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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Leipziger Dramaturgie

zutage das dem Katholizismus gegenüber feindlich geschwungne Palladium des
Protestantismus schwur ich dein engen dumpfen Buch, .

sagt Mortimer, Aufzug I, Auftritt 6. Warum sollten Leute, die sonst weder dem
königlichen Range der Gefangnen, noch sonst deren Wünschen und Gefühlen
Rechnung trugen, der Religionsfeindin das erlaubt haben, was sie als ketzerische
Bilderverehrung ganz besonders verurteilten und haßten? Daß man der Papistin
das kleine Kruzifix gelassen hatte, dessen sie sich bei ihren Andachten bediente, war
schon viel, und nur des Dichters ausdrückliches Geheiß zwingt uus, etwas an sich
so unwahrscheinliches anzunehmen. Aber warum nun auch noch weitergehn und
dem Zuschauer zumuten, er solle glauben, Marias Hüter hätten ihr erlaubt, sich
mit dem im Übermaß angebrachten Symbole ihres Glaubens geradezu zu brüsten?

Und Maria selbst? Liegt nach dem, was Schiller von ihr sagt, und was
uns die Geschichte vou ihr berichtet, ein Grund vor, ihr die Wünsche und die
Handlungsweise einer Betschwester beizulegen? Daß sie katholisch war, gehörte
ebenso zu ihrem politischen wie zu ihrem religiösen Bekenntnis. Im katholischen
Lager, beim Papst, bei Philipp dem Zweiten, bei den Valois, bei den Guisen waren
ihre Freunde und Gesinnungsgenossen: von diesen und ihrem Glauben abtrünnig
zu werden, daran hat sie freilich nie gedacht, aber als religiöse Schwärmerin, der
das Gebet zu jeder Tagesstunde und der stete Anblick des Gekreuzigten über alles
gegangen wären, wird sie uns nirgends geschildert. Den Betschemel haben auch
strenggläubige Katholiken nicht in ihrem Wohnzimmer, und der des Leipziger
städtischen Theaters, der von dunkel angestrichnem weichem Holze ist und an allen
scharfen Kanten infolge der häufigen, oft eiligen Transporte die ursprüngliche Farbe
eingebüßt hat, hätte deshalb recht wohl in der Requisitenkammer verbleiben oder
noch besser dem Thentertischler zum Frischaustreichen übergeben werden können.

Die Auseinandersetzung der in Frage kommenden geschichtlichen Tatsachen, die
Exposition ist wie in den meisten Schillerschen Dramen in der Maria Stuart ein
vollendetes Meisterstück: sie ist zwar in der großen Hauptsache schon in den vier
ersten Auftritten enthalten, aber es ist kaum ein Aufzug, worin der Dichter das
Zeitbild nicht durch einige weitere bezeichnende Züge zu vervollständigen bemüht wäre.
Die eine oder die andre Stelle einfach zu streichen, um den Theaterabend zu kürzen,
erscheint, wo es sich um ein Schillersches Meisterwerk handelt, eine geradezu frevel¬
hafte Eigenmächtigkeit, gleichgiltig, ob die Regie annimmt, der Zuschauer kenne ja
seinen Schiller ohnehin und bedürfe deshalb der Information nicht, oder ob sie
von ihrem Standpunkt aus den einzelnen Zug für im Bilde entbehrlich ansieht,
oder ob sie endlich meint, das Weggelassene sei ja ohnehin in den zum Verkauf
ansgebotnen "Textbüchern" enthalten, und da könne jeder, der wißbegierig sei, das
Fehlende nach Belieben nachlesen. Wenn das Leipziger Publikum, das vielstündigen
Festessen gewachsen ist, für eines der Meisterstücke seines größten Dramendichters
nicht die nötige Zeit übrig hat, so wäre es doch vielleicht besser, es mit Pastors
Rieke oder dergleichen abzuspeisen, statt Aufführungen zu veranstalten, bei denen man
sich fast in jedem Aufzuge fragen muß: Warum ist nun das wieder ausgelassen
worden? Weil Herr Käßmodel und Madame Piepenbrink bei rechter Zeit vor dem
Schoppen und dem schäumenden Warmbier zu sitzen wünschen? Oder sind doch
vielleicht für diese Streichungen stichhaltigere Gründe vorhanden, die dem Un¬
befangnen nicht ohne maßgebliche Erläuterungen verstttudlich siud?

Der Darsteller des Sir Amias Paulet im Leipziger Neuen Theater hat sich so
gekleidet und sich einen solchen Kopf zurechtgemacht, daß er etwa wie der Inhaber
eines "bessern" Speisehauses aussieht, und da er ein erfahrner und verständnisvoller
Schauspieler ist, so dürfte bei ihm oder bei der Regie der oft anzutreffende Irrtum
vorgelegen haben, als gehöre Mariens Hüter einer etwas niedern Gesellschaftsklasse
an als die Talbots, die Cecils, die Walsinghams, die Huttons und die Kerls.
Man trifft in diesem Punkte bisweilen ans die irrige Ansicht, als wenn es sich


Leipziger Dramaturgie

zutage das dem Katholizismus gegenüber feindlich geschwungne Palladium des
Protestantismus schwur ich dein engen dumpfen Buch, .

sagt Mortimer, Aufzug I, Auftritt 6. Warum sollten Leute, die sonst weder dem
königlichen Range der Gefangnen, noch sonst deren Wünschen und Gefühlen
Rechnung trugen, der Religionsfeindin das erlaubt haben, was sie als ketzerische
Bilderverehrung ganz besonders verurteilten und haßten? Daß man der Papistin
das kleine Kruzifix gelassen hatte, dessen sie sich bei ihren Andachten bediente, war
schon viel, und nur des Dichters ausdrückliches Geheiß zwingt uus, etwas an sich
so unwahrscheinliches anzunehmen. Aber warum nun auch noch weitergehn und
dem Zuschauer zumuten, er solle glauben, Marias Hüter hätten ihr erlaubt, sich
mit dem im Übermaß angebrachten Symbole ihres Glaubens geradezu zu brüsten?

Und Maria selbst? Liegt nach dem, was Schiller von ihr sagt, und was
uns die Geschichte vou ihr berichtet, ein Grund vor, ihr die Wünsche und die
Handlungsweise einer Betschwester beizulegen? Daß sie katholisch war, gehörte
ebenso zu ihrem politischen wie zu ihrem religiösen Bekenntnis. Im katholischen
Lager, beim Papst, bei Philipp dem Zweiten, bei den Valois, bei den Guisen waren
ihre Freunde und Gesinnungsgenossen: von diesen und ihrem Glauben abtrünnig
zu werden, daran hat sie freilich nie gedacht, aber als religiöse Schwärmerin, der
das Gebet zu jeder Tagesstunde und der stete Anblick des Gekreuzigten über alles
gegangen wären, wird sie uns nirgends geschildert. Den Betschemel haben auch
strenggläubige Katholiken nicht in ihrem Wohnzimmer, und der des Leipziger
städtischen Theaters, der von dunkel angestrichnem weichem Holze ist und an allen
scharfen Kanten infolge der häufigen, oft eiligen Transporte die ursprüngliche Farbe
eingebüßt hat, hätte deshalb recht wohl in der Requisitenkammer verbleiben oder
noch besser dem Thentertischler zum Frischaustreichen übergeben werden können.

Die Auseinandersetzung der in Frage kommenden geschichtlichen Tatsachen, die
Exposition ist wie in den meisten Schillerschen Dramen in der Maria Stuart ein
vollendetes Meisterstück: sie ist zwar in der großen Hauptsache schon in den vier
ersten Auftritten enthalten, aber es ist kaum ein Aufzug, worin der Dichter das
Zeitbild nicht durch einige weitere bezeichnende Züge zu vervollständigen bemüht wäre.
Die eine oder die andre Stelle einfach zu streichen, um den Theaterabend zu kürzen,
erscheint, wo es sich um ein Schillersches Meisterwerk handelt, eine geradezu frevel¬
hafte Eigenmächtigkeit, gleichgiltig, ob die Regie annimmt, der Zuschauer kenne ja
seinen Schiller ohnehin und bedürfe deshalb der Information nicht, oder ob sie
von ihrem Standpunkt aus den einzelnen Zug für im Bilde entbehrlich ansieht,
oder ob sie endlich meint, das Weggelassene sei ja ohnehin in den zum Verkauf
ansgebotnen „Textbüchern" enthalten, und da könne jeder, der wißbegierig sei, das
Fehlende nach Belieben nachlesen. Wenn das Leipziger Publikum, das vielstündigen
Festessen gewachsen ist, für eines der Meisterstücke seines größten Dramendichters
nicht die nötige Zeit übrig hat, so wäre es doch vielleicht besser, es mit Pastors
Rieke oder dergleichen abzuspeisen, statt Aufführungen zu veranstalten, bei denen man
sich fast in jedem Aufzuge fragen muß: Warum ist nun das wieder ausgelassen
worden? Weil Herr Käßmodel und Madame Piepenbrink bei rechter Zeit vor dem
Schoppen und dem schäumenden Warmbier zu sitzen wünschen? Oder sind doch
vielleicht für diese Streichungen stichhaltigere Gründe vorhanden, die dem Un¬
befangnen nicht ohne maßgebliche Erläuterungen verstttudlich siud?

Der Darsteller des Sir Amias Paulet im Leipziger Neuen Theater hat sich so
gekleidet und sich einen solchen Kopf zurechtgemacht, daß er etwa wie der Inhaber
eines „bessern" Speisehauses aussieht, und da er ein erfahrner und verständnisvoller
Schauspieler ist, so dürfte bei ihm oder bei der Regie der oft anzutreffende Irrtum
vorgelegen haben, als gehöre Mariens Hüter einer etwas niedern Gesellschaftsklasse
an als die Talbots, die Cecils, die Walsinghams, die Huttons und die Kerls.
Man trifft in diesem Punkte bisweilen ans die irrige Ansicht, als wenn es sich


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[0478] Leipziger Dramaturgie zutage das dem Katholizismus gegenüber feindlich geschwungne Palladium des Protestantismus schwur ich dein engen dumpfen Buch, . sagt Mortimer, Aufzug I, Auftritt 6. Warum sollten Leute, die sonst weder dem königlichen Range der Gefangnen, noch sonst deren Wünschen und Gefühlen Rechnung trugen, der Religionsfeindin das erlaubt haben, was sie als ketzerische Bilderverehrung ganz besonders verurteilten und haßten? Daß man der Papistin das kleine Kruzifix gelassen hatte, dessen sie sich bei ihren Andachten bediente, war schon viel, und nur des Dichters ausdrückliches Geheiß zwingt uus, etwas an sich so unwahrscheinliches anzunehmen. Aber warum nun auch noch weitergehn und dem Zuschauer zumuten, er solle glauben, Marias Hüter hätten ihr erlaubt, sich mit dem im Übermaß angebrachten Symbole ihres Glaubens geradezu zu brüsten? Und Maria selbst? Liegt nach dem, was Schiller von ihr sagt, und was uns die Geschichte vou ihr berichtet, ein Grund vor, ihr die Wünsche und die Handlungsweise einer Betschwester beizulegen? Daß sie katholisch war, gehörte ebenso zu ihrem politischen wie zu ihrem religiösen Bekenntnis. Im katholischen Lager, beim Papst, bei Philipp dem Zweiten, bei den Valois, bei den Guisen waren ihre Freunde und Gesinnungsgenossen: von diesen und ihrem Glauben abtrünnig zu werden, daran hat sie freilich nie gedacht, aber als religiöse Schwärmerin, der das Gebet zu jeder Tagesstunde und der stete Anblick des Gekreuzigten über alles gegangen wären, wird sie uns nirgends geschildert. Den Betschemel haben auch strenggläubige Katholiken nicht in ihrem Wohnzimmer, und der des Leipziger städtischen Theaters, der von dunkel angestrichnem weichem Holze ist und an allen scharfen Kanten infolge der häufigen, oft eiligen Transporte die ursprüngliche Farbe eingebüßt hat, hätte deshalb recht wohl in der Requisitenkammer verbleiben oder noch besser dem Thentertischler zum Frischaustreichen übergeben werden können. Die Auseinandersetzung der in Frage kommenden geschichtlichen Tatsachen, die Exposition ist wie in den meisten Schillerschen Dramen in der Maria Stuart ein vollendetes Meisterstück: sie ist zwar in der großen Hauptsache schon in den vier ersten Auftritten enthalten, aber es ist kaum ein Aufzug, worin der Dichter das Zeitbild nicht durch einige weitere bezeichnende Züge zu vervollständigen bemüht wäre. Die eine oder die andre Stelle einfach zu streichen, um den Theaterabend zu kürzen, erscheint, wo es sich um ein Schillersches Meisterwerk handelt, eine geradezu frevel¬ hafte Eigenmächtigkeit, gleichgiltig, ob die Regie annimmt, der Zuschauer kenne ja seinen Schiller ohnehin und bedürfe deshalb der Information nicht, oder ob sie von ihrem Standpunkt aus den einzelnen Zug für im Bilde entbehrlich ansieht, oder ob sie endlich meint, das Weggelassene sei ja ohnehin in den zum Verkauf ansgebotnen „Textbüchern" enthalten, und da könne jeder, der wißbegierig sei, das Fehlende nach Belieben nachlesen. Wenn das Leipziger Publikum, das vielstündigen Festessen gewachsen ist, für eines der Meisterstücke seines größten Dramendichters nicht die nötige Zeit übrig hat, so wäre es doch vielleicht besser, es mit Pastors Rieke oder dergleichen abzuspeisen, statt Aufführungen zu veranstalten, bei denen man sich fast in jedem Aufzuge fragen muß: Warum ist nun das wieder ausgelassen worden? Weil Herr Käßmodel und Madame Piepenbrink bei rechter Zeit vor dem Schoppen und dem schäumenden Warmbier zu sitzen wünschen? Oder sind doch vielleicht für diese Streichungen stichhaltigere Gründe vorhanden, die dem Un¬ befangnen nicht ohne maßgebliche Erläuterungen verstttudlich siud? Der Darsteller des Sir Amias Paulet im Leipziger Neuen Theater hat sich so gekleidet und sich einen solchen Kopf zurechtgemacht, daß er etwa wie der Inhaber eines „bessern" Speisehauses aussieht, und da er ein erfahrner und verständnisvoller Schauspieler ist, so dürfte bei ihm oder bei der Regie der oft anzutreffende Irrtum vorgelegen haben, als gehöre Mariens Hüter einer etwas niedern Gesellschaftsklasse an als die Talbots, die Cecils, die Walsinghams, die Huttons und die Kerls. Man trifft in diesem Punkte bisweilen ans die irrige Ansicht, als wenn es sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/478>, abgerufen am 23.07.2024.