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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Irrtümer der Demokratie

Könige zu sehnen, wird dann wieder für diese gekommen sein. Damit wollen
wir nicht sagen, daß in der Klage Mommsens kein berechtigter Kern stecke;
aber es ist ein Irrtum, von irgend einer Gruppierung der Parteien Hilfe zu
erwarten, wo die Ursachen der beklagten Erscheinungen doch in dem "System"
liegen, und zwar in dem Gesetzgebnngsrechte der zu Interessenvertretungen
gewordnen Volksvertretungen. Man höre auf, die Phrase von der Souveränität
des Volkes als ein Heiligtum zu betrachte", man liege nicht mehr anbetend
vor diesem Fetisch auf den Knieen, und der Weg aus den Irrungen der Demo¬
kratie wird leicht gefunden sein. Hundert Jahre sind verflossen, ohne daß es
gelungen wäre, die Völker Europas uach dem Rezepte Rousseaus und Montes-
quieus umzumodeln, die einfache Überlegung weist also darauf hin, endlich
den umgekehrten Weg einzuschlagen und die Verfassungen den Völkern und
ihren Bedürfnissen anzupassen.

Die Tatsache der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Interessen er¬
weist sich mit jedem Tage stärker als die Lehre von ihrer Gleichheit. Der
Versuch, alle Interessen zu einem Gcsmntwillen zusammenzuschweißen, ist ge¬
scheitert, das Ergebnis ist die "Desorganisation." Die Organisation kann also
nur in der Zusammenfassung gleicher Interessen und in ihrer Unterordnung
unter den Staatszweck gefunden werden. Die Demokratie versucht, die Einheit
des Volkswillens durch die gewaltsame Unterdrückung aller Abweichungen her¬
zustellen. Die zentralistische Richtung, die sie damit einschlug, hat aber nicht
zu dem erstrebten Ziel geführt, wohl aber die Kraft des Volkes geschwächt
und ihre Entwicklung gehindert. Die Verfassung der Gemeinden, dieser Kern¬
punkte nationalen Lebens, liegt fast in allen europäischen Staaten im argen.
Hier bessernd einzugreifen, heißt der Freiheit und der Wohlfahrt des Volkes
ehrlicher dienen, als ein in der Praxis für das Volk ganz wertloses Recht
auf die Gesetzgebung des Gesamtstaates aufrecht zu erhalten.

Die freie Gemeinde ist die Grundlage aller bürgerlichen Freiheit. Dieser
Satz steht zwar an der Spitze fast aller europäischen Verfassungsurkuudeu,
aber er ist ein leeres Wort geblieben, da die Gemeindefreiheit durch die souveränen
Volksvertretungen in der verhängnisvollsten Weise verkümmert, ja zertreten
worden ist, indem der Grundsatz der modernen auf der französischen Verfassung
von 1791 fußender Staatsrechtslehre das Reichsrecht vor das Landesrecht und
das Gemeinderecht stellte und dadurch zu dem sinnlosen Versuche führte, die
lebendigen kraftvollen Besonderheiten im Volksleben gleich zu macheu; hier¬
durch sind die wichtigsten Glieder der politischen Organisation ihrer Kraft be¬
raubt worden. Neben den lokalen Jnteressenverbänden beanspruchen die größte
Beachtung die wirtschaftlichen. Die lokalen Verbände vertreten die festen, an
die Scholle gebnndnen Interessen, die wirtschaftlichen mehr die beweglichen des
Erwerblebcns; wie jene, so bedürfen auch diese -- nicht der Reglementierung --
sondern der Organisation. Die am weitesten gehende Autonomie ist bei beiden
die Vorbedingung des Gedeihens. Wie die politische Demokratie die Volks¬
vertretungen mit politischer Allmacht aufstellten wollte, so hält die soziale
Demokratie oder die staatssozialc Richtung die Volksvertretungen in wirt¬
schaftlicher Beziehung für allmächtig und schiebt ihr Aufgaben zu, denen sie


Die Irrtümer der Demokratie

Könige zu sehnen, wird dann wieder für diese gekommen sein. Damit wollen
wir nicht sagen, daß in der Klage Mommsens kein berechtigter Kern stecke;
aber es ist ein Irrtum, von irgend einer Gruppierung der Parteien Hilfe zu
erwarten, wo die Ursachen der beklagten Erscheinungen doch in dem „System"
liegen, und zwar in dem Gesetzgebnngsrechte der zu Interessenvertretungen
gewordnen Volksvertretungen. Man höre auf, die Phrase von der Souveränität
des Volkes als ein Heiligtum zu betrachte«, man liege nicht mehr anbetend
vor diesem Fetisch auf den Knieen, und der Weg aus den Irrungen der Demo¬
kratie wird leicht gefunden sein. Hundert Jahre sind verflossen, ohne daß es
gelungen wäre, die Völker Europas uach dem Rezepte Rousseaus und Montes-
quieus umzumodeln, die einfache Überlegung weist also darauf hin, endlich
den umgekehrten Weg einzuschlagen und die Verfassungen den Völkern und
ihren Bedürfnissen anzupassen.

Die Tatsache der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Interessen er¬
weist sich mit jedem Tage stärker als die Lehre von ihrer Gleichheit. Der
Versuch, alle Interessen zu einem Gcsmntwillen zusammenzuschweißen, ist ge¬
scheitert, das Ergebnis ist die „Desorganisation." Die Organisation kann also
nur in der Zusammenfassung gleicher Interessen und in ihrer Unterordnung
unter den Staatszweck gefunden werden. Die Demokratie versucht, die Einheit
des Volkswillens durch die gewaltsame Unterdrückung aller Abweichungen her¬
zustellen. Die zentralistische Richtung, die sie damit einschlug, hat aber nicht
zu dem erstrebten Ziel geführt, wohl aber die Kraft des Volkes geschwächt
und ihre Entwicklung gehindert. Die Verfassung der Gemeinden, dieser Kern¬
punkte nationalen Lebens, liegt fast in allen europäischen Staaten im argen.
Hier bessernd einzugreifen, heißt der Freiheit und der Wohlfahrt des Volkes
ehrlicher dienen, als ein in der Praxis für das Volk ganz wertloses Recht
auf die Gesetzgebung des Gesamtstaates aufrecht zu erhalten.

Die freie Gemeinde ist die Grundlage aller bürgerlichen Freiheit. Dieser
Satz steht zwar an der Spitze fast aller europäischen Verfassungsurkuudeu,
aber er ist ein leeres Wort geblieben, da die Gemeindefreiheit durch die souveränen
Volksvertretungen in der verhängnisvollsten Weise verkümmert, ja zertreten
worden ist, indem der Grundsatz der modernen auf der französischen Verfassung
von 1791 fußender Staatsrechtslehre das Reichsrecht vor das Landesrecht und
das Gemeinderecht stellte und dadurch zu dem sinnlosen Versuche führte, die
lebendigen kraftvollen Besonderheiten im Volksleben gleich zu macheu; hier¬
durch sind die wichtigsten Glieder der politischen Organisation ihrer Kraft be¬
raubt worden. Neben den lokalen Jnteressenverbänden beanspruchen die größte
Beachtung die wirtschaftlichen. Die lokalen Verbände vertreten die festen, an
die Scholle gebnndnen Interessen, die wirtschaftlichen mehr die beweglichen des
Erwerblebcns; wie jene, so bedürfen auch diese — nicht der Reglementierung —
sondern der Organisation. Die am weitesten gehende Autonomie ist bei beiden
die Vorbedingung des Gedeihens. Wie die politische Demokratie die Volks¬
vertretungen mit politischer Allmacht aufstellten wollte, so hält die soziale
Demokratie oder die staatssozialc Richtung die Volksvertretungen in wirt¬
schaftlicher Beziehung für allmächtig und schiebt ihr Aufgaben zu, denen sie


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[0462] Die Irrtümer der Demokratie Könige zu sehnen, wird dann wieder für diese gekommen sein. Damit wollen wir nicht sagen, daß in der Klage Mommsens kein berechtigter Kern stecke; aber es ist ein Irrtum, von irgend einer Gruppierung der Parteien Hilfe zu erwarten, wo die Ursachen der beklagten Erscheinungen doch in dem „System" liegen, und zwar in dem Gesetzgebnngsrechte der zu Interessenvertretungen gewordnen Volksvertretungen. Man höre auf, die Phrase von der Souveränität des Volkes als ein Heiligtum zu betrachte«, man liege nicht mehr anbetend vor diesem Fetisch auf den Knieen, und der Weg aus den Irrungen der Demo¬ kratie wird leicht gefunden sein. Hundert Jahre sind verflossen, ohne daß es gelungen wäre, die Völker Europas uach dem Rezepte Rousseaus und Montes- quieus umzumodeln, die einfache Überlegung weist also darauf hin, endlich den umgekehrten Weg einzuschlagen und die Verfassungen den Völkern und ihren Bedürfnissen anzupassen. Die Tatsache der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Interessen er¬ weist sich mit jedem Tage stärker als die Lehre von ihrer Gleichheit. Der Versuch, alle Interessen zu einem Gcsmntwillen zusammenzuschweißen, ist ge¬ scheitert, das Ergebnis ist die „Desorganisation." Die Organisation kann also nur in der Zusammenfassung gleicher Interessen und in ihrer Unterordnung unter den Staatszweck gefunden werden. Die Demokratie versucht, die Einheit des Volkswillens durch die gewaltsame Unterdrückung aller Abweichungen her¬ zustellen. Die zentralistische Richtung, die sie damit einschlug, hat aber nicht zu dem erstrebten Ziel geführt, wohl aber die Kraft des Volkes geschwächt und ihre Entwicklung gehindert. Die Verfassung der Gemeinden, dieser Kern¬ punkte nationalen Lebens, liegt fast in allen europäischen Staaten im argen. Hier bessernd einzugreifen, heißt der Freiheit und der Wohlfahrt des Volkes ehrlicher dienen, als ein in der Praxis für das Volk ganz wertloses Recht auf die Gesetzgebung des Gesamtstaates aufrecht zu erhalten. Die freie Gemeinde ist die Grundlage aller bürgerlichen Freiheit. Dieser Satz steht zwar an der Spitze fast aller europäischen Verfassungsurkuudeu, aber er ist ein leeres Wort geblieben, da die Gemeindefreiheit durch die souveränen Volksvertretungen in der verhängnisvollsten Weise verkümmert, ja zertreten worden ist, indem der Grundsatz der modernen auf der französischen Verfassung von 1791 fußender Staatsrechtslehre das Reichsrecht vor das Landesrecht und das Gemeinderecht stellte und dadurch zu dem sinnlosen Versuche führte, die lebendigen kraftvollen Besonderheiten im Volksleben gleich zu macheu; hier¬ durch sind die wichtigsten Glieder der politischen Organisation ihrer Kraft be¬ raubt worden. Neben den lokalen Jnteressenverbänden beanspruchen die größte Beachtung die wirtschaftlichen. Die lokalen Verbände vertreten die festen, an die Scholle gebnndnen Interessen, die wirtschaftlichen mehr die beweglichen des Erwerblebcns; wie jene, so bedürfen auch diese — nicht der Reglementierung — sondern der Organisation. Die am weitesten gehende Autonomie ist bei beiden die Vorbedingung des Gedeihens. Wie die politische Demokratie die Volks¬ vertretungen mit politischer Allmacht aufstellten wollte, so hält die soziale Demokratie oder die staatssozialc Richtung die Volksvertretungen in wirt¬ schaftlicher Beziehung für allmächtig und schiebt ihr Aufgaben zu, denen sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/462>, abgerufen am 24.11.2024.