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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die allgemeinen Kenntnisse, die der Deutsche für seinen Weltberuf mitbringt,
geben ihm vor den meisten übrigen Nationen einen gewissen Vorsprung; dies sei
zugestanden. Aber die Kenntnis der Entwicklung andrer Völker -- da hapert es
schon. Allenfalls um das junge Amerika, dessen politisches Werden und dessen
wirtschaftliches Erstarken sich in zwei kurze Perioden zusammendrängen, hat sich in
dem allgemeinen Jdeennebel ein leidlich klarer Kristall gebildet; und von den
Grenznachbarn keimt man wohl auch die jüngste, mit unsrer eignen verquickte
Geschichte. Aber die Entwicklung, der innere Ausbau andrer Staaten? Und nun
gar das Wirken der Völker in der weiten Welt? Ihre Leistungen und Errungen-
schaften zu Zeiten, wo der Deutsche noch daheim hinter dem Ofen blieb, ihre müh¬
selig erworbnen und jetzt natürlich eifersüchtig behüteten Handelsrechte in fremden
Erdteilen? Denn darüber muß man sich doch klar sein, daß dem wohleingesessenen
Kaufmann der Eindringling, der sich mit in die bearbeitete Kundschaft setzen will,
keine Freude bereitet, und daß es gilt, seine Achtung zu erwerben, sich gut mit ihm
zu stellen, wenn man nicht seine Feindschaft auf dem Halse haben will. Freilich,
Schnitze, der in Berlin seinen neuen Laden gerade in dem schön gelegnen Kunden¬
viertel eines Geschäftskollegen aufmacht, hat vor dessen Neid und Ärger keine
Sorge; die Polizeiwache ist ja nebenan, und das Amtsgericht auch nicht weit.
Aber wo eine solche höhere Instanz fehlt, wo, wenn es zum äußersten kommt,
nur das Recht des Stärkern gilt, da würde der Neugekommene seine Unreife
zeigen, wenn er nicht Ausgleich und Anschlich bei dem ältern Bewerber suchte; und
noch weniger darf er die natürliche Verstimmung verschärfen, indem er sich zum
Kritiker über das Privatleben des Nachbarn aufwirft. Gerechtigkeit, Unparteilichkeit
und Humanität sind sehr schöne Begriffe; aber eines von beiden geht nur -- ent¬
weder als Praktiker im Leben stehn, oder bei ethischen Betrachtungen in der Stube
sitzen; eine Vermengung ist vom Übel. Oder würde sich nicht der Herr Professor,
wenn er von seinem Hauswirt oder vom Mieter aus der erste" Etage wüßte, daß
der -- sagen wir seine Dienstboten roh behandelte, zweimal besinnen, seine moralische
Entrüstung darüber der Welt bekannt zu geben, ehe er nicht einer andern Wohnung
sicher wäre? Der Charakter, der für des Lebens Kämpfe tauglich sein soll, muß
nicht nur versteh", seinen Sympathien und Antipathien Zügel anzulegen, sondern
auch Ärger und Zorn beherrschen können, wenn er selbst eine Enttäuschung erleidet.
Die Engländer nehmen den ihnen recht peinlichen Ausgang der Mandschurei-An¬
gelegenheit ruhig hin, ohne ihrer Erregung in langen Tiraden Ausdruck zu ver¬
leihen; denn das würde ja keinen Zweck haben.

Die Selbstzucht verlangt auch, daß eine nüchterne Einschätzung der eignen
Fähigkeiten Hand in Hand gehe mit einem ruhig wohlwollenden Urteil über das,
was die andern können. Wie steht es damit bei uns? Die Erfolge, die deutsche
Tüchtigkeit und Energie ans manchem Gebiet auszuweisen hatten, haben das klare
Urteil in der Heimat getrübt und die Vorstellung, daß das immer so sein müßte,
heranwachsen lassen. Wenn Bismarck damals seinen Ausspruch von der Furcht¬
losigkeit des Deutschen prägte, um als der berufne Wortführer dem Ausland eine
Mahnung und dem Herzen des Volkes ein "Verzage nicht" zuzurufen, so scheint es
heute manchmal, als ob der Deutsche dieses Wort, statt es in ruhigem Selbstbewußtsein
zu bewahren, jedem, der ihm in den Weg kommt, um den Kopf werfen wollte. Und
zu diesem Gottvertrauen führt ihn nicht ein eingehendes vergleichendes Studium seiner
eignen Stärke und der der andern, sondern die naive Überzeugung, die der Stolz
auf vergangne Erfolge -- an denen unsre Generation doch zur großen Mehrheit keinen
Anteil mehr hatte -- und die leichtgläubige Eigenliebe in ihm genährt haben.

In unsrer Zeit des ruhelosen, hastigen Schaffens spielt die Reklame eine
große und unheilvolle Rolle; die Sucht, genannt und gezeigt zu werden, kränkelt
ja mit ihrem bleichen Hauch schon die stille Arbeit des Gelehrten an, sie möchte sogar
der segenspendenden Hand des Operateurs ihre Keuschheit rauben. Freilich ist die
Reklame ein Mittel, das in vielen Fällen zum schnellen geschäftlichen Erfolge ver-


Grenzboten 1 1903 5S
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die allgemeinen Kenntnisse, die der Deutsche für seinen Weltberuf mitbringt,
geben ihm vor den meisten übrigen Nationen einen gewissen Vorsprung; dies sei
zugestanden. Aber die Kenntnis der Entwicklung andrer Völker — da hapert es
schon. Allenfalls um das junge Amerika, dessen politisches Werden und dessen
wirtschaftliches Erstarken sich in zwei kurze Perioden zusammendrängen, hat sich in
dem allgemeinen Jdeennebel ein leidlich klarer Kristall gebildet; und von den
Grenznachbarn keimt man wohl auch die jüngste, mit unsrer eignen verquickte
Geschichte. Aber die Entwicklung, der innere Ausbau andrer Staaten? Und nun
gar das Wirken der Völker in der weiten Welt? Ihre Leistungen und Errungen-
schaften zu Zeiten, wo der Deutsche noch daheim hinter dem Ofen blieb, ihre müh¬
selig erworbnen und jetzt natürlich eifersüchtig behüteten Handelsrechte in fremden
Erdteilen? Denn darüber muß man sich doch klar sein, daß dem wohleingesessenen
Kaufmann der Eindringling, der sich mit in die bearbeitete Kundschaft setzen will,
keine Freude bereitet, und daß es gilt, seine Achtung zu erwerben, sich gut mit ihm
zu stellen, wenn man nicht seine Feindschaft auf dem Halse haben will. Freilich,
Schnitze, der in Berlin seinen neuen Laden gerade in dem schön gelegnen Kunden¬
viertel eines Geschäftskollegen aufmacht, hat vor dessen Neid und Ärger keine
Sorge; die Polizeiwache ist ja nebenan, und das Amtsgericht auch nicht weit.
Aber wo eine solche höhere Instanz fehlt, wo, wenn es zum äußersten kommt,
nur das Recht des Stärkern gilt, da würde der Neugekommene seine Unreife
zeigen, wenn er nicht Ausgleich und Anschlich bei dem ältern Bewerber suchte; und
noch weniger darf er die natürliche Verstimmung verschärfen, indem er sich zum
Kritiker über das Privatleben des Nachbarn aufwirft. Gerechtigkeit, Unparteilichkeit
und Humanität sind sehr schöne Begriffe; aber eines von beiden geht nur — ent¬
weder als Praktiker im Leben stehn, oder bei ethischen Betrachtungen in der Stube
sitzen; eine Vermengung ist vom Übel. Oder würde sich nicht der Herr Professor,
wenn er von seinem Hauswirt oder vom Mieter aus der erste» Etage wüßte, daß
der — sagen wir seine Dienstboten roh behandelte, zweimal besinnen, seine moralische
Entrüstung darüber der Welt bekannt zu geben, ehe er nicht einer andern Wohnung
sicher wäre? Der Charakter, der für des Lebens Kämpfe tauglich sein soll, muß
nicht nur versteh», seinen Sympathien und Antipathien Zügel anzulegen, sondern
auch Ärger und Zorn beherrschen können, wenn er selbst eine Enttäuschung erleidet.
Die Engländer nehmen den ihnen recht peinlichen Ausgang der Mandschurei-An¬
gelegenheit ruhig hin, ohne ihrer Erregung in langen Tiraden Ausdruck zu ver¬
leihen; denn das würde ja keinen Zweck haben.

Die Selbstzucht verlangt auch, daß eine nüchterne Einschätzung der eignen
Fähigkeiten Hand in Hand gehe mit einem ruhig wohlwollenden Urteil über das,
was die andern können. Wie steht es damit bei uns? Die Erfolge, die deutsche
Tüchtigkeit und Energie ans manchem Gebiet auszuweisen hatten, haben das klare
Urteil in der Heimat getrübt und die Vorstellung, daß das immer so sein müßte,
heranwachsen lassen. Wenn Bismarck damals seinen Ausspruch von der Furcht¬
losigkeit des Deutschen prägte, um als der berufne Wortführer dem Ausland eine
Mahnung und dem Herzen des Volkes ein „Verzage nicht" zuzurufen, so scheint es
heute manchmal, als ob der Deutsche dieses Wort, statt es in ruhigem Selbstbewußtsein
zu bewahren, jedem, der ihm in den Weg kommt, um den Kopf werfen wollte. Und
zu diesem Gottvertrauen führt ihn nicht ein eingehendes vergleichendes Studium seiner
eignen Stärke und der der andern, sondern die naive Überzeugung, die der Stolz
auf vergangne Erfolge — an denen unsre Generation doch zur großen Mehrheit keinen
Anteil mehr hatte — und die leichtgläubige Eigenliebe in ihm genährt haben.

In unsrer Zeit des ruhelosen, hastigen Schaffens spielt die Reklame eine
große und unheilvolle Rolle; die Sucht, genannt und gezeigt zu werden, kränkelt
ja mit ihrem bleichen Hauch schon die stille Arbeit des Gelehrten an, sie möchte sogar
der segenspendenden Hand des Operateurs ihre Keuschheit rauben. Freilich ist die
Reklame ein Mittel, das in vielen Fällen zum schnellen geschäftlichen Erfolge ver-


Grenzboten 1 1903 5S
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[0437] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die allgemeinen Kenntnisse, die der Deutsche für seinen Weltberuf mitbringt, geben ihm vor den meisten übrigen Nationen einen gewissen Vorsprung; dies sei zugestanden. Aber die Kenntnis der Entwicklung andrer Völker — da hapert es schon. Allenfalls um das junge Amerika, dessen politisches Werden und dessen wirtschaftliches Erstarken sich in zwei kurze Perioden zusammendrängen, hat sich in dem allgemeinen Jdeennebel ein leidlich klarer Kristall gebildet; und von den Grenznachbarn keimt man wohl auch die jüngste, mit unsrer eignen verquickte Geschichte. Aber die Entwicklung, der innere Ausbau andrer Staaten? Und nun gar das Wirken der Völker in der weiten Welt? Ihre Leistungen und Errungen- schaften zu Zeiten, wo der Deutsche noch daheim hinter dem Ofen blieb, ihre müh¬ selig erworbnen und jetzt natürlich eifersüchtig behüteten Handelsrechte in fremden Erdteilen? Denn darüber muß man sich doch klar sein, daß dem wohleingesessenen Kaufmann der Eindringling, der sich mit in die bearbeitete Kundschaft setzen will, keine Freude bereitet, und daß es gilt, seine Achtung zu erwerben, sich gut mit ihm zu stellen, wenn man nicht seine Feindschaft auf dem Halse haben will. Freilich, Schnitze, der in Berlin seinen neuen Laden gerade in dem schön gelegnen Kunden¬ viertel eines Geschäftskollegen aufmacht, hat vor dessen Neid und Ärger keine Sorge; die Polizeiwache ist ja nebenan, und das Amtsgericht auch nicht weit. Aber wo eine solche höhere Instanz fehlt, wo, wenn es zum äußersten kommt, nur das Recht des Stärkern gilt, da würde der Neugekommene seine Unreife zeigen, wenn er nicht Ausgleich und Anschlich bei dem ältern Bewerber suchte; und noch weniger darf er die natürliche Verstimmung verschärfen, indem er sich zum Kritiker über das Privatleben des Nachbarn aufwirft. Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und Humanität sind sehr schöne Begriffe; aber eines von beiden geht nur — ent¬ weder als Praktiker im Leben stehn, oder bei ethischen Betrachtungen in der Stube sitzen; eine Vermengung ist vom Übel. Oder würde sich nicht der Herr Professor, wenn er von seinem Hauswirt oder vom Mieter aus der erste» Etage wüßte, daß der — sagen wir seine Dienstboten roh behandelte, zweimal besinnen, seine moralische Entrüstung darüber der Welt bekannt zu geben, ehe er nicht einer andern Wohnung sicher wäre? Der Charakter, der für des Lebens Kämpfe tauglich sein soll, muß nicht nur versteh», seinen Sympathien und Antipathien Zügel anzulegen, sondern auch Ärger und Zorn beherrschen können, wenn er selbst eine Enttäuschung erleidet. Die Engländer nehmen den ihnen recht peinlichen Ausgang der Mandschurei-An¬ gelegenheit ruhig hin, ohne ihrer Erregung in langen Tiraden Ausdruck zu ver¬ leihen; denn das würde ja keinen Zweck haben. Die Selbstzucht verlangt auch, daß eine nüchterne Einschätzung der eignen Fähigkeiten Hand in Hand gehe mit einem ruhig wohlwollenden Urteil über das, was die andern können. Wie steht es damit bei uns? Die Erfolge, die deutsche Tüchtigkeit und Energie ans manchem Gebiet auszuweisen hatten, haben das klare Urteil in der Heimat getrübt und die Vorstellung, daß das immer so sein müßte, heranwachsen lassen. Wenn Bismarck damals seinen Ausspruch von der Furcht¬ losigkeit des Deutschen prägte, um als der berufne Wortführer dem Ausland eine Mahnung und dem Herzen des Volkes ein „Verzage nicht" zuzurufen, so scheint es heute manchmal, als ob der Deutsche dieses Wort, statt es in ruhigem Selbstbewußtsein zu bewahren, jedem, der ihm in den Weg kommt, um den Kopf werfen wollte. Und zu diesem Gottvertrauen führt ihn nicht ein eingehendes vergleichendes Studium seiner eignen Stärke und der der andern, sondern die naive Überzeugung, die der Stolz auf vergangne Erfolge — an denen unsre Generation doch zur großen Mehrheit keinen Anteil mehr hatte — und die leichtgläubige Eigenliebe in ihm genährt haben. In unsrer Zeit des ruhelosen, hastigen Schaffens spielt die Reklame eine große und unheilvolle Rolle; die Sucht, genannt und gezeigt zu werden, kränkelt ja mit ihrem bleichen Hauch schon die stille Arbeit des Gelehrten an, sie möchte sogar der segenspendenden Hand des Operateurs ihre Keuschheit rauben. Freilich ist die Reklame ein Mittel, das in vielen Fällen zum schnellen geschäftlichen Erfolge ver- Grenzboten 1 1903 5S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/437>, abgerufen am 01.09.2024.