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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage

deuteten nichts andres, als daß man die Privatunternehmer durch Konkurrenz
schädigen wolle, der dritte aber, nur für bestimmte Bevölkerungsklassen zu
bauen, laufe auf Protektionswirtschaft hinaus.

3. Die Baugenossenschaften, wird ferner ausgeführt, begründen eine neue
Art von Hörigkeit. Wer ein Genossenschaftshaus erwirbt, ist kein unabhängiger
Hausbesitzer; er darf sein Hans weder beliebig verändern noch verkaufen, und
wird ihm überhaupt erlaubt, Teile seines Hauses zu vermieten, so beschränkt
ihn die Genossenschaft in der Auswahl seiner Mieter.

4. Bauen die Genossenschaften Mietwohnungen, so können sich die nic¬
kenden Genossen die Lage ihrer Wohnung nicht frei wählen, sondern bleiben
an einen engen Bezirk gebunden, und sie haben eine überaus kleine Aus¬
wahl. Von 212 Baugenossenschaften, deren Berichte vorliegen, haben 75 im
Jahre 1899 zusammen 289 Häuser mit 1492 Mietwohnungen gebaut, sodaß
auf jede Genossenschaft durchschnittlich 3,8 Häuser mit 20 Wohnungen kommen.
Der Andrang zu den Genossenschaftswohnungen, von denen einige Berichte
sprechen, rührt nicht von der hervorragend guten Beschaffenheit dieser Woh¬
nungen her, sondern nur davon, daß die Mitglieder für ihre Beisteuer endlich
einmal eine Wohmmg haben wollen.

5. Die Mietverträge der Genossenschaften sind viel drückender und illiberaler
als die der Hausbesitzer. Von den zum Beweis angeführten 29 Paragraphen
schreiben wir nur zwei ab. "Für Zahlung der Miete haften beide Eheleute
gemeinsam; Mieter verpfändet daher dem Vermieter seine sämtlichen entbehr¬
lichen Mobilien zur Sicherheit für die Miete und versichert, daß diese sein
freies Eigentum sind, und daß keine lästigen Verträge daran haften." In den
Privatverträgen des Dresdner Hausbesitzervereins findet sich keine entsprechende
Bestimmung; in den Formularen des Kölner und des Elberfelder Vereins
mieten zwar die Eheleute gemeinschaftlich, aber ohne die beleidigenden Zusätze.
"Die Genossenschaft ist zu achttägiger oder vierteljähriger, der Mieter zu
vierteljähriger oder halbjähriger Kündigung berechtigt." In den Privatmiet¬
verträgen wird die Kündigungsfrist immer für beide Teile gleich angesetzt. Nur
Leute von niedrigem Bildungsstande und schwacher Urteilskraft, heißt es am
Schluß des Abschnitts über die Mietvertrnge, können sich für Wohnungen ein¬
fangen lassen, die nicht anders als unter den lustigsten Bedingungen zu
haben sind.

6. Die Baugenossenschaften treiben Bodenwucher, wie an einigen Fällen
nachgewiesen wird.

7. Die Selbsthilfe, die von den Genossenschaften gepredigt und vorgegeben
wird, ist nur Schein. Die kleinen Leute sind viel zu unwissend, zu unerfahren
und zu ungeschickt, als daß sie sich in Bauunternehmungen einlassen könnten.
Alle Geschäfte werden von den Leitern der Genossenschaft besorgt, und die tun
es nicht aus Nächstenliebe, sondern entweder, um sich zu bereichern, oder wie
viele Beamte und Geistliche, um sich einen Namen und bei den Vorgesetzten
beliebt zu machen. Und wo ein sachlicher Beweggrund wirksam sei, da werde
die Wohnungsreform von den Gebildeten nicht im Interesse der Armen, sondern
im Interesse des eignen Standes betrieben; noch dazu bestehe dieses Interesse


Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage

deuteten nichts andres, als daß man die Privatunternehmer durch Konkurrenz
schädigen wolle, der dritte aber, nur für bestimmte Bevölkerungsklassen zu
bauen, laufe auf Protektionswirtschaft hinaus.

3. Die Baugenossenschaften, wird ferner ausgeführt, begründen eine neue
Art von Hörigkeit. Wer ein Genossenschaftshaus erwirbt, ist kein unabhängiger
Hausbesitzer; er darf sein Hans weder beliebig verändern noch verkaufen, und
wird ihm überhaupt erlaubt, Teile seines Hauses zu vermieten, so beschränkt
ihn die Genossenschaft in der Auswahl seiner Mieter.

4. Bauen die Genossenschaften Mietwohnungen, so können sich die nic¬
kenden Genossen die Lage ihrer Wohnung nicht frei wählen, sondern bleiben
an einen engen Bezirk gebunden, und sie haben eine überaus kleine Aus¬
wahl. Von 212 Baugenossenschaften, deren Berichte vorliegen, haben 75 im
Jahre 1899 zusammen 289 Häuser mit 1492 Mietwohnungen gebaut, sodaß
auf jede Genossenschaft durchschnittlich 3,8 Häuser mit 20 Wohnungen kommen.
Der Andrang zu den Genossenschaftswohnungen, von denen einige Berichte
sprechen, rührt nicht von der hervorragend guten Beschaffenheit dieser Woh¬
nungen her, sondern nur davon, daß die Mitglieder für ihre Beisteuer endlich
einmal eine Wohmmg haben wollen.

5. Die Mietverträge der Genossenschaften sind viel drückender und illiberaler
als die der Hausbesitzer. Von den zum Beweis angeführten 29 Paragraphen
schreiben wir nur zwei ab. „Für Zahlung der Miete haften beide Eheleute
gemeinsam; Mieter verpfändet daher dem Vermieter seine sämtlichen entbehr¬
lichen Mobilien zur Sicherheit für die Miete und versichert, daß diese sein
freies Eigentum sind, und daß keine lästigen Verträge daran haften." In den
Privatverträgen des Dresdner Hausbesitzervereins findet sich keine entsprechende
Bestimmung; in den Formularen des Kölner und des Elberfelder Vereins
mieten zwar die Eheleute gemeinschaftlich, aber ohne die beleidigenden Zusätze.
„Die Genossenschaft ist zu achttägiger oder vierteljähriger, der Mieter zu
vierteljähriger oder halbjähriger Kündigung berechtigt." In den Privatmiet¬
verträgen wird die Kündigungsfrist immer für beide Teile gleich angesetzt. Nur
Leute von niedrigem Bildungsstande und schwacher Urteilskraft, heißt es am
Schluß des Abschnitts über die Mietvertrnge, können sich für Wohnungen ein¬
fangen lassen, die nicht anders als unter den lustigsten Bedingungen zu
haben sind.

6. Die Baugenossenschaften treiben Bodenwucher, wie an einigen Fällen
nachgewiesen wird.

7. Die Selbsthilfe, die von den Genossenschaften gepredigt und vorgegeben
wird, ist nur Schein. Die kleinen Leute sind viel zu unwissend, zu unerfahren
und zu ungeschickt, als daß sie sich in Bauunternehmungen einlassen könnten.
Alle Geschäfte werden von den Leitern der Genossenschaft besorgt, und die tun
es nicht aus Nächstenliebe, sondern entweder, um sich zu bereichern, oder wie
viele Beamte und Geistliche, um sich einen Namen und bei den Vorgesetzten
beliebt zu machen. Und wo ein sachlicher Beweggrund wirksam sei, da werde
die Wohnungsreform von den Gebildeten nicht im Interesse der Armen, sondern
im Interesse des eignen Standes betrieben; noch dazu bestehe dieses Interesse


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[0650] Die Baugenossenschaften und die Wohnungsfrage deuteten nichts andres, als daß man die Privatunternehmer durch Konkurrenz schädigen wolle, der dritte aber, nur für bestimmte Bevölkerungsklassen zu bauen, laufe auf Protektionswirtschaft hinaus. 3. Die Baugenossenschaften, wird ferner ausgeführt, begründen eine neue Art von Hörigkeit. Wer ein Genossenschaftshaus erwirbt, ist kein unabhängiger Hausbesitzer; er darf sein Hans weder beliebig verändern noch verkaufen, und wird ihm überhaupt erlaubt, Teile seines Hauses zu vermieten, so beschränkt ihn die Genossenschaft in der Auswahl seiner Mieter. 4. Bauen die Genossenschaften Mietwohnungen, so können sich die nic¬ kenden Genossen die Lage ihrer Wohnung nicht frei wählen, sondern bleiben an einen engen Bezirk gebunden, und sie haben eine überaus kleine Aus¬ wahl. Von 212 Baugenossenschaften, deren Berichte vorliegen, haben 75 im Jahre 1899 zusammen 289 Häuser mit 1492 Mietwohnungen gebaut, sodaß auf jede Genossenschaft durchschnittlich 3,8 Häuser mit 20 Wohnungen kommen. Der Andrang zu den Genossenschaftswohnungen, von denen einige Berichte sprechen, rührt nicht von der hervorragend guten Beschaffenheit dieser Woh¬ nungen her, sondern nur davon, daß die Mitglieder für ihre Beisteuer endlich einmal eine Wohmmg haben wollen. 5. Die Mietverträge der Genossenschaften sind viel drückender und illiberaler als die der Hausbesitzer. Von den zum Beweis angeführten 29 Paragraphen schreiben wir nur zwei ab. „Für Zahlung der Miete haften beide Eheleute gemeinsam; Mieter verpfändet daher dem Vermieter seine sämtlichen entbehr¬ lichen Mobilien zur Sicherheit für die Miete und versichert, daß diese sein freies Eigentum sind, und daß keine lästigen Verträge daran haften." In den Privatverträgen des Dresdner Hausbesitzervereins findet sich keine entsprechende Bestimmung; in den Formularen des Kölner und des Elberfelder Vereins mieten zwar die Eheleute gemeinschaftlich, aber ohne die beleidigenden Zusätze. „Die Genossenschaft ist zu achttägiger oder vierteljähriger, der Mieter zu vierteljähriger oder halbjähriger Kündigung berechtigt." In den Privatmiet¬ verträgen wird die Kündigungsfrist immer für beide Teile gleich angesetzt. Nur Leute von niedrigem Bildungsstande und schwacher Urteilskraft, heißt es am Schluß des Abschnitts über die Mietvertrnge, können sich für Wohnungen ein¬ fangen lassen, die nicht anders als unter den lustigsten Bedingungen zu haben sind. 6. Die Baugenossenschaften treiben Bodenwucher, wie an einigen Fällen nachgewiesen wird. 7. Die Selbsthilfe, die von den Genossenschaften gepredigt und vorgegeben wird, ist nur Schein. Die kleinen Leute sind viel zu unwissend, zu unerfahren und zu ungeschickt, als daß sie sich in Bauunternehmungen einlassen könnten. Alle Geschäfte werden von den Leitern der Genossenschaft besorgt, und die tun es nicht aus Nächstenliebe, sondern entweder, um sich zu bereichern, oder wie viele Beamte und Geistliche, um sich einen Namen und bei den Vorgesetzten beliebt zu machen. Und wo ein sachlicher Beweggrund wirksam sei, da werde die Wohnungsreform von den Gebildeten nicht im Interesse der Armen, sondern im Interesse des eignen Standes betrieben; noch dazu bestehe dieses Interesse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/650>, abgerufen am 24.11.2024.