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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Irrtümer der Vemokratie

Frankreich begründet glaubten; es war der Beginn der Irrtümer und der
Täuschungen.

Man wird den französischen Verfassungen von 1791 und von 1793 nicht
den Vorwurf machen können, daß sie den demokratischen Forderungen nicht im
vollsten Maße Rechnung getragen hätten. Sieht man nun von den blutigen
Greueltaten und all dem Terrorismus der Faktionen als zufälligen Begleit¬
erscheinungen der Revolution vollständig ab, so haben die demokratischen
Verfassungen Frankreichs von der Vvlkssouveränitüt in Wahrheit doch nichts
andres übrig gelassen, als das Recht der "Aktivbürger," in gewissen Zeit¬
räumen Abgeordnete und Beamte zu wähle" und äußerstenfalls, d. h. wenn
es der Nationalversammlung genehm war, durch eine Volksabstimmung ihre
Meinung auszusprechen. Abgesehen von diesen Abstimmungen ruhte die Volks-
souveränitüt vollkommen, und zwar zu Gunsten der Souveränität einer Ver¬
sammlung, die tatsächlich durch keinerlei Verantwortlichkeit in ihren Handlungen
beschränkt war.

Ch. Kendall Adams faßt die charakteristischen Merkmale der damaligen
Zustünde bis auf einen Punkt sehr gut zusammen, wenn er in seiner Schrift
"Demokratie und Monarchie in Frankreich" ausführt: "Die einzige Wahrheit,
die sich Rousseau dem französischen Hirne einzubürgern bemühte, war die, daß
das französische Volk von Rechts wegen der unumschränkte souveräne Beherrscher
Frankreichs sei. Aber es war ebenso seine Ansicht, daß jede repräsentative
Regierung in ihrem eignen Wesen ein Blendwerk und ein Fallstrick sei. Wie
lassen sich diese beiden Ideen miteinander wieder aussöhnen? Es ist nicht sehr
gewiß, daß Rousseau sie auszuführen versuchte. Aber sei dem, wie ihm wolle,
seine Jünger versuchten es, und zwar in einer Weise, die unermeßliches Leid
über die Nation gebracht hat. Ihre einfache Auslegung war: Das an sich
souveräne Volk übertrage durch den Akt der Wahl seiner Legislatur seiue
Souveränität auf die erwählten Abgeordneten. Was war das Ergebnis davon?
Einfach daß die Nationalversammlung behauptete, sie stehe an der Stelle der
Nation, nicht nur um die Nation zu vertreten, sondern mich um für alle
Souveränitätszweck der Nation zu sein. In Frankreich gab die Nation ihre
Souveränität auf, als sie die Nationalversammlung erwählte. Die tyrannischsten
und bedrückendsten Unsinnigen sind in der Regel nicht die gewesen, die in der
Theorie unumschränkt, sondern die, die in der Theorie gerade hinreichend be¬
schränkt waren, die Aufmerksamkeit des Beobachters von der wahren Quelle
des Übels abzulenken. Dies ereignete sich in Frankreich. Das Volk bildete
sich ein: wenn es die Regierungshandlungen von Männern vollziehn lasse,
die es selbst gewählt habe/ so sichre es sich selbst unumschränkte Freiheit; es
sicherte sich aber in Wirklichkeit nur die schlimmste Form der Tyrannei, die
Frankreich je gekannt hat. Die Nationalversammlung erwies sich als die
schlimmste aller Tyranneien, und zwar als die schlimmste, weil sie auf eine
Idee gegründet war, aus die, daß sie von der Volksmasse anerkannt und
angenommen worden sei."

An diesem Bilde wäre nur die eine Korrektur anzubringen, daß von einer
Tyrannei der Nationalversammlung leine Rede sein kann. Gerade der Ver-


Die Irrtümer der Vemokratie

Frankreich begründet glaubten; es war der Beginn der Irrtümer und der
Täuschungen.

Man wird den französischen Verfassungen von 1791 und von 1793 nicht
den Vorwurf machen können, daß sie den demokratischen Forderungen nicht im
vollsten Maße Rechnung getragen hätten. Sieht man nun von den blutigen
Greueltaten und all dem Terrorismus der Faktionen als zufälligen Begleit¬
erscheinungen der Revolution vollständig ab, so haben die demokratischen
Verfassungen Frankreichs von der Vvlkssouveränitüt in Wahrheit doch nichts
andres übrig gelassen, als das Recht der „Aktivbürger," in gewissen Zeit¬
räumen Abgeordnete und Beamte zu wähle» und äußerstenfalls, d. h. wenn
es der Nationalversammlung genehm war, durch eine Volksabstimmung ihre
Meinung auszusprechen. Abgesehen von diesen Abstimmungen ruhte die Volks-
souveränitüt vollkommen, und zwar zu Gunsten der Souveränität einer Ver¬
sammlung, die tatsächlich durch keinerlei Verantwortlichkeit in ihren Handlungen
beschränkt war.

Ch. Kendall Adams faßt die charakteristischen Merkmale der damaligen
Zustünde bis auf einen Punkt sehr gut zusammen, wenn er in seiner Schrift
„Demokratie und Monarchie in Frankreich" ausführt: „Die einzige Wahrheit,
die sich Rousseau dem französischen Hirne einzubürgern bemühte, war die, daß
das französische Volk von Rechts wegen der unumschränkte souveräne Beherrscher
Frankreichs sei. Aber es war ebenso seine Ansicht, daß jede repräsentative
Regierung in ihrem eignen Wesen ein Blendwerk und ein Fallstrick sei. Wie
lassen sich diese beiden Ideen miteinander wieder aussöhnen? Es ist nicht sehr
gewiß, daß Rousseau sie auszuführen versuchte. Aber sei dem, wie ihm wolle,
seine Jünger versuchten es, und zwar in einer Weise, die unermeßliches Leid
über die Nation gebracht hat. Ihre einfache Auslegung war: Das an sich
souveräne Volk übertrage durch den Akt der Wahl seiner Legislatur seiue
Souveränität auf die erwählten Abgeordneten. Was war das Ergebnis davon?
Einfach daß die Nationalversammlung behauptete, sie stehe an der Stelle der
Nation, nicht nur um die Nation zu vertreten, sondern mich um für alle
Souveränitätszweck der Nation zu sein. In Frankreich gab die Nation ihre
Souveränität auf, als sie die Nationalversammlung erwählte. Die tyrannischsten
und bedrückendsten Unsinnigen sind in der Regel nicht die gewesen, die in der
Theorie unumschränkt, sondern die, die in der Theorie gerade hinreichend be¬
schränkt waren, die Aufmerksamkeit des Beobachters von der wahren Quelle
des Übels abzulenken. Dies ereignete sich in Frankreich. Das Volk bildete
sich ein: wenn es die Regierungshandlungen von Männern vollziehn lasse,
die es selbst gewählt habe/ so sichre es sich selbst unumschränkte Freiheit; es
sicherte sich aber in Wirklichkeit nur die schlimmste Form der Tyrannei, die
Frankreich je gekannt hat. Die Nationalversammlung erwies sich als die
schlimmste aller Tyranneien, und zwar als die schlimmste, weil sie auf eine
Idee gegründet war, aus die, daß sie von der Volksmasse anerkannt und
angenommen worden sei."

An diesem Bilde wäre nur die eine Korrektur anzubringen, daß von einer
Tyrannei der Nationalversammlung leine Rede sein kann. Gerade der Ver-


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[0384] Die Irrtümer der Vemokratie Frankreich begründet glaubten; es war der Beginn der Irrtümer und der Täuschungen. Man wird den französischen Verfassungen von 1791 und von 1793 nicht den Vorwurf machen können, daß sie den demokratischen Forderungen nicht im vollsten Maße Rechnung getragen hätten. Sieht man nun von den blutigen Greueltaten und all dem Terrorismus der Faktionen als zufälligen Begleit¬ erscheinungen der Revolution vollständig ab, so haben die demokratischen Verfassungen Frankreichs von der Vvlkssouveränitüt in Wahrheit doch nichts andres übrig gelassen, als das Recht der „Aktivbürger," in gewissen Zeit¬ räumen Abgeordnete und Beamte zu wähle» und äußerstenfalls, d. h. wenn es der Nationalversammlung genehm war, durch eine Volksabstimmung ihre Meinung auszusprechen. Abgesehen von diesen Abstimmungen ruhte die Volks- souveränitüt vollkommen, und zwar zu Gunsten der Souveränität einer Ver¬ sammlung, die tatsächlich durch keinerlei Verantwortlichkeit in ihren Handlungen beschränkt war. Ch. Kendall Adams faßt die charakteristischen Merkmale der damaligen Zustünde bis auf einen Punkt sehr gut zusammen, wenn er in seiner Schrift „Demokratie und Monarchie in Frankreich" ausführt: „Die einzige Wahrheit, die sich Rousseau dem französischen Hirne einzubürgern bemühte, war die, daß das französische Volk von Rechts wegen der unumschränkte souveräne Beherrscher Frankreichs sei. Aber es war ebenso seine Ansicht, daß jede repräsentative Regierung in ihrem eignen Wesen ein Blendwerk und ein Fallstrick sei. Wie lassen sich diese beiden Ideen miteinander wieder aussöhnen? Es ist nicht sehr gewiß, daß Rousseau sie auszuführen versuchte. Aber sei dem, wie ihm wolle, seine Jünger versuchten es, und zwar in einer Weise, die unermeßliches Leid über die Nation gebracht hat. Ihre einfache Auslegung war: Das an sich souveräne Volk übertrage durch den Akt der Wahl seiner Legislatur seiue Souveränität auf die erwählten Abgeordneten. Was war das Ergebnis davon? Einfach daß die Nationalversammlung behauptete, sie stehe an der Stelle der Nation, nicht nur um die Nation zu vertreten, sondern mich um für alle Souveränitätszweck der Nation zu sein. In Frankreich gab die Nation ihre Souveränität auf, als sie die Nationalversammlung erwählte. Die tyrannischsten und bedrückendsten Unsinnigen sind in der Regel nicht die gewesen, die in der Theorie unumschränkt, sondern die, die in der Theorie gerade hinreichend be¬ schränkt waren, die Aufmerksamkeit des Beobachters von der wahren Quelle des Übels abzulenken. Dies ereignete sich in Frankreich. Das Volk bildete sich ein: wenn es die Regierungshandlungen von Männern vollziehn lasse, die es selbst gewählt habe/ so sichre es sich selbst unumschränkte Freiheit; es sicherte sich aber in Wirklichkeit nur die schlimmste Form der Tyrannei, die Frankreich je gekannt hat. Die Nationalversammlung erwies sich als die schlimmste aller Tyranneien, und zwar als die schlimmste, weil sie auf eine Idee gegründet war, aus die, daß sie von der Volksmasse anerkannt und angenommen worden sei." An diesem Bilde wäre nur die eine Korrektur anzubringen, daß von einer Tyrannei der Nationalversammlung leine Rede sein kann. Gerade der Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/384>, abgerufen am 01.09.2024.