt.

Henri warf ihm nämlich die halbe Degenklinge mit höhnischem Lachen vor
die Füße, wandte sich auf dem Absätze um, griff nach seinem Hute und schritt zur
Tür. Aber Marguerite, von dem Gedanken beseelt, sie müsse verhüten, daß der
Bruch zwischen dem Vater und dem Geliebten unheilbar würde, was bei dem
Starrsinn der beiden Männer sicherlich eintreten werde, wenn sie sich jetzt unver¬
söhnt trennten, versuchte Villeroi zurückzuhalten, indem sie ihn mit ihren Armen
umklammerte und ihn bat, noch eine Minute -- ihr zuliebe -- zu bleiben.

Der junge Edelmann leistete nur geringen Widerstand, er mochte selbst ein¬
sehen, was für Folgen der beabsichtigte Schritt haben müsse, und es hätte nicht
viel gefehlt, so wäre er in seinem Entschlüsse, das Gemach ohne Gruß zu ver¬
lassen, wankend geworden. Aber das Schicksal schien nun einmal beschlossen zu
haben, eine endgiltige Entfremdung zwischen zwei Menschen, die sich jahrelang
herzlich zugetan gewesen waren, herbeizuführen.

Der Marquis sah in diesem Augenblicke nichts als das bekümmerte Antlitz
selner Tochter. Da kam ihm zum Bewußtsein, daß der Mann dort, der ihn eben
noch mit der blanken Waffe bedroht, ihm auch das Teuerste, was er gehabt hatte,
das Vertrauen und die kindliche Liebe Marguerites, geraubt habe.

Um den Wehrlosen zu retten, war das kühle, stolze Mädchen, das bis zu
dieser Stunde noch niemals eine Bitte ausgesprochen hatte, mit erhobnen Händen
auf die Kniee gesunken! Ihm, dem Freunde, nicht dem Vater, galt ihre Sorge;
die Angst, ihn verlieren zu können, trieb sie von einer Selbsterniedrigung zur
andern. Das war mehr als freundschaftliche Zuneigung, das war auch mehr als '
eine flüchtige Laune des Herzens, das war die Liebe selbst, die vor keiner irdischen
Schranke zurückschreckt, die Entbehrung und Elend nicht scheut und Schande und
Tod nicht fürchtet.

Und zu der Abneigung gegen den politischen Ketzer, zu dem Haß gegen den
Mann, der sich zwischen ihn und seine Tochter gedrängt hatte, gesellte sich in
Marignys Jnnern noch der alte Familienhochmut seines Hauses, das seit Menschen¬
gedenken mit mühsam verhehlter Verachtung auf die armen Nachbarn hinabgeschaut
hatte. Dieses ewig mit dem Hunger kämpfenden verabschiedeten Offiziers wegen
sollten die Luftschlösser in Trümmer sinken, die sich der Marquis in stillen Stunden
erbaut hatte -- jetzt, wo er sich der Verwirklichung seiner Hoffnungen näher als
je gewähnt hatte! Was nützte es nun, daß tagtäglich die Söhne der erlauchtesten
Geschlechter Frankreichs eintrafen, daß an der Wirtstafel in den "Drei Reichs¬
kronen" nie weniger als fünf Herzöge, zweiundzwanzig Grase" und an die dreißig
Marquis saßen, wenn die unselige Liebe zu Villeroi in Marguerites Herz jede
Spur vou Ehrgeiz erstickt hatte?

Aber gottlob! So weit war es doch noch nicht gekommen! Noch konnte der
Vater ein Machtwort sprechen. Wenn in dieser tollen Zeit auch unglaubliche Dinge
geschah", wenn Minister ihren König, Kinder ihre Eltern, Diener ihre Herren ver¬
rieten, er, der Marquis von Marigny, durfte des Gehorsams seiner Tochter gewiß
sein. Die frommen Schwestern von Sainte-Madeleine standen nicht umsonst in
dem Rufe, den eignen Willen in den Seelen ihrer Zöglinge zu töten und gefügige
Töchter heranzubilden. Bei Marguerite konnte es sich nur um einen Rückfall in
den Trotz der Kinderjahre handeln, aber diesen Trotz wollte der Vater schon zu
bezwingen wissen. Es würde ohne einige Tränen nicht abgehn, das ließ sich natür¬
lich nicht vermeiden, jedoch der Marquis entsann sich, daß solche Tränen schnell zu
versiegen pflegten.


Der Marquis von Marigny

Erwarten schnell nachkam. Dann steckte er den Hirschfänger wieder in die Scheide,
mit der gravitätischen Bewegung etwa, wie sie den römischen Feldherren der Oper
eigen ist, wenn die besiegten Feinde, um Gnade bittend, zu ihren Füßen liegen.
Aber er hatte übersehen, daß er kein siegreicher Feldherr, und daß Villeroi kein
gedemütigter Feind war. Seine Absicht, in einer wohlgesetzten Rede Amnestie zu
proklamieren, wurde durch den Gegner selbst vereitelt.

Henri warf ihm nämlich die halbe Degenklinge mit höhnischem Lachen vor
die Füße, wandte sich auf dem Absätze um, griff nach seinem Hute und schritt zur
Tür. Aber Marguerite, von dem Gedanken beseelt, sie müsse verhüten, daß der
Bruch zwischen dem Vater und dem Geliebten unheilbar würde, was bei dem
Starrsinn der beiden Männer sicherlich eintreten werde, wenn sie sich jetzt unver¬
söhnt trennten, versuchte Villeroi zurückzuhalten, indem sie ihn mit ihren Armen
umklammerte und ihn bat, noch eine Minute — ihr zuliebe — zu bleiben.

Der junge Edelmann leistete nur geringen Widerstand, er mochte selbst ein¬
sehen, was für Folgen der beabsichtigte Schritt haben müsse, und es hätte nicht
viel gefehlt, so wäre er in seinem Entschlüsse, das Gemach ohne Gruß zu ver¬
lassen, wankend geworden. Aber das Schicksal schien nun einmal beschlossen zu
haben, eine endgiltige Entfremdung zwischen zwei Menschen, die sich jahrelang
herzlich zugetan gewesen waren, herbeizuführen.

Der Marquis sah in diesem Augenblicke nichts als das bekümmerte Antlitz
selner Tochter. Da kam ihm zum Bewußtsein, daß der Mann dort, der ihn eben
noch mit der blanken Waffe bedroht, ihm auch das Teuerste, was er gehabt hatte,
das Vertrauen und die kindliche Liebe Marguerites, geraubt habe.

Um den Wehrlosen zu retten, war das kühle, stolze Mädchen, das bis zu
dieser Stunde noch niemals eine Bitte ausgesprochen hatte, mit erhobnen Händen
auf die Kniee gesunken! Ihm, dem Freunde, nicht dem Vater, galt ihre Sorge;
die Angst, ihn verlieren zu können, trieb sie von einer Selbsterniedrigung zur
andern. Das war mehr als freundschaftliche Zuneigung, das war auch mehr als '
eine flüchtige Laune des Herzens, das war die Liebe selbst, die vor keiner irdischen
Schranke zurückschreckt, die Entbehrung und Elend nicht scheut und Schande und
Tod nicht fürchtet.

Und zu der Abneigung gegen den politischen Ketzer, zu dem Haß gegen den
Mann, der sich zwischen ihn und seine Tochter gedrängt hatte, gesellte sich in
Marignys Jnnern noch der alte Familienhochmut seines Hauses, das seit Menschen¬
gedenken mit mühsam verhehlter Verachtung auf die armen Nachbarn hinabgeschaut
hatte. Dieses ewig mit dem Hunger kämpfenden verabschiedeten Offiziers wegen
sollten die Luftschlösser in Trümmer sinken, die sich der Marquis in stillen Stunden
erbaut hatte — jetzt, wo er sich der Verwirklichung seiner Hoffnungen näher als
je gewähnt hatte! Was nützte es nun, daß tagtäglich die Söhne der erlauchtesten
Geschlechter Frankreichs eintrafen, daß an der Wirtstafel in den „Drei Reichs¬
kronen" nie weniger als fünf Herzöge, zweiundzwanzig Grase» und an die dreißig
Marquis saßen, wenn die unselige Liebe zu Villeroi in Marguerites Herz jede
Spur vou Ehrgeiz erstickt hatte?

Aber gottlob! So weit war es doch noch nicht gekommen! Noch konnte der
Vater ein Machtwort sprechen. Wenn in dieser tollen Zeit auch unglaubliche Dinge
geschah«, wenn Minister ihren König, Kinder ihre Eltern, Diener ihre Herren ver¬
rieten, er, der Marquis von Marigny, durfte des Gehorsams seiner Tochter gewiß
sein. Die frommen Schwestern von Sainte-Madeleine standen nicht umsonst in
dem Rufe, den eignen Willen in den Seelen ihrer Zöglinge zu töten und gefügige
Töchter heranzubilden. Bei Marguerite konnte es sich nur um einen Rückfall in
den Trotz der Kinderjahre handeln, aber diesen Trotz wollte der Vater schon zu
bezwingen wissen. Es würde ohne einige Tränen nicht abgehn, das ließ sich natür¬
lich nicht vermeiden, jedoch der Marquis entsann sich, daß solche Tränen schnell zu
versiegen pflegten.


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[0618] Der Marquis von Marigny Erwarten schnell nachkam. Dann steckte er den Hirschfänger wieder in die Scheide, mit der gravitätischen Bewegung etwa, wie sie den römischen Feldherren der Oper eigen ist, wenn die besiegten Feinde, um Gnade bittend, zu ihren Füßen liegen. Aber er hatte übersehen, daß er kein siegreicher Feldherr, und daß Villeroi kein gedemütigter Feind war. Seine Absicht, in einer wohlgesetzten Rede Amnestie zu proklamieren, wurde durch den Gegner selbst vereitelt. Henri warf ihm nämlich die halbe Degenklinge mit höhnischem Lachen vor die Füße, wandte sich auf dem Absätze um, griff nach seinem Hute und schritt zur Tür. Aber Marguerite, von dem Gedanken beseelt, sie müsse verhüten, daß der Bruch zwischen dem Vater und dem Geliebten unheilbar würde, was bei dem Starrsinn der beiden Männer sicherlich eintreten werde, wenn sie sich jetzt unver¬ söhnt trennten, versuchte Villeroi zurückzuhalten, indem sie ihn mit ihren Armen umklammerte und ihn bat, noch eine Minute — ihr zuliebe — zu bleiben. Der junge Edelmann leistete nur geringen Widerstand, er mochte selbst ein¬ sehen, was für Folgen der beabsichtigte Schritt haben müsse, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er in seinem Entschlüsse, das Gemach ohne Gruß zu ver¬ lassen, wankend geworden. Aber das Schicksal schien nun einmal beschlossen zu haben, eine endgiltige Entfremdung zwischen zwei Menschen, die sich jahrelang herzlich zugetan gewesen waren, herbeizuführen. Der Marquis sah in diesem Augenblicke nichts als das bekümmerte Antlitz selner Tochter. Da kam ihm zum Bewußtsein, daß der Mann dort, der ihn eben noch mit der blanken Waffe bedroht, ihm auch das Teuerste, was er gehabt hatte, das Vertrauen und die kindliche Liebe Marguerites, geraubt habe. Um den Wehrlosen zu retten, war das kühle, stolze Mädchen, das bis zu dieser Stunde noch niemals eine Bitte ausgesprochen hatte, mit erhobnen Händen auf die Kniee gesunken! Ihm, dem Freunde, nicht dem Vater, galt ihre Sorge; die Angst, ihn verlieren zu können, trieb sie von einer Selbsterniedrigung zur andern. Das war mehr als freundschaftliche Zuneigung, das war auch mehr als ' eine flüchtige Laune des Herzens, das war die Liebe selbst, die vor keiner irdischen Schranke zurückschreckt, die Entbehrung und Elend nicht scheut und Schande und Tod nicht fürchtet. Und zu der Abneigung gegen den politischen Ketzer, zu dem Haß gegen den Mann, der sich zwischen ihn und seine Tochter gedrängt hatte, gesellte sich in Marignys Jnnern noch der alte Familienhochmut seines Hauses, das seit Menschen¬ gedenken mit mühsam verhehlter Verachtung auf die armen Nachbarn hinabgeschaut hatte. Dieses ewig mit dem Hunger kämpfenden verabschiedeten Offiziers wegen sollten die Luftschlösser in Trümmer sinken, die sich der Marquis in stillen Stunden erbaut hatte — jetzt, wo er sich der Verwirklichung seiner Hoffnungen näher als je gewähnt hatte! Was nützte es nun, daß tagtäglich die Söhne der erlauchtesten Geschlechter Frankreichs eintrafen, daß an der Wirtstafel in den „Drei Reichs¬ kronen" nie weniger als fünf Herzöge, zweiundzwanzig Grase» und an die dreißig Marquis saßen, wenn die unselige Liebe zu Villeroi in Marguerites Herz jede Spur vou Ehrgeiz erstickt hatte? Aber gottlob! So weit war es doch noch nicht gekommen! Noch konnte der Vater ein Machtwort sprechen. Wenn in dieser tollen Zeit auch unglaubliche Dinge geschah«, wenn Minister ihren König, Kinder ihre Eltern, Diener ihre Herren ver¬ rieten, er, der Marquis von Marigny, durfte des Gehorsams seiner Tochter gewiß sein. Die frommen Schwestern von Sainte-Madeleine standen nicht umsonst in dem Rufe, den eignen Willen in den Seelen ihrer Zöglinge zu töten und gefügige Töchter heranzubilden. Bei Marguerite konnte es sich nur um einen Rückfall in den Trotz der Kinderjahre handeln, aber diesen Trotz wollte der Vater schon zu bezwingen wissen. Es würde ohne einige Tränen nicht abgehn, das ließ sich natür¬ lich nicht vermeiden, jedoch der Marquis entsann sich, daß solche Tränen schnell zu versiegen pflegten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/618>, abgerufen am 23.07.2024.