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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Die Landflucht der Richter

spätere Leben außerordentlich dienlich. Sie empfinden dann wenigstens einmal
in ihrem Leben die soziale Gleichheit, wenn sie mit den Kindern der untern
Volksklnssen auf einer Schulbank gesessen, mit diesen ans freundschaftlichem
Fuße gestanden, die alten Kinderspiele mit ihnen gespielt und die Leiden und
die Freuden der Schule mit den ärmsten Kindern in gleicher Weise durchkostet
habe". Ein Fünkchen von diesem Gefühl einer frohen, ungebundnen Jugend
bleibt doch für immer im innersten Herzen sitzen, lind daraus entwickelt sich
dann das Heimatgefühl, das nur der kennt, der unter einfachen ländlich-
tleiustädtischeu Verhältnissen aufgewachsen ist, die ihm bis ins kleinste bekannt
und vertraut geworden sind. Der fortwährende Verkehr in und mit der Natur,
in Flur und Wald, die tägliche Anschauung des vielseitigen Lebens in der
Landwirtschaft und im Handwerk, das Bekanntwerden mit der Tier- und
Pflanzenwelt, die Beschäftigung im Garten und tausend hiermit zusammen¬
hängende Kleinigkeiten sind es, die später das Gefühl und den Sinn für die
Heimat wecken und die Erinnerung an die Jugendzeit wach erhalten. Deshalb
sagt Bodenstedt außerordentlich treffend:

Es gibt so Viele Großstadtkinder, die "keine Jugend" gehabt haben, die
zwischen hohen Mauern aufgewachsen sind ohne Ahnung von der herrlichen
Natur da draußen, denen die rechte geistige und körperliche Frische schon in
den Schuljahren abhanden gekommen ist, und die nie das Gefühl einer Heimat-
sehnsncht kennen lernen. Darum hat es viel für sich, daß auch die Richter
nicht gleich mit der beginnenden Schulpflichtigkeit ihrer Kinder die großen
Städte aufsuchen, damit ja nichts in der höhern Schule versäumt werde. Es
ist in der Regel noch Zeit genug, wenn die Kinder mit dem zehnten oder
elften Jahre den höhern Schulen zugeführt werden und sich bis dahin im
ungebundnen Kleiustadtlebeu kräftigen und stärken für die schweren Schuljahre
der Großstadt.

Andre Gründe bei Versetzungen spielen, wenn man von einer Landflucht
der Richter sprechen will, hierbei weniger eine Rolle; zuweilen nötigt die Un¬
verträglichkeit mehrerer Richter an einem Orte den einen oder den andern, die
Versetzung nachzusuchen; ferner kommt die Befähigung oft in Frage, dn sich der
eine Richter mehr für die landgerichtliche, der andre mehr für die amtsgericht¬
liche Tätigkeit eignet, oder es liegen sonstige persönliche oder sachliche Gründe
vor, die eine Versetzung wünschenswert erscheine" lassen. Sie gehören nicht
hierher und werden im einzelnen Falle von der Behörde gebührend gewürdigt.
Für uns kommt es nur noch darauf an, darzutun, daß die dem Amtsrichter
von der Gesetzgebung zugedachte "einflußreiche Stellung," von der der Abge-


Die Landflucht der Richter

spätere Leben außerordentlich dienlich. Sie empfinden dann wenigstens einmal
in ihrem Leben die soziale Gleichheit, wenn sie mit den Kindern der untern
Volksklnssen auf einer Schulbank gesessen, mit diesen ans freundschaftlichem
Fuße gestanden, die alten Kinderspiele mit ihnen gespielt und die Leiden und
die Freuden der Schule mit den ärmsten Kindern in gleicher Weise durchkostet
habe». Ein Fünkchen von diesem Gefühl einer frohen, ungebundnen Jugend
bleibt doch für immer im innersten Herzen sitzen, lind daraus entwickelt sich
dann das Heimatgefühl, das nur der kennt, der unter einfachen ländlich-
tleiustädtischeu Verhältnissen aufgewachsen ist, die ihm bis ins kleinste bekannt
und vertraut geworden sind. Der fortwährende Verkehr in und mit der Natur,
in Flur und Wald, die tägliche Anschauung des vielseitigen Lebens in der
Landwirtschaft und im Handwerk, das Bekanntwerden mit der Tier- und
Pflanzenwelt, die Beschäftigung im Garten und tausend hiermit zusammen¬
hängende Kleinigkeiten sind es, die später das Gefühl und den Sinn für die
Heimat wecken und die Erinnerung an die Jugendzeit wach erhalten. Deshalb
sagt Bodenstedt außerordentlich treffend:

Es gibt so Viele Großstadtkinder, die „keine Jugend" gehabt haben, die
zwischen hohen Mauern aufgewachsen sind ohne Ahnung von der herrlichen
Natur da draußen, denen die rechte geistige und körperliche Frische schon in
den Schuljahren abhanden gekommen ist, und die nie das Gefühl einer Heimat-
sehnsncht kennen lernen. Darum hat es viel für sich, daß auch die Richter
nicht gleich mit der beginnenden Schulpflichtigkeit ihrer Kinder die großen
Städte aufsuchen, damit ja nichts in der höhern Schule versäumt werde. Es
ist in der Regel noch Zeit genug, wenn die Kinder mit dem zehnten oder
elften Jahre den höhern Schulen zugeführt werden und sich bis dahin im
ungebundnen Kleiustadtlebeu kräftigen und stärken für die schweren Schuljahre
der Großstadt.

Andre Gründe bei Versetzungen spielen, wenn man von einer Landflucht
der Richter sprechen will, hierbei weniger eine Rolle; zuweilen nötigt die Un¬
verträglichkeit mehrerer Richter an einem Orte den einen oder den andern, die
Versetzung nachzusuchen; ferner kommt die Befähigung oft in Frage, dn sich der
eine Richter mehr für die landgerichtliche, der andre mehr für die amtsgericht¬
liche Tätigkeit eignet, oder es liegen sonstige persönliche oder sachliche Gründe
vor, die eine Versetzung wünschenswert erscheine» lassen. Sie gehören nicht
hierher und werden im einzelnen Falle von der Behörde gebührend gewürdigt.
Für uns kommt es nur noch darauf an, darzutun, daß die dem Amtsrichter
von der Gesetzgebung zugedachte „einflußreiche Stellung," von der der Abge-


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[0411] Die Landflucht der Richter spätere Leben außerordentlich dienlich. Sie empfinden dann wenigstens einmal in ihrem Leben die soziale Gleichheit, wenn sie mit den Kindern der untern Volksklnssen auf einer Schulbank gesessen, mit diesen ans freundschaftlichem Fuße gestanden, die alten Kinderspiele mit ihnen gespielt und die Leiden und die Freuden der Schule mit den ärmsten Kindern in gleicher Weise durchkostet habe». Ein Fünkchen von diesem Gefühl einer frohen, ungebundnen Jugend bleibt doch für immer im innersten Herzen sitzen, lind daraus entwickelt sich dann das Heimatgefühl, das nur der kennt, der unter einfachen ländlich- tleiustädtischeu Verhältnissen aufgewachsen ist, die ihm bis ins kleinste bekannt und vertraut geworden sind. Der fortwährende Verkehr in und mit der Natur, in Flur und Wald, die tägliche Anschauung des vielseitigen Lebens in der Landwirtschaft und im Handwerk, das Bekanntwerden mit der Tier- und Pflanzenwelt, die Beschäftigung im Garten und tausend hiermit zusammen¬ hängende Kleinigkeiten sind es, die später das Gefühl und den Sinn für die Heimat wecken und die Erinnerung an die Jugendzeit wach erhalten. Deshalb sagt Bodenstedt außerordentlich treffend: Es gibt so Viele Großstadtkinder, die „keine Jugend" gehabt haben, die zwischen hohen Mauern aufgewachsen sind ohne Ahnung von der herrlichen Natur da draußen, denen die rechte geistige und körperliche Frische schon in den Schuljahren abhanden gekommen ist, und die nie das Gefühl einer Heimat- sehnsncht kennen lernen. Darum hat es viel für sich, daß auch die Richter nicht gleich mit der beginnenden Schulpflichtigkeit ihrer Kinder die großen Städte aufsuchen, damit ja nichts in der höhern Schule versäumt werde. Es ist in der Regel noch Zeit genug, wenn die Kinder mit dem zehnten oder elften Jahre den höhern Schulen zugeführt werden und sich bis dahin im ungebundnen Kleiustadtlebeu kräftigen und stärken für die schweren Schuljahre der Großstadt. Andre Gründe bei Versetzungen spielen, wenn man von einer Landflucht der Richter sprechen will, hierbei weniger eine Rolle; zuweilen nötigt die Un¬ verträglichkeit mehrerer Richter an einem Orte den einen oder den andern, die Versetzung nachzusuchen; ferner kommt die Befähigung oft in Frage, dn sich der eine Richter mehr für die landgerichtliche, der andre mehr für die amtsgericht¬ liche Tätigkeit eignet, oder es liegen sonstige persönliche oder sachliche Gründe vor, die eine Versetzung wünschenswert erscheine» lassen. Sie gehören nicht hierher und werden im einzelnen Falle von der Behörde gebührend gewürdigt. Für uns kommt es nur noch darauf an, darzutun, daß die dem Amtsrichter von der Gesetzgebung zugedachte „einflußreiche Stellung," von der der Abge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/411>, abgerufen am 29.09.2024.