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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Der Marquis von lNarigny

freilich nie in Erfüllung, Mutter Haßlacher blieb wie die Hesperiden im alleinigen
und unbestrittnen Besitz ihrer Wunderäpfel und segnete ihren Seligen dafür, daß
er bei seinen Lebzeiten weder Mühe noch Kosten gescheut hatte, so edle Sorten zu
beschaffen.

Pietätvoll sorgte sie dafür, daß auch die blechernen Nmnensschildchen, der
Stolz ihres Gatten, genau so erhalten blieben, wie er sie selbst an jedem Baume
befestigt hatte, obgleich sie sich schon etliche mal genötigt gesehen hatte, die Ortho¬
graphie der Aufschriften gegen kritische Einwendungen junger Besucher in Schutz
zu nehmen. Er habe so lange in den Niederlanden gelebt, pflegte sie zu sagen,
daß ihm sein Deutsch ein wenig abhanden gekommen gewesen sei. Übrigens
sei ihr Seliger ein Künstler gewesen, und solche hätten es von alters her mit dem
schriftlichen nie so genau genommen. Bei diesem Argument schwiegen die jungen
Kritiker gewöhnlich, denn seit man unter dem Krummstabe des milden Clemens
Wenzeslaus lebte und das neue Residenzschloß hatte entstehn sehen, empfanden sogar
die Stiftsschüler vor allem, was mit der Kunst zusammenhing, eine gewaltige Hoch¬
achtung. Wer freilich nachträglich noch mehr über Herrn Haßlachers Künstlerlauf¬
bahn erfahren wollte und sich bei Erwachsenen, die ihn persönlich gekannt hatten,
nach den nähern Umstanden erkundigte, wurde meist gehörig enttäuscht, denn man
sagte ihm, daß der Eheherr der freundlichen Wittib ein ganz gewöhnlicher Schilder¬
maler gewesen sei, der auf der Wanderschaft allerdings bis Nimwegen vorgedrungen
wäre, sich in dieser Stadt aber im besten Falle einen halben Sommer lang auf¬
gehalten habe.

Seit Herr Haßlacher das Zeitliche gesegnet hatte -- er war in einer schwülen
Sommernacht, da er nach den Anstrengungen des großen Vogelschießens auf der
Moselbrücke Erfrischung suchte, in den Fluß gefallen und eines schnellen und un-
bußfertigen Todes verblichen --, stand seine Werkstatt leer. Die Wittib konnte
sich, wie sie sagte, nicht entschließen, das "Atelier" und die beiden damit verbundnen
Kammern zu Wohnzwecken zu benutzen, es würde ihr, meinte sie, wie die Ent¬
weihung eines Heiligtums vorkommen, wenn sie mit ihrer Kaffeekanne und ihrem
Klöppelkissen in die Räume zöge, wo ihr Seliger rin Pinsel und Palette hantiert
habe. In Wirklichkeit stieß sie sich daran, daß das Gemach, wenn es einigermaßen
behaglich werden sollte, die nachdrücklichste Heizung verlangte, und daß man von
seinen Fenstern aus nur die Aussicht auf die benachbarten Dächer genoß, von der
Straße und ihrem Verkehr aber nicht das Geringste wahrnahm. So wurde denn
das "Atelier" teils aus Pietät teils aus praktische" Erwägungen den Äpfeln ein¬
geräumt, die sich freilich keinen trocknem und lustigern Lagerplatz hätten wünschen
können An jedem jungen Morgen stieg die Alte, so lange der Vorrat reichte, zu
dem Mcmsardengelaß empor, musterte ihre duftenden Lieblinge, legte die reisgc-
wvrdnen in ihre Schürze und schleuderte etwaige faule aus dem Fenster ins Un¬
gewisse hinaus, unbekümmert darum, ob sie in den Höfen der Nachbarschaft zer¬
platzten oder in den Dachrinnen liegen blieben, bis sie bei plötzlich eintretendem
Regen das blecherne Drachenmaul eines Wasserspeiers zur Verwunderung der
vorübereilenden Passanten nicht ohne einiges Würgen wieder von sich gab.

Auch heute, am 19. Oktober des Jahres 1739, schaute die Sonne, gerade
als die Nathausuhr die fünfte Stunde verkündete, in das Mansardengemnch des
"Englischen Grußes," um sich zu vergewissern, ob ihre Pfleglinge aus dem Baum¬
garten, die am Morgen abgetan worden waren, auch wohlgebettet auf ihrem Stroh
ruhten. Aber -- sie traute ihren Augen nicht! --- dort oben war eine unglaub¬
liche Veränderung vor sich gegangen. Von den Äpfeln war nichts zu sehen, dafür
war der Raum vollgestopft mit Tischen und Stühlen, Schränken und Kommoden.
An den sonst so kahlen Wanden prangten neben einem Pfeilerspiegel Bilder und
Armleuchter; Truhen, Koffer und Mantelsäcke waren in den Ecken übereinander
getürmt, und mitten auf dem mit geblümtem Zitz überzognen Kanapee stand ein
vergoldeter Glockenkäfig, worin sich ein Kakadu auf seinem Reife schaukelte. Kiel-


Der Marquis von lNarigny

freilich nie in Erfüllung, Mutter Haßlacher blieb wie die Hesperiden im alleinigen
und unbestrittnen Besitz ihrer Wunderäpfel und segnete ihren Seligen dafür, daß
er bei seinen Lebzeiten weder Mühe noch Kosten gescheut hatte, so edle Sorten zu
beschaffen.

Pietätvoll sorgte sie dafür, daß auch die blechernen Nmnensschildchen, der
Stolz ihres Gatten, genau so erhalten blieben, wie er sie selbst an jedem Baume
befestigt hatte, obgleich sie sich schon etliche mal genötigt gesehen hatte, die Ortho¬
graphie der Aufschriften gegen kritische Einwendungen junger Besucher in Schutz
zu nehmen. Er habe so lange in den Niederlanden gelebt, pflegte sie zu sagen,
daß ihm sein Deutsch ein wenig abhanden gekommen gewesen sei. Übrigens
sei ihr Seliger ein Künstler gewesen, und solche hätten es von alters her mit dem
schriftlichen nie so genau genommen. Bei diesem Argument schwiegen die jungen
Kritiker gewöhnlich, denn seit man unter dem Krummstabe des milden Clemens
Wenzeslaus lebte und das neue Residenzschloß hatte entstehn sehen, empfanden sogar
die Stiftsschüler vor allem, was mit der Kunst zusammenhing, eine gewaltige Hoch¬
achtung. Wer freilich nachträglich noch mehr über Herrn Haßlachers Künstlerlauf¬
bahn erfahren wollte und sich bei Erwachsenen, die ihn persönlich gekannt hatten,
nach den nähern Umstanden erkundigte, wurde meist gehörig enttäuscht, denn man
sagte ihm, daß der Eheherr der freundlichen Wittib ein ganz gewöhnlicher Schilder¬
maler gewesen sei, der auf der Wanderschaft allerdings bis Nimwegen vorgedrungen
wäre, sich in dieser Stadt aber im besten Falle einen halben Sommer lang auf¬
gehalten habe.

Seit Herr Haßlacher das Zeitliche gesegnet hatte — er war in einer schwülen
Sommernacht, da er nach den Anstrengungen des großen Vogelschießens auf der
Moselbrücke Erfrischung suchte, in den Fluß gefallen und eines schnellen und un-
bußfertigen Todes verblichen —, stand seine Werkstatt leer. Die Wittib konnte
sich, wie sie sagte, nicht entschließen, das „Atelier" und die beiden damit verbundnen
Kammern zu Wohnzwecken zu benutzen, es würde ihr, meinte sie, wie die Ent¬
weihung eines Heiligtums vorkommen, wenn sie mit ihrer Kaffeekanne und ihrem
Klöppelkissen in die Räume zöge, wo ihr Seliger rin Pinsel und Palette hantiert
habe. In Wirklichkeit stieß sie sich daran, daß das Gemach, wenn es einigermaßen
behaglich werden sollte, die nachdrücklichste Heizung verlangte, und daß man von
seinen Fenstern aus nur die Aussicht auf die benachbarten Dächer genoß, von der
Straße und ihrem Verkehr aber nicht das Geringste wahrnahm. So wurde denn
das „Atelier" teils aus Pietät teils aus praktische» Erwägungen den Äpfeln ein¬
geräumt, die sich freilich keinen trocknem und lustigern Lagerplatz hätten wünschen
können An jedem jungen Morgen stieg die Alte, so lange der Vorrat reichte, zu
dem Mcmsardengelaß empor, musterte ihre duftenden Lieblinge, legte die reisgc-
wvrdnen in ihre Schürze und schleuderte etwaige faule aus dem Fenster ins Un¬
gewisse hinaus, unbekümmert darum, ob sie in den Höfen der Nachbarschaft zer¬
platzten oder in den Dachrinnen liegen blieben, bis sie bei plötzlich eintretendem
Regen das blecherne Drachenmaul eines Wasserspeiers zur Verwunderung der
vorübereilenden Passanten nicht ohne einiges Würgen wieder von sich gab.

Auch heute, am 19. Oktober des Jahres 1739, schaute die Sonne, gerade
als die Nathausuhr die fünfte Stunde verkündete, in das Mansardengemnch des
„Englischen Grußes," um sich zu vergewissern, ob ihre Pfleglinge aus dem Baum¬
garten, die am Morgen abgetan worden waren, auch wohlgebettet auf ihrem Stroh
ruhten. Aber — sie traute ihren Augen nicht! -— dort oben war eine unglaub¬
liche Veränderung vor sich gegangen. Von den Äpfeln war nichts zu sehen, dafür
war der Raum vollgestopft mit Tischen und Stühlen, Schränken und Kommoden.
An den sonst so kahlen Wanden prangten neben einem Pfeilerspiegel Bilder und
Armleuchter; Truhen, Koffer und Mantelsäcke waren in den Ecken übereinander
getürmt, und mitten auf dem mit geblümtem Zitz überzognen Kanapee stand ein
vergoldeter Glockenkäfig, worin sich ein Kakadu auf seinem Reife schaukelte. Kiel-


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[0484] Der Marquis von lNarigny freilich nie in Erfüllung, Mutter Haßlacher blieb wie die Hesperiden im alleinigen und unbestrittnen Besitz ihrer Wunderäpfel und segnete ihren Seligen dafür, daß er bei seinen Lebzeiten weder Mühe noch Kosten gescheut hatte, so edle Sorten zu beschaffen. Pietätvoll sorgte sie dafür, daß auch die blechernen Nmnensschildchen, der Stolz ihres Gatten, genau so erhalten blieben, wie er sie selbst an jedem Baume befestigt hatte, obgleich sie sich schon etliche mal genötigt gesehen hatte, die Ortho¬ graphie der Aufschriften gegen kritische Einwendungen junger Besucher in Schutz zu nehmen. Er habe so lange in den Niederlanden gelebt, pflegte sie zu sagen, daß ihm sein Deutsch ein wenig abhanden gekommen gewesen sei. Übrigens sei ihr Seliger ein Künstler gewesen, und solche hätten es von alters her mit dem schriftlichen nie so genau genommen. Bei diesem Argument schwiegen die jungen Kritiker gewöhnlich, denn seit man unter dem Krummstabe des milden Clemens Wenzeslaus lebte und das neue Residenzschloß hatte entstehn sehen, empfanden sogar die Stiftsschüler vor allem, was mit der Kunst zusammenhing, eine gewaltige Hoch¬ achtung. Wer freilich nachträglich noch mehr über Herrn Haßlachers Künstlerlauf¬ bahn erfahren wollte und sich bei Erwachsenen, die ihn persönlich gekannt hatten, nach den nähern Umstanden erkundigte, wurde meist gehörig enttäuscht, denn man sagte ihm, daß der Eheherr der freundlichen Wittib ein ganz gewöhnlicher Schilder¬ maler gewesen sei, der auf der Wanderschaft allerdings bis Nimwegen vorgedrungen wäre, sich in dieser Stadt aber im besten Falle einen halben Sommer lang auf¬ gehalten habe. Seit Herr Haßlacher das Zeitliche gesegnet hatte — er war in einer schwülen Sommernacht, da er nach den Anstrengungen des großen Vogelschießens auf der Moselbrücke Erfrischung suchte, in den Fluß gefallen und eines schnellen und un- bußfertigen Todes verblichen —, stand seine Werkstatt leer. Die Wittib konnte sich, wie sie sagte, nicht entschließen, das „Atelier" und die beiden damit verbundnen Kammern zu Wohnzwecken zu benutzen, es würde ihr, meinte sie, wie die Ent¬ weihung eines Heiligtums vorkommen, wenn sie mit ihrer Kaffeekanne und ihrem Klöppelkissen in die Räume zöge, wo ihr Seliger rin Pinsel und Palette hantiert habe. In Wirklichkeit stieß sie sich daran, daß das Gemach, wenn es einigermaßen behaglich werden sollte, die nachdrücklichste Heizung verlangte, und daß man von seinen Fenstern aus nur die Aussicht auf die benachbarten Dächer genoß, von der Straße und ihrem Verkehr aber nicht das Geringste wahrnahm. So wurde denn das „Atelier" teils aus Pietät teils aus praktische» Erwägungen den Äpfeln ein¬ geräumt, die sich freilich keinen trocknem und lustigern Lagerplatz hätten wünschen können An jedem jungen Morgen stieg die Alte, so lange der Vorrat reichte, zu dem Mcmsardengelaß empor, musterte ihre duftenden Lieblinge, legte die reisgc- wvrdnen in ihre Schürze und schleuderte etwaige faule aus dem Fenster ins Un¬ gewisse hinaus, unbekümmert darum, ob sie in den Höfen der Nachbarschaft zer¬ platzten oder in den Dachrinnen liegen blieben, bis sie bei plötzlich eintretendem Regen das blecherne Drachenmaul eines Wasserspeiers zur Verwunderung der vorübereilenden Passanten nicht ohne einiges Würgen wieder von sich gab. Auch heute, am 19. Oktober des Jahres 1739, schaute die Sonne, gerade als die Nathausuhr die fünfte Stunde verkündete, in das Mansardengemnch des „Englischen Grußes," um sich zu vergewissern, ob ihre Pfleglinge aus dem Baum¬ garten, die am Morgen abgetan worden waren, auch wohlgebettet auf ihrem Stroh ruhten. Aber — sie traute ihren Augen nicht! -— dort oben war eine unglaub¬ liche Veränderung vor sich gegangen. Von den Äpfeln war nichts zu sehen, dafür war der Raum vollgestopft mit Tischen und Stühlen, Schränken und Kommoden. An den sonst so kahlen Wanden prangten neben einem Pfeilerspiegel Bilder und Armleuchter; Truhen, Koffer und Mantelsäcke waren in den Ecken übereinander getürmt, und mitten auf dem mit geblümtem Zitz überzognen Kanapee stand ein vergoldeter Glockenkäfig, worin sich ein Kakadu auf seinem Reife schaukelte. Kiel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/484>, abgerufen am 23.07.2024.