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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Das wundertätige Schlangenkraut in Mythen, Sagen und Märchen

An Stelle des Krautes erscheint mitunter eine Salbe, mit der die Wunde ge¬
heilt wird. In der Geschichte des Königssohnes von Bahn im Papageienbuche (Tuti
Nahmeh) des Nachschebi, das auf altindischen Ursprung zurückführt, sitzt der
Königssohn Ferrnch-Bache am Ufer eines Flusses und bemerkt im Wasser eine große
Schlange mit einem Frosch im Nachen. Der Königssohn hat Mitleid mit dem armen
Frosch und nähert sich der Schlange. Diese aber fürchtet einen Angriff von ihm und
läßt ihren Fang fahren. Kaum sieht sich der Frosch frei, fo taucht er im Wasser
unter, aber die Schlange macht dem jungeu Helden Vorwürfe, daß er sie ihrer
Nahrung beraubte. Da sieht er ein, daß es nicht edel ist, die Schlange hungern
zu lassen, und schneidet von seinen Gliedmaßen soviel Fleisch ab, als zu ihrer
Sättigung genügt. Schlange und Frosch sind von seiner Großmut entzückt,
nehmen menschliche Gestalt an, treten bei ihm in Dienst und begleiten ihn auf
seiner Reise durch die Welt. Er kommt mit seinen Genossen zum König von
Ägypten nach Kairo. Die Tochter des Königs wird eines Tags in den königlichen
Gärten von einer Schlange gebissen und liegt schwer krank danieder. Die Schlange
in Menschengestalt hat nun Gelegenheit, dem Königssohn die Großmut zu vergelten,
sie geht zur Königstochter und saugt das Gift aus der Bißwunde, dann reibt sie
eine Salbe in die Wunde. Die Prinzessin ist geheilt und wird dem Königssohne
zur Gemahlin gegeben.

Das Schlangenkraut hat aber auch noch andre geheimnisvolle Macht.

Ein slawisches Märchen (bei Wenzig im Westslawischen Märchenschatz S. 116 ff.)
erzählt: Es war ein Schafhirt, und als Schafhirt weidete er Schafe. Wenn er
die Schafe weidete, blies er gewöhnlich ein Liedchen auf seiner Hirtenpfeife oder
lag auf dem Boden und sah nach dem Himmel, nach den Bergen, ans die Schafe
und auf den grünen Nasen. Eines Tags -- es war im Herbst, zu der Zeit, wo
die Schlangen in die Erde schlafen gehn -- lag der liebe Schafhirt auf dem Boden,
den Kopf auf deu Ellbogen gestützt, und schonte vor sich hin den Berg hinab.
Da sah er sein Wunder. Eine große Menge Schlangen kroch von allen Seiten
zu dem Felsen heran, der gerade vor ihm stand; als sie vor dem Felsen angekommen
waren, nahm jede Schlange ein Kraut, das dort wuchs, auf die Zunge und be¬
rührte damit den Felsen; dieser öffnete sich, und eine Schlange nach der andern
verschwand im Felsen. Der Schafhirt erhob sich vom Boden, befahl seinem Hunde
die Schafe zu weiden und ging zu dem Felsen, indem er bei sich dachte: "Mußt
doch sehen, was das für ein Kraut ist, und wohin die Schlangen kriechen." Es
war ein Kraut, das er uicht kannte; als er es aber abriß und den Felsen damit
berührte, öffnete sich der Felsen auch ihm. Er ging hinein und stand in einer
Höhle, deren Wände von Gold und Silber strahlten. In der Mitte der Höhle
stand ein goldner Tisch; auf dem Tische lag kreisförmig in sich gewunden eine
ungeheure alte Schlange. Um den Tisch herum lagen lauter Schlangen, alle schliefen
so fest, daß sie sich uicht rührten, als der Schafhirt eintrat.

Als er sich alles angesehen hat, will er wieder hinaus, aber der Felsen bleibt
verschlossen, so legt er sich hin, um zu schlafen. Es schien ihm, daß er nicht lange
geschlafen habe, als ihn ein Rauschen und Flüstern weckt. Da sieht er die strahlenden
Wände, den goldnen Tisch, auf dem Tische die alte Schlange und um den Tisch
eine Menge Schlangen, die den goldnen Tisch lecken, indem sie dazwischen fragen:
"Ist es schon Zeit?" Die alte Schlange läßt sie reden, bis sie langsam den Kopf
erhebt und sagt: "Es ist Zeit." Die Schlangen kriechen zum Felsen, der sich
öffnet und hinter ihnen schließt. Der Schafhirt kann nicht eher aus der Höhle,
als bis er einen dreifachen Eid geschworen hat, keinem zu sagen, wo er gewesen
und wie er hineingekommen sei. Als er im Freien ist, erkennt er, daß es Frühling
anstatt des Herbstes ist.

Eine Sage der Zamaiten (Litauer) nennt die Art des Schlangenkrauts und
erzählt, daß es den Besitzer weise macht. Nach dieser Sage") blüht das Farn-



Bei Vcckenstedt, Die Mythen, Snge" und Legenden der Zmnaiten, U. 18V.
Das wundertätige Schlangenkraut in Mythen, Sagen und Märchen

An Stelle des Krautes erscheint mitunter eine Salbe, mit der die Wunde ge¬
heilt wird. In der Geschichte des Königssohnes von Bahn im Papageienbuche (Tuti
Nahmeh) des Nachschebi, das auf altindischen Ursprung zurückführt, sitzt der
Königssohn Ferrnch-Bache am Ufer eines Flusses und bemerkt im Wasser eine große
Schlange mit einem Frosch im Nachen. Der Königssohn hat Mitleid mit dem armen
Frosch und nähert sich der Schlange. Diese aber fürchtet einen Angriff von ihm und
läßt ihren Fang fahren. Kaum sieht sich der Frosch frei, fo taucht er im Wasser
unter, aber die Schlange macht dem jungeu Helden Vorwürfe, daß er sie ihrer
Nahrung beraubte. Da sieht er ein, daß es nicht edel ist, die Schlange hungern
zu lassen, und schneidet von seinen Gliedmaßen soviel Fleisch ab, als zu ihrer
Sättigung genügt. Schlange und Frosch sind von seiner Großmut entzückt,
nehmen menschliche Gestalt an, treten bei ihm in Dienst und begleiten ihn auf
seiner Reise durch die Welt. Er kommt mit seinen Genossen zum König von
Ägypten nach Kairo. Die Tochter des Königs wird eines Tags in den königlichen
Gärten von einer Schlange gebissen und liegt schwer krank danieder. Die Schlange
in Menschengestalt hat nun Gelegenheit, dem Königssohn die Großmut zu vergelten,
sie geht zur Königstochter und saugt das Gift aus der Bißwunde, dann reibt sie
eine Salbe in die Wunde. Die Prinzessin ist geheilt und wird dem Königssohne
zur Gemahlin gegeben.

Das Schlangenkraut hat aber auch noch andre geheimnisvolle Macht.

Ein slawisches Märchen (bei Wenzig im Westslawischen Märchenschatz S. 116 ff.)
erzählt: Es war ein Schafhirt, und als Schafhirt weidete er Schafe. Wenn er
die Schafe weidete, blies er gewöhnlich ein Liedchen auf seiner Hirtenpfeife oder
lag auf dem Boden und sah nach dem Himmel, nach den Bergen, ans die Schafe
und auf den grünen Nasen. Eines Tags — es war im Herbst, zu der Zeit, wo
die Schlangen in die Erde schlafen gehn — lag der liebe Schafhirt auf dem Boden,
den Kopf auf deu Ellbogen gestützt, und schonte vor sich hin den Berg hinab.
Da sah er sein Wunder. Eine große Menge Schlangen kroch von allen Seiten
zu dem Felsen heran, der gerade vor ihm stand; als sie vor dem Felsen angekommen
waren, nahm jede Schlange ein Kraut, das dort wuchs, auf die Zunge und be¬
rührte damit den Felsen; dieser öffnete sich, und eine Schlange nach der andern
verschwand im Felsen. Der Schafhirt erhob sich vom Boden, befahl seinem Hunde
die Schafe zu weiden und ging zu dem Felsen, indem er bei sich dachte: „Mußt
doch sehen, was das für ein Kraut ist, und wohin die Schlangen kriechen." Es
war ein Kraut, das er uicht kannte; als er es aber abriß und den Felsen damit
berührte, öffnete sich der Felsen auch ihm. Er ging hinein und stand in einer
Höhle, deren Wände von Gold und Silber strahlten. In der Mitte der Höhle
stand ein goldner Tisch; auf dem Tische lag kreisförmig in sich gewunden eine
ungeheure alte Schlange. Um den Tisch herum lagen lauter Schlangen, alle schliefen
so fest, daß sie sich uicht rührten, als der Schafhirt eintrat.

Als er sich alles angesehen hat, will er wieder hinaus, aber der Felsen bleibt
verschlossen, so legt er sich hin, um zu schlafen. Es schien ihm, daß er nicht lange
geschlafen habe, als ihn ein Rauschen und Flüstern weckt. Da sieht er die strahlenden
Wände, den goldnen Tisch, auf dem Tische die alte Schlange und um den Tisch
eine Menge Schlangen, die den goldnen Tisch lecken, indem sie dazwischen fragen:
„Ist es schon Zeit?" Die alte Schlange läßt sie reden, bis sie langsam den Kopf
erhebt und sagt: „Es ist Zeit." Die Schlangen kriechen zum Felsen, der sich
öffnet und hinter ihnen schließt. Der Schafhirt kann nicht eher aus der Höhle,
als bis er einen dreifachen Eid geschworen hat, keinem zu sagen, wo er gewesen
und wie er hineingekommen sei. Als er im Freien ist, erkennt er, daß es Frühling
anstatt des Herbstes ist.

Eine Sage der Zamaiten (Litauer) nennt die Art des Schlangenkrauts und
erzählt, daß es den Besitzer weise macht. Nach dieser Sage") blüht das Farn-



Bei Vcckenstedt, Die Mythen, Snge» und Legenden der Zmnaiten, U. 18V.
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[0106] Das wundertätige Schlangenkraut in Mythen, Sagen und Märchen An Stelle des Krautes erscheint mitunter eine Salbe, mit der die Wunde ge¬ heilt wird. In der Geschichte des Königssohnes von Bahn im Papageienbuche (Tuti Nahmeh) des Nachschebi, das auf altindischen Ursprung zurückführt, sitzt der Königssohn Ferrnch-Bache am Ufer eines Flusses und bemerkt im Wasser eine große Schlange mit einem Frosch im Nachen. Der Königssohn hat Mitleid mit dem armen Frosch und nähert sich der Schlange. Diese aber fürchtet einen Angriff von ihm und läßt ihren Fang fahren. Kaum sieht sich der Frosch frei, fo taucht er im Wasser unter, aber die Schlange macht dem jungeu Helden Vorwürfe, daß er sie ihrer Nahrung beraubte. Da sieht er ein, daß es nicht edel ist, die Schlange hungern zu lassen, und schneidet von seinen Gliedmaßen soviel Fleisch ab, als zu ihrer Sättigung genügt. Schlange und Frosch sind von seiner Großmut entzückt, nehmen menschliche Gestalt an, treten bei ihm in Dienst und begleiten ihn auf seiner Reise durch die Welt. Er kommt mit seinen Genossen zum König von Ägypten nach Kairo. Die Tochter des Königs wird eines Tags in den königlichen Gärten von einer Schlange gebissen und liegt schwer krank danieder. Die Schlange in Menschengestalt hat nun Gelegenheit, dem Königssohn die Großmut zu vergelten, sie geht zur Königstochter und saugt das Gift aus der Bißwunde, dann reibt sie eine Salbe in die Wunde. Die Prinzessin ist geheilt und wird dem Königssohne zur Gemahlin gegeben. Das Schlangenkraut hat aber auch noch andre geheimnisvolle Macht. Ein slawisches Märchen (bei Wenzig im Westslawischen Märchenschatz S. 116 ff.) erzählt: Es war ein Schafhirt, und als Schafhirt weidete er Schafe. Wenn er die Schafe weidete, blies er gewöhnlich ein Liedchen auf seiner Hirtenpfeife oder lag auf dem Boden und sah nach dem Himmel, nach den Bergen, ans die Schafe und auf den grünen Nasen. Eines Tags — es war im Herbst, zu der Zeit, wo die Schlangen in die Erde schlafen gehn — lag der liebe Schafhirt auf dem Boden, den Kopf auf deu Ellbogen gestützt, und schonte vor sich hin den Berg hinab. Da sah er sein Wunder. Eine große Menge Schlangen kroch von allen Seiten zu dem Felsen heran, der gerade vor ihm stand; als sie vor dem Felsen angekommen waren, nahm jede Schlange ein Kraut, das dort wuchs, auf die Zunge und be¬ rührte damit den Felsen; dieser öffnete sich, und eine Schlange nach der andern verschwand im Felsen. Der Schafhirt erhob sich vom Boden, befahl seinem Hunde die Schafe zu weiden und ging zu dem Felsen, indem er bei sich dachte: „Mußt doch sehen, was das für ein Kraut ist, und wohin die Schlangen kriechen." Es war ein Kraut, das er uicht kannte; als er es aber abriß und den Felsen damit berührte, öffnete sich der Felsen auch ihm. Er ging hinein und stand in einer Höhle, deren Wände von Gold und Silber strahlten. In der Mitte der Höhle stand ein goldner Tisch; auf dem Tische lag kreisförmig in sich gewunden eine ungeheure alte Schlange. Um den Tisch herum lagen lauter Schlangen, alle schliefen so fest, daß sie sich uicht rührten, als der Schafhirt eintrat. Als er sich alles angesehen hat, will er wieder hinaus, aber der Felsen bleibt verschlossen, so legt er sich hin, um zu schlafen. Es schien ihm, daß er nicht lange geschlafen habe, als ihn ein Rauschen und Flüstern weckt. Da sieht er die strahlenden Wände, den goldnen Tisch, auf dem Tische die alte Schlange und um den Tisch eine Menge Schlangen, die den goldnen Tisch lecken, indem sie dazwischen fragen: „Ist es schon Zeit?" Die alte Schlange läßt sie reden, bis sie langsam den Kopf erhebt und sagt: „Es ist Zeit." Die Schlangen kriechen zum Felsen, der sich öffnet und hinter ihnen schließt. Der Schafhirt kann nicht eher aus der Höhle, als bis er einen dreifachen Eid geschworen hat, keinem zu sagen, wo er gewesen und wie er hineingekommen sei. Als er im Freien ist, erkennt er, daß es Frühling anstatt des Herbstes ist. Eine Sage der Zamaiten (Litauer) nennt die Art des Schlangenkrauts und erzählt, daß es den Besitzer weise macht. Nach dieser Sage") blüht das Farn- Bei Vcckenstedt, Die Mythen, Snge» und Legenden der Zmnaiten, U. 18V.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/106>, abgerufen am 02.10.2024.