Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet

nimmt als einziger nußer den Prinzen und Sir Walter Blunt an dem Empfang
der Aufrührer durch den König teil. Wie wäre es wohl auch sonst möglich gewesen,
daß er mit dem Prinzen Heinrich in Berührung gekommen wäre? Inmitten
dieser Gesellschaftsklasse, die ganz auf Ehre beruht und ohne sie ganz un¬
denkbar ist, stelle mau sich nun Falstaff vor, einen Menschen, für den es
diese Ehre gar nicht gibt. Gerade seinen Erzieher, den Herzog von Norfolk,
läßt Shakespeare die Worte sprechen:

Man braucht sich nur deu schneidenden Gegensatz klar zu macheu, worin
diese Worte zu den Anschauungen Falstaffs über die Ehre stehn, wenn man
begreifen will, welche Abnormität dieser Charakter ist.

Man könnte versucht sein zu glauben, es sei Mangel an Intelligenz, was
bei Falstaff diese Unempfindlichkeit für sittliche Beweggründe verursacht. Aber
ganz im Gegenteil: er hat einen durchdringenden Verstand. Wie erstaunlich
ist nicht die Findigkeit, mit der er immer wieder neue Geldquellen zur Be¬
streitung seiner großen leiblichen Bedürfnisse zu erschließen weiß -- ohne
Arbeit und ohne Kapital! Sogar sein Podagra weckt in ihm sofort den Ge¬
danken, daß er es zu einer Kriegspension ausmünzen könnte; er ist eben,
wie er selbst mit vollem Recht sagt, ein guter Kops, der alles zu benutzen
weiß. Wie häufig ergeht er sich ferner in philosophische" Betrachtungen, die
in ihrer Klarheit und geistreichen Fassung einem Denker Ehre machen würden!
Ja sogar die gewöhnliche Wirtshausunterhaltuug wird durch ihn zum in¬
teressanten Redcwettkampf, wobei seine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit
immer den Sieg davontragen. Gerade diese Eigenschaft stellt sein Freund, der
Prinz Heinrich, mit besondrer Vorliebe immer wieder von neuem auf die
Probe: "Welchen Kniff, welchen Vorwand, welchen Schlupfwinkel kannst du
um aussinnen, um dich vor dieser offenbaren Schande zu verbergen?" so
fragt er Falstaff, nachdem dieser sich mit seiner Schilderung der Affürc von
Gadshill festgelvgeu hat, und Falstaff reißt sich auch mit Eleganz wieder
heraus. In immer neuen überraschende" Wendungen beherrscht diese glänzende
Eigenschaft sein Auftreten; er ist, mit einem Wort, ein höchst geistreicher Mensch,
und diese Eigenschaft ist es offenbar, die den Prinzen zu ihm hingezogen hat.

Nur nach einer Richtung versagt auch sein Scharfsinn vollständig, sobald
eben Anstand, Sitte und Ehre in Frage kommen. Ein schlagendes Beispiel
hierfür ist sein Benehmen gegenüber den, Oberrichter.

Oberrichter: Sir John, Sir John! ich kenne eure Art, eine gerechte Sache
zu verdrehn, ganz genau. Eure zuversichtliche Miene und der Wortschwall, den
ihr mit mehr als unverschämter Frechheit herausstoßt, können mich nicht beeinflussen.


Grenzboten I 1903 52
Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet

nimmt als einziger nußer den Prinzen und Sir Walter Blunt an dem Empfang
der Aufrührer durch den König teil. Wie wäre es wohl auch sonst möglich gewesen,
daß er mit dem Prinzen Heinrich in Berührung gekommen wäre? Inmitten
dieser Gesellschaftsklasse, die ganz auf Ehre beruht und ohne sie ganz un¬
denkbar ist, stelle mau sich nun Falstaff vor, einen Menschen, für den es
diese Ehre gar nicht gibt. Gerade seinen Erzieher, den Herzog von Norfolk,
läßt Shakespeare die Worte sprechen:

Man braucht sich nur deu schneidenden Gegensatz klar zu macheu, worin
diese Worte zu den Anschauungen Falstaffs über die Ehre stehn, wenn man
begreifen will, welche Abnormität dieser Charakter ist.

Man könnte versucht sein zu glauben, es sei Mangel an Intelligenz, was
bei Falstaff diese Unempfindlichkeit für sittliche Beweggründe verursacht. Aber
ganz im Gegenteil: er hat einen durchdringenden Verstand. Wie erstaunlich
ist nicht die Findigkeit, mit der er immer wieder neue Geldquellen zur Be¬
streitung seiner großen leiblichen Bedürfnisse zu erschließen weiß — ohne
Arbeit und ohne Kapital! Sogar sein Podagra weckt in ihm sofort den Ge¬
danken, daß er es zu einer Kriegspension ausmünzen könnte; er ist eben,
wie er selbst mit vollem Recht sagt, ein guter Kops, der alles zu benutzen
weiß. Wie häufig ergeht er sich ferner in philosophische» Betrachtungen, die
in ihrer Klarheit und geistreichen Fassung einem Denker Ehre machen würden!
Ja sogar die gewöhnliche Wirtshausunterhaltuug wird durch ihn zum in¬
teressanten Redcwettkampf, wobei seine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit
immer den Sieg davontragen. Gerade diese Eigenschaft stellt sein Freund, der
Prinz Heinrich, mit besondrer Vorliebe immer wieder von neuem auf die
Probe: „Welchen Kniff, welchen Vorwand, welchen Schlupfwinkel kannst du
um aussinnen, um dich vor dieser offenbaren Schande zu verbergen?" so
fragt er Falstaff, nachdem dieser sich mit seiner Schilderung der Affürc von
Gadshill festgelvgeu hat, und Falstaff reißt sich auch mit Eleganz wieder
heraus. In immer neuen überraschende« Wendungen beherrscht diese glänzende
Eigenschaft sein Auftreten; er ist, mit einem Wort, ein höchst geistreicher Mensch,
und diese Eigenschaft ist es offenbar, die den Prinzen zu ihm hingezogen hat.

Nur nach einer Richtung versagt auch sein Scharfsinn vollständig, sobald
eben Anstand, Sitte und Ehre in Frage kommen. Ein schlagendes Beispiel
hierfür ist sein Benehmen gegenüber den, Oberrichter.

Oberrichter: Sir John, Sir John! ich kenne eure Art, eine gerechte Sache
zu verdrehn, ganz genau. Eure zuversichtliche Miene und der Wortschwall, den
ihr mit mehr als unverschämter Frechheit herausstoßt, können mich nicht beeinflussen.


Grenzboten I 1903 52
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239969"/>
          <fw type="header" place="top"> Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2036" prev="#ID_2035"> nimmt als einziger nußer den Prinzen und Sir Walter Blunt an dem Empfang<lb/>
der Aufrührer durch den König teil. Wie wäre es wohl auch sonst möglich gewesen,<lb/>
daß er mit dem Prinzen Heinrich in Berührung gekommen wäre? Inmitten<lb/>
dieser Gesellschaftsklasse, die ganz auf Ehre beruht und ohne sie ganz un¬<lb/>
denkbar ist, stelle mau sich nun Falstaff vor, einen Menschen, für den es<lb/>
diese Ehre gar nicht gibt. Gerade seinen Erzieher, den Herzog von Norfolk,<lb/>
läßt Shakespeare die Worte sprechen:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_3" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_2037"> Man braucht sich nur deu schneidenden Gegensatz klar zu macheu, worin<lb/>
diese Worte zu den Anschauungen Falstaffs über die Ehre stehn, wenn man<lb/>
begreifen will, welche Abnormität dieser Charakter ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2038"> Man könnte versucht sein zu glauben, es sei Mangel an Intelligenz, was<lb/>
bei Falstaff diese Unempfindlichkeit für sittliche Beweggründe verursacht. Aber<lb/>
ganz im Gegenteil: er hat einen durchdringenden Verstand. Wie erstaunlich<lb/>
ist nicht die Findigkeit, mit der er immer wieder neue Geldquellen zur Be¬<lb/>
streitung seiner großen leiblichen Bedürfnisse zu erschließen weiß &#x2014; ohne<lb/>
Arbeit und ohne Kapital! Sogar sein Podagra weckt in ihm sofort den Ge¬<lb/>
danken, daß er es zu einer Kriegspension ausmünzen könnte; er ist eben,<lb/>
wie er selbst mit vollem Recht sagt, ein guter Kops, der alles zu benutzen<lb/>
weiß. Wie häufig ergeht er sich ferner in philosophische» Betrachtungen, die<lb/>
in ihrer Klarheit und geistreichen Fassung einem Denker Ehre machen würden!<lb/>
Ja sogar die gewöhnliche Wirtshausunterhaltuug wird durch ihn zum in¬<lb/>
teressanten Redcwettkampf, wobei seine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit<lb/>
immer den Sieg davontragen. Gerade diese Eigenschaft stellt sein Freund, der<lb/>
Prinz Heinrich, mit besondrer Vorliebe immer wieder von neuem auf die<lb/>
Probe: &#x201E;Welchen Kniff, welchen Vorwand, welchen Schlupfwinkel kannst du<lb/>
um aussinnen, um dich vor dieser offenbaren Schande zu verbergen?" so<lb/>
fragt er Falstaff, nachdem dieser sich mit seiner Schilderung der Affürc von<lb/>
Gadshill festgelvgeu hat, und Falstaff reißt sich auch mit Eleganz wieder<lb/>
heraus. In immer neuen überraschende« Wendungen beherrscht diese glänzende<lb/>
Eigenschaft sein Auftreten; er ist, mit einem Wort, ein höchst geistreicher Mensch,<lb/>
und diese Eigenschaft ist es offenbar, die den Prinzen zu ihm hingezogen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2039"> Nur nach einer Richtung versagt auch sein Scharfsinn vollständig, sobald<lb/>
eben Anstand, Sitte und Ehre in Frage kommen. Ein schlagendes Beispiel<lb/>
hierfür ist sein Benehmen gegenüber den, Oberrichter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2040" next="#ID_2041"> Oberrichter: Sir John, Sir John! ich kenne eure Art, eine gerechte Sache<lb/>
zu verdrehn, ganz genau. Eure zuversichtliche Miene und der Wortschwall, den<lb/>
ihr mit mehr als unverschämter Frechheit herausstoßt, können mich nicht beeinflussen.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1903 52</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt ans betrachtet nimmt als einziger nußer den Prinzen und Sir Walter Blunt an dem Empfang der Aufrührer durch den König teil. Wie wäre es wohl auch sonst möglich gewesen, daß er mit dem Prinzen Heinrich in Berührung gekommen wäre? Inmitten dieser Gesellschaftsklasse, die ganz auf Ehre beruht und ohne sie ganz un¬ denkbar ist, stelle mau sich nun Falstaff vor, einen Menschen, für den es diese Ehre gar nicht gibt. Gerade seinen Erzieher, den Herzog von Norfolk, läßt Shakespeare die Worte sprechen: Man braucht sich nur deu schneidenden Gegensatz klar zu macheu, worin diese Worte zu den Anschauungen Falstaffs über die Ehre stehn, wenn man begreifen will, welche Abnormität dieser Charakter ist. Man könnte versucht sein zu glauben, es sei Mangel an Intelligenz, was bei Falstaff diese Unempfindlichkeit für sittliche Beweggründe verursacht. Aber ganz im Gegenteil: er hat einen durchdringenden Verstand. Wie erstaunlich ist nicht die Findigkeit, mit der er immer wieder neue Geldquellen zur Be¬ streitung seiner großen leiblichen Bedürfnisse zu erschließen weiß — ohne Arbeit und ohne Kapital! Sogar sein Podagra weckt in ihm sofort den Ge¬ danken, daß er es zu einer Kriegspension ausmünzen könnte; er ist eben, wie er selbst mit vollem Recht sagt, ein guter Kops, der alles zu benutzen weiß. Wie häufig ergeht er sich ferner in philosophische» Betrachtungen, die in ihrer Klarheit und geistreichen Fassung einem Denker Ehre machen würden! Ja sogar die gewöhnliche Wirtshausunterhaltuug wird durch ihn zum in¬ teressanten Redcwettkampf, wobei seine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit immer den Sieg davontragen. Gerade diese Eigenschaft stellt sein Freund, der Prinz Heinrich, mit besondrer Vorliebe immer wieder von neuem auf die Probe: „Welchen Kniff, welchen Vorwand, welchen Schlupfwinkel kannst du um aussinnen, um dich vor dieser offenbaren Schande zu verbergen?" so fragt er Falstaff, nachdem dieser sich mit seiner Schilderung der Affürc von Gadshill festgelvgeu hat, und Falstaff reißt sich auch mit Eleganz wieder heraus. In immer neuen überraschende« Wendungen beherrscht diese glänzende Eigenschaft sein Auftreten; er ist, mit einem Wort, ein höchst geistreicher Mensch, und diese Eigenschaft ist es offenbar, die den Prinzen zu ihm hingezogen hat. Nur nach einer Richtung versagt auch sein Scharfsinn vollständig, sobald eben Anstand, Sitte und Ehre in Frage kommen. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist sein Benehmen gegenüber den, Oberrichter. Oberrichter: Sir John, Sir John! ich kenne eure Art, eine gerechte Sache zu verdrehn, ganz genau. Eure zuversichtliche Miene und der Wortschwall, den ihr mit mehr als unverschämter Frechheit herausstoßt, können mich nicht beeinflussen. Grenzboten I 1903 52

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/413>, abgerufen am 24.11.2024.