Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Irrtümer der Demokratie

Interesse auszuüben. Die daraus entspringende Verderbnis aber hat die kon¬
trollierende Gewalt der Volksvertretungen gebrochen, sodnß man heute überall
auf dem Festlande, besonders aber dort, wo das demokratische Prinzip zur
freisten Entfaltung kam, in Frankreich und in Griechenland von einer abso¬
luten Herrschaft, die aber durch den Parlamentarismus verdorben ist, sprechen
kann. Sogar das englische Parlament büßt seit seiner Demokratisierung immer
mehr die Fähigkeit zu kontrollieren ein, wie die unerhörten Unterschleife be¬
wiesen haben, die seit Jahren in der Versorgung der Land- und der See¬
truppen begangen wurden und erst bei den Wechselfällen im südafrikanischen Kriege
an den Tag gekommen sind. Die demokratischen Formen, die in den konstitutio¬
nellen Monarchien die Einzelgewalt, sei es die des Königs oder eines andern
Führers, umgeben, haben sich durchaus uicht als Garantien gegen den Mißbrauch
der Gewalt durch den Einzelnen, sondern als Hemmnisse für die Freiheit seines
Handelns erwiesen. Sie hindern nicht den Mißbrauch dieser Gewalt, sondern ihren
Gebrauch; und in der Zeitgeschichte aller europäischen Staaten kann man nach¬
lesen, daß die Demokratie nirgends imstande war, die Mißbräuche schlechter
Regenten, Minister oder parlamentarischer Führer auf die Dauer zu hindern,
daß immer und überall in ihrer Stickluft die politische Intelligenz verkümmerte,
und daß sich ihre Formen wie bleierne Gewichte an die Pläne umsichtiger Staats¬
männer hängten, sodaß sie diese zu den verächtlichsten Kompromissen zwangen,
wenn sie nur einen kleinen Teil dessen durchsetzen wollten, was sie als er¬
sprießlich für den Staat anerkannt hatten.

Man sagt, die Politik verderbe den Charakter; das ist eine Phrase, denn
nicht die Politik, sondern die Fraktion, die Partei ist das böse Prinzip im
öffentlichen Leben geworden, die Partei aber ist ein Kind der Volksvertretung,
ein Kind des Souverünitntsschwindels, ein Kind des Gesetzgebungsrechts der
repräsentativen Versammlungen. Sobald einer Versammlung das Recht der
Gesetzgebung gegeben wurde, mußte die Mehrheit zu erringen natürlich
das Ziel Aller sein, und dn zeigt uns die Geschichte der Demokratie, daß
niemals große Ideen die Mehrheit um einen schöpferischen Geist scharten,
sondern Intrigen und Terrorismus. Nicht politische Intelligenz hebt die
Stellung ehrgeiziger Volksvertreter, sondern die Fähigkeit, unter allen Umständen
eine Partei um sich zu sammeln. Und deshalb ist die politische Geschichte des
letzten Jahrhunderts so reich an Parteien und so arm an Männer". In einer
Versammlung, die wohl das Recht der Kontrolle über die Staatsverwaltung,
uicht aber das der Gesetzgebung hätte, wären der Parteisucht weit stärkere
Schranken gezogen, weil in diesen Versammlungen nicht mehr die Zahl der
Stimmen, sondern ihr Gewicht in Betracht käme. Der Intellekt der Einzelnen
könnte sich mehr geltend machen, weil er, befreit aus dem Parteilüfig, Raum
und Möglichkeit fände, sich zu entfalten; nud Regierung und Volk erhielten
ans den Beratungen einer solchen Versammlung ein klareres und zutreffenderes
Bild von den allgemeinen Zustünden als aus den dnrch den Pnrteigeist ge¬
fälschten Abstimmungen der heutige" Parlamente.

Die Freude am Wählen wird man der Menschheit allerdings nicht leicht
nehmen können, denn alle Welt glaubt nun einmal, daß nur ein gewühlter


Die Irrtümer der Demokratie

Interesse auszuüben. Die daraus entspringende Verderbnis aber hat die kon¬
trollierende Gewalt der Volksvertretungen gebrochen, sodnß man heute überall
auf dem Festlande, besonders aber dort, wo das demokratische Prinzip zur
freisten Entfaltung kam, in Frankreich und in Griechenland von einer abso¬
luten Herrschaft, die aber durch den Parlamentarismus verdorben ist, sprechen
kann. Sogar das englische Parlament büßt seit seiner Demokratisierung immer
mehr die Fähigkeit zu kontrollieren ein, wie die unerhörten Unterschleife be¬
wiesen haben, die seit Jahren in der Versorgung der Land- und der See¬
truppen begangen wurden und erst bei den Wechselfällen im südafrikanischen Kriege
an den Tag gekommen sind. Die demokratischen Formen, die in den konstitutio¬
nellen Monarchien die Einzelgewalt, sei es die des Königs oder eines andern
Führers, umgeben, haben sich durchaus uicht als Garantien gegen den Mißbrauch
der Gewalt durch den Einzelnen, sondern als Hemmnisse für die Freiheit seines
Handelns erwiesen. Sie hindern nicht den Mißbrauch dieser Gewalt, sondern ihren
Gebrauch; und in der Zeitgeschichte aller europäischen Staaten kann man nach¬
lesen, daß die Demokratie nirgends imstande war, die Mißbräuche schlechter
Regenten, Minister oder parlamentarischer Führer auf die Dauer zu hindern,
daß immer und überall in ihrer Stickluft die politische Intelligenz verkümmerte,
und daß sich ihre Formen wie bleierne Gewichte an die Pläne umsichtiger Staats¬
männer hängten, sodaß sie diese zu den verächtlichsten Kompromissen zwangen,
wenn sie nur einen kleinen Teil dessen durchsetzen wollten, was sie als er¬
sprießlich für den Staat anerkannt hatten.

Man sagt, die Politik verderbe den Charakter; das ist eine Phrase, denn
nicht die Politik, sondern die Fraktion, die Partei ist das böse Prinzip im
öffentlichen Leben geworden, die Partei aber ist ein Kind der Volksvertretung,
ein Kind des Souverünitntsschwindels, ein Kind des Gesetzgebungsrechts der
repräsentativen Versammlungen. Sobald einer Versammlung das Recht der
Gesetzgebung gegeben wurde, mußte die Mehrheit zu erringen natürlich
das Ziel Aller sein, und dn zeigt uns die Geschichte der Demokratie, daß
niemals große Ideen die Mehrheit um einen schöpferischen Geist scharten,
sondern Intrigen und Terrorismus. Nicht politische Intelligenz hebt die
Stellung ehrgeiziger Volksvertreter, sondern die Fähigkeit, unter allen Umständen
eine Partei um sich zu sammeln. Und deshalb ist die politische Geschichte des
letzten Jahrhunderts so reich an Parteien und so arm an Männer». In einer
Versammlung, die wohl das Recht der Kontrolle über die Staatsverwaltung,
uicht aber das der Gesetzgebung hätte, wären der Parteisucht weit stärkere
Schranken gezogen, weil in diesen Versammlungen nicht mehr die Zahl der
Stimmen, sondern ihr Gewicht in Betracht käme. Der Intellekt der Einzelnen
könnte sich mehr geltend machen, weil er, befreit aus dem Parteilüfig, Raum
und Möglichkeit fände, sich zu entfalten; nud Regierung und Volk erhielten
ans den Beratungen einer solchen Versammlung ein klareres und zutreffenderes
Bild von den allgemeinen Zustünden als aus den dnrch den Pnrteigeist ge¬
fälschten Abstimmungen der heutige» Parlamente.

Die Freude am Wählen wird man der Menschheit allerdings nicht leicht
nehmen können, denn alle Welt glaubt nun einmal, daß nur ein gewühlter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0464" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240020"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Irrtümer der Demokratie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2389" prev="#ID_2388"> Interesse auszuüben. Die daraus entspringende Verderbnis aber hat die kon¬<lb/>
trollierende Gewalt der Volksvertretungen gebrochen, sodnß man heute überall<lb/>
auf dem Festlande, besonders aber dort, wo das demokratische Prinzip zur<lb/>
freisten Entfaltung kam, in Frankreich und in Griechenland von einer abso¬<lb/>
luten Herrschaft, die aber durch den Parlamentarismus verdorben ist, sprechen<lb/>
kann. Sogar das englische Parlament büßt seit seiner Demokratisierung immer<lb/>
mehr die Fähigkeit zu kontrollieren ein, wie die unerhörten Unterschleife be¬<lb/>
wiesen haben, die seit Jahren in der Versorgung der Land- und der See¬<lb/>
truppen begangen wurden und erst bei den Wechselfällen im südafrikanischen Kriege<lb/>
an den Tag gekommen sind. Die demokratischen Formen, die in den konstitutio¬<lb/>
nellen Monarchien die Einzelgewalt, sei es die des Königs oder eines andern<lb/>
Führers, umgeben, haben sich durchaus uicht als Garantien gegen den Mißbrauch<lb/>
der Gewalt durch den Einzelnen, sondern als Hemmnisse für die Freiheit seines<lb/>
Handelns erwiesen. Sie hindern nicht den Mißbrauch dieser Gewalt, sondern ihren<lb/>
Gebrauch; und in der Zeitgeschichte aller europäischen Staaten kann man nach¬<lb/>
lesen, daß die Demokratie nirgends imstande war, die Mißbräuche schlechter<lb/>
Regenten, Minister oder parlamentarischer Führer auf die Dauer zu hindern,<lb/>
daß immer und überall in ihrer Stickluft die politische Intelligenz verkümmerte,<lb/>
und daß sich ihre Formen wie bleierne Gewichte an die Pläne umsichtiger Staats¬<lb/>
männer hängten, sodaß sie diese zu den verächtlichsten Kompromissen zwangen,<lb/>
wenn sie nur einen kleinen Teil dessen durchsetzen wollten, was sie als er¬<lb/>
sprießlich für den Staat anerkannt hatten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2390"> Man sagt, die Politik verderbe den Charakter; das ist eine Phrase, denn<lb/>
nicht die Politik, sondern die Fraktion, die Partei ist das böse Prinzip im<lb/>
öffentlichen Leben geworden, die Partei aber ist ein Kind der Volksvertretung,<lb/>
ein Kind des Souverünitntsschwindels, ein Kind des Gesetzgebungsrechts der<lb/>
repräsentativen Versammlungen. Sobald einer Versammlung das Recht der<lb/>
Gesetzgebung gegeben wurde, mußte die Mehrheit zu erringen natürlich<lb/>
das Ziel Aller sein, und dn zeigt uns die Geschichte der Demokratie, daß<lb/>
niemals große Ideen die Mehrheit um einen schöpferischen Geist scharten,<lb/>
sondern Intrigen und Terrorismus. Nicht politische Intelligenz hebt die<lb/>
Stellung ehrgeiziger Volksvertreter, sondern die Fähigkeit, unter allen Umständen<lb/>
eine Partei um sich zu sammeln. Und deshalb ist die politische Geschichte des<lb/>
letzten Jahrhunderts so reich an Parteien und so arm an Männer». In einer<lb/>
Versammlung, die wohl das Recht der Kontrolle über die Staatsverwaltung,<lb/>
uicht aber das der Gesetzgebung hätte, wären der Parteisucht weit stärkere<lb/>
Schranken gezogen, weil in diesen Versammlungen nicht mehr die Zahl der<lb/>
Stimmen, sondern ihr Gewicht in Betracht käme. Der Intellekt der Einzelnen<lb/>
könnte sich mehr geltend machen, weil er, befreit aus dem Parteilüfig, Raum<lb/>
und Möglichkeit fände, sich zu entfalten; nud Regierung und Volk erhielten<lb/>
ans den Beratungen einer solchen Versammlung ein klareres und zutreffenderes<lb/>
Bild von den allgemeinen Zustünden als aus den dnrch den Pnrteigeist ge¬<lb/>
fälschten Abstimmungen der heutige» Parlamente.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2391" next="#ID_2392"> Die Freude am Wählen wird man der Menschheit allerdings nicht leicht<lb/>
nehmen können, denn alle Welt glaubt nun einmal, daß nur ein gewühlter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0464] Die Irrtümer der Demokratie Interesse auszuüben. Die daraus entspringende Verderbnis aber hat die kon¬ trollierende Gewalt der Volksvertretungen gebrochen, sodnß man heute überall auf dem Festlande, besonders aber dort, wo das demokratische Prinzip zur freisten Entfaltung kam, in Frankreich und in Griechenland von einer abso¬ luten Herrschaft, die aber durch den Parlamentarismus verdorben ist, sprechen kann. Sogar das englische Parlament büßt seit seiner Demokratisierung immer mehr die Fähigkeit zu kontrollieren ein, wie die unerhörten Unterschleife be¬ wiesen haben, die seit Jahren in der Versorgung der Land- und der See¬ truppen begangen wurden und erst bei den Wechselfällen im südafrikanischen Kriege an den Tag gekommen sind. Die demokratischen Formen, die in den konstitutio¬ nellen Monarchien die Einzelgewalt, sei es die des Königs oder eines andern Führers, umgeben, haben sich durchaus uicht als Garantien gegen den Mißbrauch der Gewalt durch den Einzelnen, sondern als Hemmnisse für die Freiheit seines Handelns erwiesen. Sie hindern nicht den Mißbrauch dieser Gewalt, sondern ihren Gebrauch; und in der Zeitgeschichte aller europäischen Staaten kann man nach¬ lesen, daß die Demokratie nirgends imstande war, die Mißbräuche schlechter Regenten, Minister oder parlamentarischer Führer auf die Dauer zu hindern, daß immer und überall in ihrer Stickluft die politische Intelligenz verkümmerte, und daß sich ihre Formen wie bleierne Gewichte an die Pläne umsichtiger Staats¬ männer hängten, sodaß sie diese zu den verächtlichsten Kompromissen zwangen, wenn sie nur einen kleinen Teil dessen durchsetzen wollten, was sie als er¬ sprießlich für den Staat anerkannt hatten. Man sagt, die Politik verderbe den Charakter; das ist eine Phrase, denn nicht die Politik, sondern die Fraktion, die Partei ist das böse Prinzip im öffentlichen Leben geworden, die Partei aber ist ein Kind der Volksvertretung, ein Kind des Souverünitntsschwindels, ein Kind des Gesetzgebungsrechts der repräsentativen Versammlungen. Sobald einer Versammlung das Recht der Gesetzgebung gegeben wurde, mußte die Mehrheit zu erringen natürlich das Ziel Aller sein, und dn zeigt uns die Geschichte der Demokratie, daß niemals große Ideen die Mehrheit um einen schöpferischen Geist scharten, sondern Intrigen und Terrorismus. Nicht politische Intelligenz hebt die Stellung ehrgeiziger Volksvertreter, sondern die Fähigkeit, unter allen Umständen eine Partei um sich zu sammeln. Und deshalb ist die politische Geschichte des letzten Jahrhunderts so reich an Parteien und so arm an Männer». In einer Versammlung, die wohl das Recht der Kontrolle über die Staatsverwaltung, uicht aber das der Gesetzgebung hätte, wären der Parteisucht weit stärkere Schranken gezogen, weil in diesen Versammlungen nicht mehr die Zahl der Stimmen, sondern ihr Gewicht in Betracht käme. Der Intellekt der Einzelnen könnte sich mehr geltend machen, weil er, befreit aus dem Parteilüfig, Raum und Möglichkeit fände, sich zu entfalten; nud Regierung und Volk erhielten ans den Beratungen einer solchen Versammlung ein klareres und zutreffenderes Bild von den allgemeinen Zustünden als aus den dnrch den Pnrteigeist ge¬ fälschten Abstimmungen der heutige» Parlamente. Die Freude am Wählen wird man der Menschheit allerdings nicht leicht nehmen können, denn alle Welt glaubt nun einmal, daß nur ein gewühlter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/464
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/464>, abgerufen am 28.07.2024.