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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Irrtümer der Demokratie

die bittere Kritik, die die Encyklopädisten daran übten, und die Meinungen der
Opposition unter Ludwig dem Sechzehnten ins Auge, so erscheint als erster Anlaß
für die losbrechende Umwälzung der Wunsch, den Mißbrauch der Gewalt durch
einen Einzelnen zu verhindern. Das war die Aufgabe, zu deren Lösung sich
das französische Volk für berufen hielt; den Weg hierzu glaubte es in den Lehren
seiner Philosophen gefunden zu haben. Unter ihnen hatte Jean Jacques
Rousseau auf die Kreise der französischen Gesellschaft, aus deren Schoße die
große Revolution hervorgehn sollte, den bedeutendsten Einfluß ausgeübt. Von
der Natur des Staates verstand er wenig, aber als geistreicher Feuilletonist
fand er sich mit dem Gegenstande seiner Untersuchung leicht ab, indem er in
einem Atem die Souveränität des Einzelwillens und die des gesamten Volkes
verkündete und diese beiden Begriffe zu den Eckpfeilern eines staatsphilosophischen
Gedankenbaus machte; aber über die Verwirklichung wußte er allerdings nichts
andres zu sagen, als daß das gute Prinzip im Menschen schon dafür sorgen
würde, daß sich die Willensäußerungen des Einzelnen zu einem souveränen
Gesamtwillen verschmolzen. Die Rousseausche Lehre versagte also gerade an
dem entscheidenden Punkte. Daß die politische Organisation auf der Ver¬
einigung der Freiheit des Einzelwesens mit dem gesellschaftlichen Zweck der
Gesamtheit beruhe, war uicht neu, daß sich aber Rousseau wegen des Wie
nur auf das gute Prinzip im Menschen verließ, zeigt das Negative seiner
ganzen Staatsphilosophie. So gierig die französische Gesellschaft seine Lehren
von der Souveränität des Individuums und der der Gesamtheit aufnahm, fo
wenig half Rousseau ihr bei der Verwirklichung seiner Lehren. Rousseau hatte
vollständig übersehen, daß die politische Organisation nicht eine Frage des
Rechts, sondern eine der Zweckmäßigkeit sei, und indem er sich bemühte, den
Franzosen einzudrillen, daß jeder von ihnen ebenso wie ihre Gesamtheit souverän
sei, leitete er das französische Volk auf einen Weg, auf dem es die Lösung
der Frage nicht finden konnte. Je schärfer Rousseau die Souveränität des
Einzelnen und die der Gesamtheit betonte, und je mehr er diese Begriffe aus¬
schließlich zur Grundlage seiner Lehre machte, ohne sie durch Gründe der
Zweckmäßigkeit zu beschränken, desto schwerer mußte es dein französischen Volte
werden, zu einem positiven Ergebnis der Revolution zu gelangen. Die
Rousseauschen Lehren von der Souveränität des Einzelwillens und der der
Gesamtheit beherrschten so ausschließlich den Gedankenkreis des französischen
Volkes, daß jeder Versuch, sie praktisch miteinander in Einklang zu bringen,
scheitern, und das Volk sich für die eine oder die andre Souveränität ent¬
scheiden mußte.

Wie diese Wahl ausfallen würde, konnte nicht zweifelhaft sein. Während
der Pariser Pöbel auf die Souveränität des Einzelwillens schwor, entschied
die Nationalversammlung, der sich schließlich doch ein gemeinsamer Staatszweck
aufdrängen mußte, für die Souveränität des Gesamtwillens, für die repräsen¬
tative Demokratie. Die Schüler Rousseaus gründeten ihren Verfassungsplan
zwar auf seine Lehre von der Volkssonveränitüt, versündigten sich aber damit
zugleich an seiner Lehre von der Souveräuitüt des Einzelwillens. "Jeder
Mensch, sagt Rousseau in seinein "Gesellschaftsvertrag", ist sein eigner Gebieter,


Die Irrtümer der Demokratie

die bittere Kritik, die die Encyklopädisten daran übten, und die Meinungen der
Opposition unter Ludwig dem Sechzehnten ins Auge, so erscheint als erster Anlaß
für die losbrechende Umwälzung der Wunsch, den Mißbrauch der Gewalt durch
einen Einzelnen zu verhindern. Das war die Aufgabe, zu deren Lösung sich
das französische Volk für berufen hielt; den Weg hierzu glaubte es in den Lehren
seiner Philosophen gefunden zu haben. Unter ihnen hatte Jean Jacques
Rousseau auf die Kreise der französischen Gesellschaft, aus deren Schoße die
große Revolution hervorgehn sollte, den bedeutendsten Einfluß ausgeübt. Von
der Natur des Staates verstand er wenig, aber als geistreicher Feuilletonist
fand er sich mit dem Gegenstande seiner Untersuchung leicht ab, indem er in
einem Atem die Souveränität des Einzelwillens und die des gesamten Volkes
verkündete und diese beiden Begriffe zu den Eckpfeilern eines staatsphilosophischen
Gedankenbaus machte; aber über die Verwirklichung wußte er allerdings nichts
andres zu sagen, als daß das gute Prinzip im Menschen schon dafür sorgen
würde, daß sich die Willensäußerungen des Einzelnen zu einem souveränen
Gesamtwillen verschmolzen. Die Rousseausche Lehre versagte also gerade an
dem entscheidenden Punkte. Daß die politische Organisation auf der Ver¬
einigung der Freiheit des Einzelwesens mit dem gesellschaftlichen Zweck der
Gesamtheit beruhe, war uicht neu, daß sich aber Rousseau wegen des Wie
nur auf das gute Prinzip im Menschen verließ, zeigt das Negative seiner
ganzen Staatsphilosophie. So gierig die französische Gesellschaft seine Lehren
von der Souveränität des Individuums und der der Gesamtheit aufnahm, fo
wenig half Rousseau ihr bei der Verwirklichung seiner Lehren. Rousseau hatte
vollständig übersehen, daß die politische Organisation nicht eine Frage des
Rechts, sondern eine der Zweckmäßigkeit sei, und indem er sich bemühte, den
Franzosen einzudrillen, daß jeder von ihnen ebenso wie ihre Gesamtheit souverän
sei, leitete er das französische Volk auf einen Weg, auf dem es die Lösung
der Frage nicht finden konnte. Je schärfer Rousseau die Souveränität des
Einzelnen und die der Gesamtheit betonte, und je mehr er diese Begriffe aus¬
schließlich zur Grundlage seiner Lehre machte, ohne sie durch Gründe der
Zweckmäßigkeit zu beschränken, desto schwerer mußte es dein französischen Volte
werden, zu einem positiven Ergebnis der Revolution zu gelangen. Die
Rousseauschen Lehren von der Souveränität des Einzelwillens und der der
Gesamtheit beherrschten so ausschließlich den Gedankenkreis des französischen
Volkes, daß jeder Versuch, sie praktisch miteinander in Einklang zu bringen,
scheitern, und das Volk sich für die eine oder die andre Souveränität ent¬
scheiden mußte.

Wie diese Wahl ausfallen würde, konnte nicht zweifelhaft sein. Während
der Pariser Pöbel auf die Souveränität des Einzelwillens schwor, entschied
die Nationalversammlung, der sich schließlich doch ein gemeinsamer Staatszweck
aufdrängen mußte, für die Souveränität des Gesamtwillens, für die repräsen¬
tative Demokratie. Die Schüler Rousseaus gründeten ihren Verfassungsplan
zwar auf seine Lehre von der Volkssonveränitüt, versündigten sich aber damit
zugleich an seiner Lehre von der Souveräuitüt des Einzelwillens. „Jeder
Mensch, sagt Rousseau in seinein »Gesellschaftsvertrag«, ist sein eigner Gebieter,


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[0382] Die Irrtümer der Demokratie die bittere Kritik, die die Encyklopädisten daran übten, und die Meinungen der Opposition unter Ludwig dem Sechzehnten ins Auge, so erscheint als erster Anlaß für die losbrechende Umwälzung der Wunsch, den Mißbrauch der Gewalt durch einen Einzelnen zu verhindern. Das war die Aufgabe, zu deren Lösung sich das französische Volk für berufen hielt; den Weg hierzu glaubte es in den Lehren seiner Philosophen gefunden zu haben. Unter ihnen hatte Jean Jacques Rousseau auf die Kreise der französischen Gesellschaft, aus deren Schoße die große Revolution hervorgehn sollte, den bedeutendsten Einfluß ausgeübt. Von der Natur des Staates verstand er wenig, aber als geistreicher Feuilletonist fand er sich mit dem Gegenstande seiner Untersuchung leicht ab, indem er in einem Atem die Souveränität des Einzelwillens und die des gesamten Volkes verkündete und diese beiden Begriffe zu den Eckpfeilern eines staatsphilosophischen Gedankenbaus machte; aber über die Verwirklichung wußte er allerdings nichts andres zu sagen, als daß das gute Prinzip im Menschen schon dafür sorgen würde, daß sich die Willensäußerungen des Einzelnen zu einem souveränen Gesamtwillen verschmolzen. Die Rousseausche Lehre versagte also gerade an dem entscheidenden Punkte. Daß die politische Organisation auf der Ver¬ einigung der Freiheit des Einzelwesens mit dem gesellschaftlichen Zweck der Gesamtheit beruhe, war uicht neu, daß sich aber Rousseau wegen des Wie nur auf das gute Prinzip im Menschen verließ, zeigt das Negative seiner ganzen Staatsphilosophie. So gierig die französische Gesellschaft seine Lehren von der Souveränität des Individuums und der der Gesamtheit aufnahm, fo wenig half Rousseau ihr bei der Verwirklichung seiner Lehren. Rousseau hatte vollständig übersehen, daß die politische Organisation nicht eine Frage des Rechts, sondern eine der Zweckmäßigkeit sei, und indem er sich bemühte, den Franzosen einzudrillen, daß jeder von ihnen ebenso wie ihre Gesamtheit souverän sei, leitete er das französische Volk auf einen Weg, auf dem es die Lösung der Frage nicht finden konnte. Je schärfer Rousseau die Souveränität des Einzelnen und die der Gesamtheit betonte, und je mehr er diese Begriffe aus¬ schließlich zur Grundlage seiner Lehre machte, ohne sie durch Gründe der Zweckmäßigkeit zu beschränken, desto schwerer mußte es dein französischen Volte werden, zu einem positiven Ergebnis der Revolution zu gelangen. Die Rousseauschen Lehren von der Souveränität des Einzelwillens und der der Gesamtheit beherrschten so ausschließlich den Gedankenkreis des französischen Volkes, daß jeder Versuch, sie praktisch miteinander in Einklang zu bringen, scheitern, und das Volk sich für die eine oder die andre Souveränität ent¬ scheiden mußte. Wie diese Wahl ausfallen würde, konnte nicht zweifelhaft sein. Während der Pariser Pöbel auf die Souveränität des Einzelwillens schwor, entschied die Nationalversammlung, der sich schließlich doch ein gemeinsamer Staatszweck aufdrängen mußte, für die Souveränität des Gesamtwillens, für die repräsen¬ tative Demokratie. Die Schüler Rousseaus gründeten ihren Verfassungsplan zwar auf seine Lehre von der Volkssonveränitüt, versündigten sich aber damit zugleich an seiner Lehre von der Souveräuitüt des Einzelwillens. „Jeder Mensch, sagt Rousseau in seinein »Gesellschaftsvertrag«, ist sein eigner Gebieter,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/382>, abgerufen am 24.11.2024.