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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

helfen kann, und darum haben auch Negierung und Behörden bisweilen nicht ver¬
schmäht, ihre Dienste für Propaganda in Anspruch zu nehmen. Die mögen ja nun
in ihrem eignen Bereich selber zusehen, wie sie die Geister, die sie riefen, wieder
loswerden; und die Selbstbescheidnng, die im Offizierkorps und in der Beamten¬
schaft der festeste Kitt ist, wird Wohl auch hinreichen, dort die liebe Eitelkeit, für
deren Reinkultur sonst die photographische Platte und der Lesebrei der Journale
der beste Nährboden sind, am Überwuchern zu hindern. Aber außerhalb dieser
Kreise hat die Reklame leider schon eins erreicht: der Deutsche verkündet laut sein
eignes Lob. Wie er schon immer der bahnbrechende Vertreter der Wissenschaft
war, so ist er nun auch der beste Ingenieur, der tüchtigste Kaufmann und der
energischste Kolonisator; er hat selbstverständlich das erste Heer, mit einem General¬
stab, der überhaupt unnachahmlich ist, und neuerdings hat er anch eine Marine,
die die englische zwar noch nicht an Größe erreicht, ihr aber an Güte des Per¬
sonals und der Schiffe mindestens gleichkommt -- von geringern Konkurrenten
gar nicht zu reden. Und woher weiß er das alles? Nun, das sagen ja doch
seine Feinde selbst! Denn jede lobende Übertreibung, die draußen eine Zeitung
ihren Landsleuten vorhält, um anzuspornen und aufzustacheln, wird bei uns für
bare Münze genommen und getreulich ins Guthaben eingetragen. Daß ans der
andern Seite irgend ein Mißgeschick, das dem Nachbarn passiert, bei uns in der
Regel in der Tonart "So etwas ist bei uns Gott sei Dank nicht möglich" be¬
sprochen wird, folgt daraus fast von selber. Dieser Weg führt aber nach Jena.

Die großen Vereine, die sich die Erziehung des Deutschen für seinen Weltberuf
zum Ziele gesetzt haben, begegnen da einer schweren und dem Anschein nach undank-
baren Aufgabe. Es gilt zwar auch, das Volk auf das hinzuweisen, was es erreichen
soll, und ihm -- aber ohne Rnhmrederei -- zu zeigen, wie weit es mit dem, was
es kann, schon ist. Aber in diesem Sattel beginnt der Deutsche schon sich mit Behagen
selber zurechtzufinden. Wichtiger ist es, bei ihm die Kenntnis von dem zu gründen,
was andre schon vor ihm und zum Teil für ihn geleistet haben, das Verständnis be¬
sonders für die großartige Arbeit zu erwecken, die England aus eigner Kraft schon
seit vielen Jahren in allen Teilen der Erde bewältigt hat, und ihn Anschauungen
und Charakter anders entwickelter und anders gearteter Völker verstehn zu lehren. Das
Wichtigste aber ist, daß der Deutsche lerne, zwar auf sich selbst vertrauend, aber kühl
zurückhaltend und mit der Summe von Selbstzucht, die man im Privatleben gesell¬
"
<x>. F. schaftlichen Schliff" nennen würde, im Kreise der Volker aufzutreten.


Die "kleine orientalische Frage,"

die makedonische, scheint -- man muß
gerade über sie ja mit der größten Vorsicht kalkulieren -- sich ein wenig günstiger ge¬
stalten zu Wollen. Nicht, als ob der Konferenz Lamsdorff-Goluchowski eine be¬
sondre Bedeutung beizulegen wäre (dieser unsrer Ansicht gibt auch das Von Wien
aus prompt erfolgte Dementi des Reformprogramms der "Nowoje Wremja" Recht),
sondern die Türkei scheint sich auf den allgemeinen Druck der Mächte hin endlich
zur Einleitung tatsächlicher, nicht wie bisher nur papierner Reformen genötigt zu
sehen. Aus Konstantinopel kam die sehr bemerkenswerte Meldung, daß an Stelle
des altersschwachen Said Pascha der Präsident der erst kürzlich eingesetzten Kommission
für makedonische Reformen, Ferid Pascha, zum Großvezier ernannt worden ist.

Die Reform soll also -- sehr richtig -- am Goldner Horn selbst beginnen,
und zwar an Haupt und Gliedern. Denn in der Wahl des neuen Großveziers
muß ein Wechsel nicht mir in der Person, sondern auch im System gesehen werden.
Das geht aus der dem Kenner der Verhältnisse in Mdiz Kiosk nicht unbekannten
Tatsache hervor, daß Ferid, obwohl er bei der fast allmächtigen Palastpartei nichts
weniger als beliebt ist, jetzt die Oberleitung der türkischen Politik erhalten hat --
mir weil er eben seinem Charakter, seinen Anschauungen und Kenntnissen nach den
Vertretern der fremden Kabinette besonders genehm ist. Dieser Bruch des unheil¬
vollen christenfeindlich-reaktionären Einflusses der Hofelique, die das in seiner All¬
gemeinheit manchen sympathischen Zug aufweisende türkische Volk oft genug im abend¬
ländischen Urteil diskreditiert hat, ist nicht nur aus politischen Gründen erfreulich.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

helfen kann, und darum haben auch Negierung und Behörden bisweilen nicht ver¬
schmäht, ihre Dienste für Propaganda in Anspruch zu nehmen. Die mögen ja nun
in ihrem eignen Bereich selber zusehen, wie sie die Geister, die sie riefen, wieder
loswerden; und die Selbstbescheidnng, die im Offizierkorps und in der Beamten¬
schaft der festeste Kitt ist, wird Wohl auch hinreichen, dort die liebe Eitelkeit, für
deren Reinkultur sonst die photographische Platte und der Lesebrei der Journale
der beste Nährboden sind, am Überwuchern zu hindern. Aber außerhalb dieser
Kreise hat die Reklame leider schon eins erreicht: der Deutsche verkündet laut sein
eignes Lob. Wie er schon immer der bahnbrechende Vertreter der Wissenschaft
war, so ist er nun auch der beste Ingenieur, der tüchtigste Kaufmann und der
energischste Kolonisator; er hat selbstverständlich das erste Heer, mit einem General¬
stab, der überhaupt unnachahmlich ist, und neuerdings hat er anch eine Marine,
die die englische zwar noch nicht an Größe erreicht, ihr aber an Güte des Per¬
sonals und der Schiffe mindestens gleichkommt — von geringern Konkurrenten
gar nicht zu reden. Und woher weiß er das alles? Nun, das sagen ja doch
seine Feinde selbst! Denn jede lobende Übertreibung, die draußen eine Zeitung
ihren Landsleuten vorhält, um anzuspornen und aufzustacheln, wird bei uns für
bare Münze genommen und getreulich ins Guthaben eingetragen. Daß ans der
andern Seite irgend ein Mißgeschick, das dem Nachbarn passiert, bei uns in der
Regel in der Tonart „So etwas ist bei uns Gott sei Dank nicht möglich" be¬
sprochen wird, folgt daraus fast von selber. Dieser Weg führt aber nach Jena.

Die großen Vereine, die sich die Erziehung des Deutschen für seinen Weltberuf
zum Ziele gesetzt haben, begegnen da einer schweren und dem Anschein nach undank-
baren Aufgabe. Es gilt zwar auch, das Volk auf das hinzuweisen, was es erreichen
soll, und ihm — aber ohne Rnhmrederei — zu zeigen, wie weit es mit dem, was
es kann, schon ist. Aber in diesem Sattel beginnt der Deutsche schon sich mit Behagen
selber zurechtzufinden. Wichtiger ist es, bei ihm die Kenntnis von dem zu gründen,
was andre schon vor ihm und zum Teil für ihn geleistet haben, das Verständnis be¬
sonders für die großartige Arbeit zu erwecken, die England aus eigner Kraft schon
seit vielen Jahren in allen Teilen der Erde bewältigt hat, und ihn Anschauungen
und Charakter anders entwickelter und anders gearteter Völker verstehn zu lehren. Das
Wichtigste aber ist, daß der Deutsche lerne, zwar auf sich selbst vertrauend, aber kühl
zurückhaltend und mit der Summe von Selbstzucht, die man im Privatleben gesell¬

<x>. F. schaftlichen Schliff" nennen würde, im Kreise der Volker aufzutreten.


Die „kleine orientalische Frage,"

die makedonische, scheint — man muß
gerade über sie ja mit der größten Vorsicht kalkulieren — sich ein wenig günstiger ge¬
stalten zu Wollen. Nicht, als ob der Konferenz Lamsdorff-Goluchowski eine be¬
sondre Bedeutung beizulegen wäre (dieser unsrer Ansicht gibt auch das Von Wien
aus prompt erfolgte Dementi des Reformprogramms der „Nowoje Wremja" Recht),
sondern die Türkei scheint sich auf den allgemeinen Druck der Mächte hin endlich
zur Einleitung tatsächlicher, nicht wie bisher nur papierner Reformen genötigt zu
sehen. Aus Konstantinopel kam die sehr bemerkenswerte Meldung, daß an Stelle
des altersschwachen Said Pascha der Präsident der erst kürzlich eingesetzten Kommission
für makedonische Reformen, Ferid Pascha, zum Großvezier ernannt worden ist.

Die Reform soll also — sehr richtig — am Goldner Horn selbst beginnen,
und zwar an Haupt und Gliedern. Denn in der Wahl des neuen Großveziers
muß ein Wechsel nicht mir in der Person, sondern auch im System gesehen werden.
Das geht aus der dem Kenner der Verhältnisse in Mdiz Kiosk nicht unbekannten
Tatsache hervor, daß Ferid, obwohl er bei der fast allmächtigen Palastpartei nichts
weniger als beliebt ist, jetzt die Oberleitung der türkischen Politik erhalten hat —
mir weil er eben seinem Charakter, seinen Anschauungen und Kenntnissen nach den
Vertretern der fremden Kabinette besonders genehm ist. Dieser Bruch des unheil¬
vollen christenfeindlich-reaktionären Einflusses der Hofelique, die das in seiner All¬
gemeinheit manchen sympathischen Zug aufweisende türkische Volk oft genug im abend¬
ländischen Urteil diskreditiert hat, ist nicht nur aus politischen Gründen erfreulich.


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[0438] Maßgebliches und Unmaßgebliches helfen kann, und darum haben auch Negierung und Behörden bisweilen nicht ver¬ schmäht, ihre Dienste für Propaganda in Anspruch zu nehmen. Die mögen ja nun in ihrem eignen Bereich selber zusehen, wie sie die Geister, die sie riefen, wieder loswerden; und die Selbstbescheidnng, die im Offizierkorps und in der Beamten¬ schaft der festeste Kitt ist, wird Wohl auch hinreichen, dort die liebe Eitelkeit, für deren Reinkultur sonst die photographische Platte und der Lesebrei der Journale der beste Nährboden sind, am Überwuchern zu hindern. Aber außerhalb dieser Kreise hat die Reklame leider schon eins erreicht: der Deutsche verkündet laut sein eignes Lob. Wie er schon immer der bahnbrechende Vertreter der Wissenschaft war, so ist er nun auch der beste Ingenieur, der tüchtigste Kaufmann und der energischste Kolonisator; er hat selbstverständlich das erste Heer, mit einem General¬ stab, der überhaupt unnachahmlich ist, und neuerdings hat er anch eine Marine, die die englische zwar noch nicht an Größe erreicht, ihr aber an Güte des Per¬ sonals und der Schiffe mindestens gleichkommt — von geringern Konkurrenten gar nicht zu reden. Und woher weiß er das alles? Nun, das sagen ja doch seine Feinde selbst! Denn jede lobende Übertreibung, die draußen eine Zeitung ihren Landsleuten vorhält, um anzuspornen und aufzustacheln, wird bei uns für bare Münze genommen und getreulich ins Guthaben eingetragen. Daß ans der andern Seite irgend ein Mißgeschick, das dem Nachbarn passiert, bei uns in der Regel in der Tonart „So etwas ist bei uns Gott sei Dank nicht möglich" be¬ sprochen wird, folgt daraus fast von selber. Dieser Weg führt aber nach Jena. Die großen Vereine, die sich die Erziehung des Deutschen für seinen Weltberuf zum Ziele gesetzt haben, begegnen da einer schweren und dem Anschein nach undank- baren Aufgabe. Es gilt zwar auch, das Volk auf das hinzuweisen, was es erreichen soll, und ihm — aber ohne Rnhmrederei — zu zeigen, wie weit es mit dem, was es kann, schon ist. Aber in diesem Sattel beginnt der Deutsche schon sich mit Behagen selber zurechtzufinden. Wichtiger ist es, bei ihm die Kenntnis von dem zu gründen, was andre schon vor ihm und zum Teil für ihn geleistet haben, das Verständnis be¬ sonders für die großartige Arbeit zu erwecken, die England aus eigner Kraft schon seit vielen Jahren in allen Teilen der Erde bewältigt hat, und ihn Anschauungen und Charakter anders entwickelter und anders gearteter Völker verstehn zu lehren. Das Wichtigste aber ist, daß der Deutsche lerne, zwar auf sich selbst vertrauend, aber kühl zurückhaltend und mit der Summe von Selbstzucht, die man im Privatleben gesell¬ „ <x>. F. schaftlichen Schliff" nennen würde, im Kreise der Volker aufzutreten. Die „kleine orientalische Frage," die makedonische, scheint — man muß gerade über sie ja mit der größten Vorsicht kalkulieren — sich ein wenig günstiger ge¬ stalten zu Wollen. Nicht, als ob der Konferenz Lamsdorff-Goluchowski eine be¬ sondre Bedeutung beizulegen wäre (dieser unsrer Ansicht gibt auch das Von Wien aus prompt erfolgte Dementi des Reformprogramms der „Nowoje Wremja" Recht), sondern die Türkei scheint sich auf den allgemeinen Druck der Mächte hin endlich zur Einleitung tatsächlicher, nicht wie bisher nur papierner Reformen genötigt zu sehen. Aus Konstantinopel kam die sehr bemerkenswerte Meldung, daß an Stelle des altersschwachen Said Pascha der Präsident der erst kürzlich eingesetzten Kommission für makedonische Reformen, Ferid Pascha, zum Großvezier ernannt worden ist. Die Reform soll also — sehr richtig — am Goldner Horn selbst beginnen, und zwar an Haupt und Gliedern. Denn in der Wahl des neuen Großveziers muß ein Wechsel nicht mir in der Person, sondern auch im System gesehen werden. Das geht aus der dem Kenner der Verhältnisse in Mdiz Kiosk nicht unbekannten Tatsache hervor, daß Ferid, obwohl er bei der fast allmächtigen Palastpartei nichts weniger als beliebt ist, jetzt die Oberleitung der türkischen Politik erhalten hat — mir weil er eben seinem Charakter, seinen Anschauungen und Kenntnissen nach den Vertretern der fremden Kabinette besonders genehm ist. Dieser Bruch des unheil¬ vollen christenfeindlich-reaktionären Einflusses der Hofelique, die das in seiner All¬ gemeinheit manchen sympathischen Zug aufweisende türkische Volk oft genug im abend¬ ländischen Urteil diskreditiert hat, ist nicht nur aus politischen Gründen erfreulich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/438>, abgerufen am 24.11.2024.