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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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nur in der Einbildung; "die Wohnungsverhältnisse der Besitzlosen sind an
und für sich für das Wohlbefinden der Besitzenden völlig belanglos/' (Sollte
wirklich die Cholera von Hamburg und die von Neapel schon ganz ver¬
gessen sein?)

8. Wo aber wirkliches Wohunngselend bestehe, da greife die Genossen¬
schaftstätigkeit nicht helfend ein; für Proletarier bauen die Genossenschaften
keine Häuser; ja sie rühmen sich sogar, daß sie nur mit unbedeutenden Miet¬
ausfällen zu rechnen hätten, weil sie uur zahlungsfähige und zahlungswillige
Mieter aufnehmen. Solche finden aber wohl überall und immer auch ohne
die Hilfe der Baugenossenschaften Wohnung.

10. Weil viele Baugenossenschaften nicht lebensfähig sind, richten sie
Konsumvereine ein, die Geld bringen, und fördern so die Sozialdemokratie.
Überhaupt neigten die Baugenossenschaften schon von Haus aus dem Sozialis¬
mus zu, und Professor Albrecht habe ausdrücklich als eine Hauptaufgabe der
Baugenossenschaften die Pflege des Genossenschaftsgeistes verkündigt, als eine
andre die. den Bodenwert niedrig zu halten, also die Grundbesitzer um ihr
Eigentum zu bringen.

11. Die Baugenossenschaften, wird ferner behauptet, wollen mit gro߬
artigen Erfolgen glänzen, für die ihnen die Mittel fehlen, bauen darum rasch
und schlecht, machen geräuschvoll Reklame für sich und verfahren in jeder Be¬
ziehung unsolid. Zum Beweis wird uuter anderm folgende Stelle aus dem
Taschenbuch für Baugenossenschaften angeführt: ..Wollte die Genossenschaft
warten, bis die Boden- und die Baukosten aus ihrem eignen Kapital bestritten
werden können, so würde sie jahrelang gerade den Zweck, den sie im Auge
hat. nicht erfüllen können: sie würde der Außenwelt keine Leistungen auf¬
zuweisen haben, die Genossen würden murren, wenn sie keine Erfolge sähen,
und die Genossenschaft würde sich auflösen müssen."

12. Die wirklichen Leistungen der Baugenossenschaften sind so unbedeutend,
daß sie neben denen der Privatunternehmer und im Verhältnis zum Bedarf
gar nicht in Betracht kommen. Während in Berlin jedes Jahr 6000 bis 8000
neue Wohnungen nötig werden, haben sämtliche Berliner Baugenossenschaften
seit dem Jahre 1886 nicht mehr als 258 Häuser mit 851 Wohnungen fertig
gebracht. Die 179 deutschen Genossenschaften, von denen der Verfasser Nach¬
weise über ihre Leistungen bekommen hat, haben bis zum 1. Januar 1900
gebaut: 2611 Häuser mit 10496 Wohnungen, sodaß auf jede durchschnittlich
14,5 Häuser mit 58,5 Wohnungen kommen. "Man kann das umsoweniger für
eine nennenswerte Leistung ansehen, als sich unter diesen Baugenossenschaften einige
sehr alte befinden, die schon seit fünfzig Jahren die Wohnungsnot bekämpfen."

13. Weil mau möglichst wohlfeil bauen will und muß, wird auf das
ästhetische Bedürfnis, das doch auch noch beim Armen berechtigt ist, nicht im
"lindester Rücksicht genommen. Die Kasernenbanten einiger Genossenschaften
w Jena, Lübeck und Mannheim sollen Muster des Armeleutcstils sein. (Im
Norden Berlins sahen wir im vorigen Jahr einen abschreckend ^ häßlichen
Gebäudekomplex und fragten den Begleiter: Das ist Wohl ein Gefängnis?
Nein, war die Antwort, das sind Häuser einer Baugenossenschaft.)


nur in der Einbildung; „die Wohnungsverhältnisse der Besitzlosen sind an
und für sich für das Wohlbefinden der Besitzenden völlig belanglos/' (Sollte
wirklich die Cholera von Hamburg und die von Neapel schon ganz ver¬
gessen sein?)

8. Wo aber wirkliches Wohunngselend bestehe, da greife die Genossen¬
schaftstätigkeit nicht helfend ein; für Proletarier bauen die Genossenschaften
keine Häuser; ja sie rühmen sich sogar, daß sie nur mit unbedeutenden Miet¬
ausfällen zu rechnen hätten, weil sie uur zahlungsfähige und zahlungswillige
Mieter aufnehmen. Solche finden aber wohl überall und immer auch ohne
die Hilfe der Baugenossenschaften Wohnung.

10. Weil viele Baugenossenschaften nicht lebensfähig sind, richten sie
Konsumvereine ein, die Geld bringen, und fördern so die Sozialdemokratie.
Überhaupt neigten die Baugenossenschaften schon von Haus aus dem Sozialis¬
mus zu, und Professor Albrecht habe ausdrücklich als eine Hauptaufgabe der
Baugenossenschaften die Pflege des Genossenschaftsgeistes verkündigt, als eine
andre die. den Bodenwert niedrig zu halten, also die Grundbesitzer um ihr
Eigentum zu bringen.

11. Die Baugenossenschaften, wird ferner behauptet, wollen mit gro߬
artigen Erfolgen glänzen, für die ihnen die Mittel fehlen, bauen darum rasch
und schlecht, machen geräuschvoll Reklame für sich und verfahren in jeder Be¬
ziehung unsolid. Zum Beweis wird uuter anderm folgende Stelle aus dem
Taschenbuch für Baugenossenschaften angeführt: ..Wollte die Genossenschaft
warten, bis die Boden- und die Baukosten aus ihrem eignen Kapital bestritten
werden können, so würde sie jahrelang gerade den Zweck, den sie im Auge
hat. nicht erfüllen können: sie würde der Außenwelt keine Leistungen auf¬
zuweisen haben, die Genossen würden murren, wenn sie keine Erfolge sähen,
und die Genossenschaft würde sich auflösen müssen."

12. Die wirklichen Leistungen der Baugenossenschaften sind so unbedeutend,
daß sie neben denen der Privatunternehmer und im Verhältnis zum Bedarf
gar nicht in Betracht kommen. Während in Berlin jedes Jahr 6000 bis 8000
neue Wohnungen nötig werden, haben sämtliche Berliner Baugenossenschaften
seit dem Jahre 1886 nicht mehr als 258 Häuser mit 851 Wohnungen fertig
gebracht. Die 179 deutschen Genossenschaften, von denen der Verfasser Nach¬
weise über ihre Leistungen bekommen hat, haben bis zum 1. Januar 1900
gebaut: 2611 Häuser mit 10496 Wohnungen, sodaß auf jede durchschnittlich
14,5 Häuser mit 58,5 Wohnungen kommen. „Man kann das umsoweniger für
eine nennenswerte Leistung ansehen, als sich unter diesen Baugenossenschaften einige
sehr alte befinden, die schon seit fünfzig Jahren die Wohnungsnot bekämpfen."

13. Weil mau möglichst wohlfeil bauen will und muß, wird auf das
ästhetische Bedürfnis, das doch auch noch beim Armen berechtigt ist, nicht im
"lindester Rücksicht genommen. Die Kasernenbanten einiger Genossenschaften
w Jena, Lübeck und Mannheim sollen Muster des Armeleutcstils sein. (Im
Norden Berlins sahen wir im vorigen Jahr einen abschreckend ^ häßlichen
Gebäudekomplex und fragten den Begleiter: Das ist Wohl ein Gefängnis?
Nein, war die Antwort, das sind Häuser einer Baugenossenschaft.)


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/651>, abgerufen am 28.07.2024.